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An der Werkbank der Supermacht
von Kim Moody, Chris Harman, Martin Smith, Maria Asenbaum (Übersetzerin)

Kim Moody ist Autor eines neuen Buches über die amerikanische ArbeiterInnenklasse: US Labor in Trouble and Transition. Er hat mit Chris Harman und Martin Smith über seine Forschung gesprochen.

Martin Smith: Kannst du uns einen Überblick über den Zustand der amerikanischen ArbeiterInnenklasse geben, ihre organisatorische Stärke, die Stimmung und so weiter?

Die Situation für die organisierten ArbeiterInnen in den USA war ein Vierteljahrhundert lang von Niedergang und Rückzug geprägt. Der Organisationsgrad heute beträgt nur noch 13 Prozent, acht Prozent in der Privatwirtschaft. Das ist der niedrigste Stand seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Aber der Rückzug findet nicht ohne Widerstand statt – an jedem Punkt wurden Anstrengungen unternommen, sich zu wehren. In den letzten Jahren gab es nicht viele inoffizielle Streiks, anders als in den 1960ern und 1970ern. Die meisten Streiks werden der Gewerkschaft aufgezwungen oder manchmal nur formal von ihnen angeführt. Insgesamt steigt die Häufigkeit von Streikaktionen nicht wirklich, obwohl es in den letzten paar Jahren schon ein bisschen mehr gibt.
Manche Streiks stechen dabei mehr heraus als andere. Der UPS Streik 1997 war besonders wichtig. Die Teamsters (Transport-Gewerkschaft, Anm. d. Red.) waren sehr gut vorbereitet, sowohl auf der Führungs- als auch auf der Basisebene und der Streik war erfolgreich.
In den 1990ern gab es ungefähr zwanzig Streiks bei verschiedenen Niederlassungen von General Motors. Das zeigte die Stärke der AktivistInnen vor Ort. Sie machten die Erfahrung, dass wegen der „just-in time“-Produktionsmethoden das ganze System von Kanada bis Mexiko zum Stillstand kommt, wenn man einen Betrieb lahm legt. Fast alle dieser Streiks konnten ihre Forderungen nach mehr Arbeitsplätzen durchsetzen. Aber die nationale Gewerkschaft hat diese Bewegungen nie zusammengeführt. Sie haben ihre Stärke nicht genutzt.
Die ersten Bemühungen an der Spitze der Gewerkschaftsbewegung, etwas zu unternehmen, waren die Versuche in den 1990ern, die Ausrichtung der AFL-CIO (American Federation of Labor and Congress of Industrial Organizations, Amerikanischer Gewerkschaftsbund, Anm. d. Red.) in Bezug auf die Aktivitäten an der Basis zu ändern. Als Resultat wurde John Sweeney 1995 zum Präsidenten der AFL-CIO gewählt, der diesen Sieg die folgenden Jahre aber verschleudert hat und sich als unfähig erwies, irgendetwas in Richtung einer neuen Strategie vorzustellen. Die Rhetorik war, die „Unorganisierbaren zu organisieren“. Dass das nicht gelungen ist, liegt dabei nicht nur an seinem eigenen politischen Versagen, sondern auch am Widerstand vieler Gewerkschaften, die das nicht so sehen.
Wenn jemand neue Mitglieder organisieren konnte, dann waren das die BasisaktivistInnen der ArbeiterInnenbewegung. Es kann nicht von einer Armee von professionellen OrganizerInnen erledigt werden, wie das bei der SEIU (Service Employees International Union, Dienstleistungs-Gewerkschaft, Anm. d. Red.) und anderen versucht wurde.
Sweeneys Versagen führte letztendlich zur Spaltung der AFL-CIO 2005 und der Formierung der rivalisierenden Change to win Coalition. Seither hat sich nicht viel verändert. Die SEIU, die stärkste Kraft in der Change to win Coalition, rekrutiert offensiver als jede andere Gewerkschaft, wie auch die Teamsters, die auch in Change to win sind. Aber die Communication Workers, die immer noch in der AFL-CIO sind, rekrutieren ebenfalls. Also waren weder Politik, noch Prinzipien, noch „Visionen“ der eigentliche Grund für die Spaltung. Es ist schwer zu sagen, worum es wirklich ging. Ich habe in der Zeit in New York unterrichtet und hatte Kontakt zu Mitgliedern der Gewerkschaften, die in die Spaltung involviert waren. Sie hatten keine Ahnung was da los war. Alles spielte sich an der Spitze ab. Für die Basis schien es bei der Spaltung um Macht und Geld für die Gewerkschaftsführung zu gehen. Einige Gewerkschaften dachten, es wäre Geldverschwendung weiter Abgaben an die AFL-CIO zu zahlen, was ja nicht ganz falsch war. Die neue Change to win Coalition steht auf wackligen Beinen. Das Problem mit dem Ansatz einiger Gewerkschaften in Change to win ist, dass sie die Rekrutierungs-Offensive mit zwei anderen Praktiken verbinden. Zuerst haben sie Ortsgruppen zusammengelegt. Jetzt gibt es Gruppen, die sieben oder acht Staaten einschließen, mit Mitgliedern hunderte von Meilen voneinander entfernt. Es ist unmöglich Treffen abzuhalten. Eigentlich sind es eher administrative Einheiten, die von viel Personal verwaltet werden. Es sind überhaupt keine demokratischen ArbeiterInnenorganisationen. Seit Jahrzehnten reden wir über Gewerkschaftsbürokratie, aber das geht ja noch viel weiter, als wir uns das je vorgestellt haben. Viele Leute sind bereit, das zu vergeben, weil die SEIU neue Mitglieder gewinnt. Aber auch hier geht die Rate zurück. Und ein Grund dafür ist die Art und Weise, wie sie das machen. Sie planen die Rekrutierungsoffensiven Jahre im Voraus und weichen nicht von diesem Plan ab. Sogar wenn eine andere Gruppe mitmachen will, sagen sie, nein, sorry. Ich übertreibe nicht.
Das zweite Problem, das die Change to win Sache und vor allem die SEIU ausmacht, ist das ganze „Partnerschafts“-Konzept. Andy Stern, der SEIU-Vorsitzende, sagt Sachen wie, „Es darf keinen Klassenkonflikt mehr geben. Wir müssen mit den Unternehmen zusammenarbeiten und ihnen helfen, erfolgreich zu sein.“ Das versprechen sie in den Rekrutierungsoffensiven – in gewisser Hinsicht scheinen sie zu versuchen, die UnternehmerInnen eher als die ArbeiterInnen zu organisieren. In der Health Maintenance Organisation an der Westküste sagen sie sogar explizit, dass sie ihre Mitglieder zurückhalten würden, wenn das dem Geschäft hilft. Das war immer ein Aspekt des business unionism, aber jetzt wird es zu einer expliziten Ideologie.
Eine der Sachen, für die die SEIU berühmt sind, ist die Justice for Janitors Kampagne 1990. In der Recherche für mein Buch habe ich mir die Lohnvereinbahrungen angesehen, die da getroffen wurden und die sind fürchterlich. In 15 Jahren haben sie noch nicht einmal den Reallohnverlust ausgeglichen.
Man kann nicht sagen, dass alle Change to win Gewerkschaften für das „Partnerschaftsmodell“ sind und alle AFL-CIO dagegen. Unglücklicherweise verbreiten viele Gewerkschaftsvorsitzende diese Idee, die ein bisschen anders ist als die Gewerkschafts-Unternehmens-Kooperationen der 80ern und 90ern. Vielleicht versuchen sie das europäische Sozialpartnerschafts-Modell zu kopieren.

MS: Aber viele AktivistInnen in Großbritannien sind sehr begeistert von den Rekrutierungsoffensiven der SEIU. In New York und Seattle sieht man die SEIU-Mitglieder überall mit ihren violetten Baseball-Kappen.

Sie mobilisieren ihre Mitglieder für Demonstrationen wenn sie sie brauchen und demobilisieren sie, wenn sie sie nicht mehr brauchen. Die Kappen und T-Shirts sind überall, aber das ist mehr so ein amerikanisches Ding. Die SEIU hat ein Wort dafür, die „Purple Army“. Sie kümmern sich sehr um ihr Image, und das ist ein Teil davon.
Trotzdem führen sie einige interessante Kämpfe. Sie organisieren ArbeiterInnen, die dringend Organisation brauchen. Sie rekrutieren in Industrien, die nicht der internationalen Konkurrenz ausgesetzt sind, wie Krankenhauspersonal oder Gebäudereinigung, die nicht ins Ausland verlegt werden können. Den größten Mitgliederzuwachs erreichen sie gerade beim Sicherheitspersonal. Viele der neuen Mitglieder kommen aus Ländern wie Mexiko und El Salvador und bringen ihre radikalen politischen Ideen und Traditionen mit. Das gibt der Gewerkschaft eine gewisse Lebendigkeit. Das war besonders bei Justice for Janitors der Fall. Die ersten Leute, die sie rekrutieren und die dann Basis-OrganizerInnen werden, sind politische Leute.
Es gibt zwölf Millionen migrantische ArbeiterInnen in den USA. Der Großteil kommt aus Lateinamerika. Die Gewerkschaften haben lange gebraucht, um darin einen Kreis potentieller Mitglieder zu sehen. Die MigrantInnen-Demonstrationen und die Streiks am 1. Mai 2006 waren spektakulär. Diese Streiks haben ganze Industrien lahm gelegt. Dadurch konnten wir sehen, wo diese ArbeiterInnen Druck ausüben können. Nicht nur in der Landschaftsgärtnerei oder Gebäudereinigung: sie haben die halbe Lebensmittelverarbeitung, die Häfen an der Westküste und die Bauarbeiten in Kalifornien lahm gelegt.
Seit den May-Day-Streiks wird massive Repression ausgeübt. Auch die katholische Kirche, die 2006 eine große Rolle gespielt hat, fürchtet sich mittlerweile vor dem, was sie da losgetreten hat. Dieses Jahr gab es keine landesweite Mobilisierung, also ist es auch nicht zu etwas Vergleichbarem gekommen. Aber in Chicago haben 150.000 Menschen demonstriert – und das an einem Arbeitstag – und in Los Angeles 35.000! Es gibt hunderte lokale Organisationen und vielleicht ein halbes Dutzend landesweiter Kooperationen, von konservativ bis radikal, die sich damit befassen, und einige rekrutieren selbstständig für die Gewerkschaft. Es gibt Geschichten darüber. Als die Laborers’ Union OrganizerInnen in einen Fleischverarbeitungsbetrieb im Süden geschickt hat, stellten die OrganizerInnen fest: „Als wir dort ankamen sahen wir, dass die Gewerkschaft schon vor der Gewerkschaft da war. Sie hatten sich selbst organisiert. Wir mussten nur noch die Mitgliedskarten verteilen.“
Die Gewerkschaft muss jetzt den Durchbruch im Süden schaffen. In den letzten dreißig Jahren gab es dort so viel an ökonomischer Aktivität, nicht nur in der Lebensmittelverarbeitung, die enorm ist, sondern auch in der Automobilindustrie. Es gibt jetzt zwei Automobilindustrien in den Vereinigten Staaten. Die alte, General Motors, Ford, Chrysler und so weiter, die in der Krise stecken und die neue im Süden, dazu gehören Mercedes, Nissan, Toyota etc., die gerade sehr erfolgreich sind. In den Betrieben im Süden gibt es keine massiven Entlassungswellen. Diese Betriebe müssen das Hauptziel der Organisierungsoffensiven werden, wenn die Gewerkschaft sich durchsetzen will. Die Betriebe im Süden sind zu 95% unorganisiert.

MS: Wird es wieder so etwas wie „Operation Dixie“ in den späten 40ern und frühen 50er Jahren geben?

Das war eine Katastrophe. Die CIO-Gewerkschaft ging runter in den Süden mit der Idee (a) die KommunistInnen zu schlagen, weil die die Einzigen waren, die im Süden gekämpft haben um Gewerkschaften aufzubauen und (b) die Weißen zu organisieren, damit sie nicht mit der „Rassen-Frage“ konfrontiert werden. Natürlich haben sie in der „Rassen-Frage“ versagt und sind in einen enormen Fraktionsstreit mit den Kommunisten in der Stahl-Industrie geraten – am Schluss hatten sie gar nichts.
Ich glaube nicht, dass sie heute so dumm sind. Es gibt ohnehin keine KommunistInnen im Süden. Außerdem heuern die Gewerkschaften jetzt alle Linken an, die sie kriegen können. Sweeney war der erste, der damit in den 1980ern begonnen hat. Er hat die Frage gestellt: „Wie holen wir wieder Kampfgeist in die Organisation? Wir werden die ganzen 68er-Veteranen anheuern.“ Die Frage ist, können sie mit der Ethnizitäts-Thematik umgehen? Im Süden ist das noch schwieriger als früher, weil es jetzt nicht mehr nur Schwarze und Weiße gibt, es gibt Schwarze, Weiße, Latinos und einige AsiatInnen. Der Süden hat sich geändert. Er ist jetzt viel industrialisierter, obwohl immer noch sehr rückständig.
Abseits der Rhetorik ist die SEIU gar nicht interessiert, im Süden zu rekrutieren. Sie müssen immer noch abertausende DienstleistungsarbeiterInnen im Rest des Landes organisieren. Also wird es die Aufgabe der ehemaligen Industrie-Gewerkschaften sein, die der Auto- und der KommunikationsarbeiterInnen, im Süden Fuß zu fassen. Die United Auto Workers haben kürzlich in zwei kleinen Autoteil-Fabriken im Süden die Abstimmungen (zur gewerkschaftlichen Organisierung des Betriebs, Anm. d. Red.) gewonnen. Das ist gut, aber nicht gut genug.
Die Gewerkschaften müssen gemeinsam funktionieren und jene, die strategische Macht haben, sie auch einsetzen. Das war das richtige an Operation Dixie: Sie wussten, sie müssen es gemeinsam als Verband machen. Jetzt gibt es zwei Verbände und wir brauchen Gewerkschaften aus beiden, damit das Ding funktioniert. Hoffentlich schaffen sie es, trotz dieser eher unnötigen Spaltung, zusammen zu arbeiten. Das muss auch die Teamsters inkludieren, weil der LKW-Transport die Basis der ganzen südlichen Industrie ist. Wenn der südliche LKW-Transport kontrolliert werden kann, kann man so gut wie alles lahm legen.

MS: Können sie uns ein paar positive Beispiele der Organisierung der ArbeiterInnen geben – wir haben nicht viel davon gehört.

Fleischverarbeitung zum Beispiel. Während des Streiks am 1. Mai 2006 haben die Leute, die den Smithfield-Betrieb organisieren, zu einer Demonstration der migrantischen ArbeiterInnen aufgerufen und es sind nicht nur die aus der Smithfield-Fabrik gekommen, sondern noch aus vier oder mehr anderen Betrieben. Sie haben alle wichtigen Fabriken des Staates zum Stillstand gebracht. Kürzlich gab es auch Organisierungs-Erfolge in Fleischverarbeitungs-Betrieben in Omaha, Nebraska. Das ist zwar nicht der Süden, aber es ist eine wichtige Lebensmittelindustrie-Gegend.
Ein Schlüsselelement dieser beiden Kämpfe war die Zusammenarbeit mit den Workers’ Centers. Diese Organisationen haben sich in den letzten zwanzig Jahren entwickelt. Meistens befinden sie sich in migrantischen Gemeinden und werden Workers’ Center genannt, weil sie sich im Gegensatz zu den älteren Community-Organisationen auf den Arbeitsplatz konzentrieren. Es sind aber keine Gewerkschaften. Es gibt ungefähr 130 davon im ganzen Land, die meisten davon im Süden. Sie haben in Smithfield und in ganz North Carolina eine wichtige Rolle gespielt.
Manchmal werden sie von den Gewerkschaften finanziell unterstützt, aber es gibt auch Spannungen zwischen den beiden. Die Gewerkschaftsführung stolpert über etwas, was sie nicht kontrollieren kann und weiß nicht recht, was sie damit anfangen soll, migrantische ArbeiterInnen organisieren sich selbst auf einer Community-Basis und meistens auch auf der Basis von Nationalität und Ethnie. Aber die Gewerkschaftsführung hat in den letzten Jahren dazugelernt und jetzt sagt die AFL-CIO, sie wollen, dass die Workers’ Center sich mit ihnen zusammenschließen. Die Laborers’ Union hat sogar selbst ein Workers’ Center gegründet.
Die Workers’ Center haben eine wichtige Rolle in den Organisierungs-Offensiven gespielt. Eines der historischen Probleme in den Vereinigten Staaten ist, dass vor dreißig oder vierzig Jahren die ArbeiterInnen in Gemeinden in der Nähe der Betriebe lebten und zu Fuß zur Arbeit gegangen sind. Das ist in den USA schon lange zusammengebrochen. Heute fahren die Leute normalerweise über hundert Meilen zu einem guten Arbeitsplatz, wenn sie den bekommen.
Indem MigrantInnen urbane oder semi-urbane Communities aufbauen, gibt es jetzt wieder Gemeinden in der Nähe der Arbeitsplätze. Dadurch entsteht eine neue Verbindung zwischen proletarischen Communities und der Belegschaft. Das vereinfacht vieles. So gab es z. B. Erfolge, in New York TaxifahrerInnen zu organisieren, die fast alle aus dem indischen Subkontinent kommen. Sie haben sich selbst organisiert und sind dann der AFL-CIO beigetreten. Die Workers’ Center arbeiten jetzt oft beim Organisieren mit den Gewerkschaften zusammen. Sie sind langfristige Hoffnungsträger.
Ich sage bestimmt nicht vorher, dass wir kurz vor einem Aufschwung stehen. Die Kräfte müssen akkumuliert werden. Das Wachsen der Organisation drückt sich noch nicht in Zahlen aus. Die Gewerkschaften verlieren immer noch mehr Mitglieder, als sie dazu gewinnen. Die offiziellen Statistiken von 2006 zeigen, dass die Gewerkschaften weitere 300.000 Mitglieder verloren hat, inklusive vieler bei General Motors und so weiter. Das Organizing ist also noch nicht mal an dem Punkt, wo es mit den Verlusten mithalten kann.
Ich sehe die Ursache darin, dass die Gewerkschaft keinen strategischen Fokus hat. Wie bereits erwähnt, die Teamsters könnten der Schlüssel sein, um den Süden zu organisieren. Sie machen viele verschiedene Sachen und sind überall, aber es gibt keinen geographischen oder industriespezifischen Fokus. Dasselbe gilt für die Auto Workers. Die haben die letzten zwanzig Jahre damit verbracht, UniversitätsabgängerInnen und TeilzeitlektorInnen zu organisieren. Das ist ja sehr nett, aber die können keine Verschiebung der Klassen-Machtverhältnisse des Landes bringen.

MS: Sie haben uns einiges über ArbeiterInnen aus Lateinamerika berichtet. Was ist mit der schwarzen ArbeiterInnenklasse? Sie war das Rückgrat der Kämpfe in den 60er und 70er Jahren. Und was ist mit der weißen ArbeiterInnenklasse?

Die schwarze ArbeiterInnenklasse hat es extrem hart getroffen, härter als jede andere Gruppe. Sie waren in den 1960er und 1970er Jahren besonders wichtig, nachdem sie sich endlich substantielle Präsenz in der Industrie erarbeitet hatten. Hier gab es einen schweren Rückschlag, Städte wie Detroit und Cleveland sind verwüstet. Cleveland war vor zwanzig Jahren eine Industriehauptstadt. Jetzt ist sie die ärmste Stadt der Vereinigten Staaten. Die schwarzen ArbeiterInnen, die weiterhin beschäftigt werden, sind jetzt vor allem im öffentlichen Dienst und im Dienstleistungssektor konzentriert. Sie sind immer noch entscheidend in einigen Industriezweigen, vor allem im Süden und in der Automobilindustrie in Norden und Süden.
Ein Teil des Problems ist ein politisches. Obwohl die schwarze ArbeiterInnenklasse nicht generell konservativer ist als die weiße, waren sie abhängiger von der Demokratischen Partei. Die Demokraten sind wiederum von ihnen abhängig, aber tun nichts für sie. Deshalb gab es eine lange Periode politischer Frustration und es hat sich keine radikale Richtung daraus entwickelt.
Jetzt gibt es auch eine große, schwarze Mittelklasse. Ein Ergebnis der BürgerInnenrechtsbewegung war, dass mehr schwarze Menschen Stellen im öffentlichen Dienst bekommen haben, Bürojobs, trotzdem muss man die Fragilität der schwarzen Mittelklasse verstehen, sie stützt sich sehr auf den öffentlichen Dienst.
Weiße ArbeiterInnen sind immer noch die Mehrheit, trotz der Veränderungen. Sie machen immer noch 75 Prozent der ArbeiterInnenschaft aus. Es gibt einen Unterschied zwischen ArbeiterInnen im öffentlichen Dienst, wo es immer noch eine gewisse Arbeitsplatzsicherheit gibt und die meistens, zumindest in den Großstädten, gewerkschaftlich organisiert sind, und der industriellen ArbeiterInnenklasse, die total verwüstet wurde. Ganze Städte, die ehemals Gewerkschaftsbastionen waren, sind jetzt nur noch Wüsten. Aber die Industrie ist nicht ganz verschwunden, nicht mal im Norden. Also können die weißen IndustriearbeiterInnen immer noch eine Rolle spielen.
Ihr Bewusstsein war immer schon vollkommen widersprüchlich. Sie waren die Basis der militantesten Gewerkschaften in den 1930er und 1940er bis in die 1950er Jahre. Es gab keine sozialistische Präsenz in diesen Gewerkschaften, aber sie wählten die Demokraten im Interesse der Klasse, auch wenn wir das nicht so sehen würden. Trotzdem war der Rassismus tief verankert in der weißen ArbeiterInnenklasse. Zwischenzeitlich, in der Hitze des Gefechts, wurde der Rassismus dann wieder auf Eis gelegt. Also war es lange Zeit so, dass niemand eine rein weiße KandidatInnenliste aufstellen würde, wenn ein Betriebrat bei den Auto Workers oder den Teamsters oder irgendwo in der Stahlindustrie gewählt wurde. Also gibt es zwar eine Menge Rassismus, aber auch das praktische Verständnis, dass wir hier alle gemeinsam drinhängen.
Was sich auch noch verändert hat, ist eine Art backlash gegenüber den Gewerkschaften. Die Leute arbeiten nicht mehr im selben Betrieb, sind arbeitslos, machen irgendeinen lausigen Job oder gehen auf die Berufsschule und hoffen noch was zu lernen. Sie sind nicht mehr im selben Kampf. Und die, die einen guten Job in einem gewerkschaftlich organisierten Betrieb hatten und den verlieren, geben dafür nicht nur der Firmenleitung sondern auch der Gewerkschaft die Schuld. Sie sagen, „Wo war die Gewerkschaft? Sie haben darüber Bescheid gewusst und uns im Stich gelassen.“
Eine Anekdote dazu. Es gab eine Rekrutierungsoffensive im Norden Pennsylvanias, nicht weit von Pittsburgh. Das ist ein Teil des Landes mit sehr hohem Organisationsgrad, nicht nur in der Stahlindustrie sondern überall. Die SEIU versuchte Pflegepersonal zu organisieren und ist es nicht gewöhnt, die Annerkennungsabstimmung zu verlieren. Aber sie haben haushoch verloren. Jemand hat die ArbeiterInnen für eine Studie interviewt, und sie haben gesagt: „Wir können kein Vertrauen in euch haben. Schaut, was die Gewerkschaften in den Stahl-Betrieben gemacht haben. Sie haben sich für niemanden stark gemacht.“
Also haben sich viele der Menschen, die früher gute Gewerkschaftsmitglieder waren, jetzt der neoliberalen Ideologie oder dem evangelikalen Christentum zugewandt. Abtreibung wird plötzlich auf eine Art und Weise wichtig, wie es früher nie der Fall war. Man war zwar Katholik und ein guter Katholik und man war gegen Abtreibung, aber irgendwie war das kein Thema. Die Themen waren Geld und der Kampf mit den Bossen. Jetzt werden Abtreibung und Homo-Ehe an Orten wie Ohio zum wichtigsten Wahlkampfthema 2004 – das ist unglaublich. Und die Gewerkschaften können so was nicht anfechten.

Chris Harman: Es gibt diese weit verbreitete Idee, sogar auf der Linken, dass die Industrie aus den wirtschaftlich entwickelten Ländern verschwunden ist. In deinem Buch erscheint es aber, als hätten wir es mehr mit einer Verschiebung aus dem Nordosten der USA in den Süden und den Westen zu tun. Die Statistiken, die du präsentierst, sind durchaus interessant. Der Reinverlust beträgt demnach nur zwei oder drei Millionen der zwanzig bis dreißig Millionen Arbeitsplätze.

Der Verlust an Arbeitsplätzen in der verarbeitenden Industrie ist in vier Sektoren konzentriert. Bei Textil und Bekleidung ist fast alles ins Ausland abgewandert. Die Metallindustrie ist noch nicht ganz weg. Eisen oder Bergbau und alles was damit zusammenhängt ist ganz weit unten. Was in den 1990ern noch runter gegangen ist, ist die Chemie-Branche, ehemals ein Industriezweig mit hohem Organisationsgrad. Aber viele andere Industrien sind noch da – sie haben sich nur innerhalb der USA bewegt. Es werden noch mehr Arbeitsplätze in der verarbeitenden Industrie verloren gehen, daran besteht kein Zweifel. Noch einiges wird nach China, Mexiko oder Brasilien abwandern. Aber bei einigen Dingen ist es einfach unökonomisch, sie weit weg zu produzieren. Diese Dinge werden weiterhin für den lokalen und nationalen Markt produziert.
Die Idee, dass die Gesellschaft nicht länger aus materiellen Dingen zusammengesetzt ist, ist natürlich Blödsinn. Da muss man sich nur umschauen. Diese Dinge müssen von irgendwo kommen, mache kommen aus China oder Indien, aber sie sind bestimmt nicht all die Dinge losgeworden, die in den USA produziert wurden. Die Ironie ist, dass wegen der Restrukturierung einige der traditionellen manuellen Arbeiten noch wichtiger geworden sind, wie LKW-Fahren oder Bahntransport. Was jetzt als „Logistik“ bezeichnet wird, ist der eigentliche Schlüssel der neuen Struktur der Industrie. Sie können den Panama-Kanal nicht mehr benützen, weil er zu klein für ihre Schiffe ist, also bringen sie das Zeug an die Ost- oder an die Westküste und transportieren es per LKW oder per Bahn durchs ganze Land. Deshalb haben Gewerkschaften in diesen Industrien potentiell viel Macht und Einfluss. Das muss allerdings noch demonstriert werden. Unter der derzeitigen Leitung der Teamsters ist es aber unwahrscheinlich, dass viel getan wird, um das zu zeigen.

MS: In der Zeit der großen antikapitalistischen Proteste in Seattle 1999 hat man über das Zusammenkommen von Teamsters und Turtles (junge AktivistInnen der Umweltschutzbewegung) gesprochen. Welche Auswirkungen hatte das? Gab es eine antikapitalistische Stimmung in den Gewerkschaften? Das andere Ereignis, das bestimmt einen Einfluss hatte, war der 11. September.

Der 11. September hat mehr oder weniger einen Großteil der Auswirkungen der Seattle-Proteste untergraben. In den USA gab es seitdem keine Demonstration mehr mit diesem Charakter. Es gab Anti-Kriegs-Demonstrationen, die größer waren, aber sie hatten nicht den gleichen Effekt.
Aber Seattle hatte sehr wohl Auswirkungen. Es war nicht nur interessant, dass die AFL-CIO ihre Leute hingebracht hat – sie haben 30.000 Leute hingebracht. Sie wollten sie davon abhalten, mit den jungen Leuten gemeinsam auf die Straße zu gehen, waren darin aber nicht durchwegs erfolgreich. Die Leute, die aus dem Block ausgebrochen sind, um mit den AktivistInnen zusammenzukommen, waren streikende MetallerInnen aus Oregon, die eine Allianz mit den UmweltschutzaktivistInnen in ihrem Teil des Landes aufgebaut hatten und die HafenarbeiterInnen von der Westküste, die in einer traditionell linken Gewerkschaft organisiert sind. In ihrem Vertrag steht, dass sie ein Mal im Monat die Arbeit für ein „Treffen“ niederlegen können, sie haben sich diesen Tag dafür ausgesucht. Und es waren die Teamsters aus der Reform-Bewegung – Seattle ist dafür ein wichtiges Zentrum. Es waren vor allem weiße ArbeiterInnen aus progressiven lokalen Gewerkschaften, die radikalisiert wurden und die in ihrem Bewusstsein bereits weiter gekommen waren, als jene ArbeiterInnen, die den Importen die Schuld geben, dass ihnen „die Arbeitsplätze weggenommen werden.“ Diese progressiveren Gruppen von ArbeiterInnen wurden von Leuten wie den „Labor Notes“ ausgebildet, die hatten mit ihnen viele Jahre gearbeitet und Netzwerke zum Thema des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens in Kanada, den USA und Mexiko aufgebaut. Also gab es eine kleine Schicht von ArbeiterInnen, die nach Seattle kamen und die Konfrontation, die sie gesehen haben, gut fanden. Es war spannend Leute zu sehen, die von Seattle zurückkamen und gesagt haben „Wenn wir das nächste mal streiken, sollen diese Anarchisten zu uns kommen.“
Nach Seattle haben die Gewerkschaften ihre Meinung in vielen Fragen geändert. Nicht total. Die MetallarbeiterInnen sind immer noch sehr protektionistisch orientiert. Aber gleichzeitig machen sie auch mehr internationale Arbeit in Lateinamerika.

CH: Kannst du uns ein bisschen was über Labor Notes erzählen?

Ich war einer der MitbegründerInnen von Labor Notes 1979. Es ist ein unabhängiges, landesweites Magazin, das monatlich erscheint und sich an GewerkschaftsaktivistInnen richtet. Ich habe für Labor Notes gearbeitet, bis ich 2001 nach New York gezogen bin. In New York war ich immer noch Mitherausgeber. Jetzt stehe ich in keiner offiziellen Verbindung mehr, aber wir stehen in Kontakt.
Die Organisation wurde während der Nachwirkungen des Streiks der MinenarbeiterInnen 1978 in den USA aufgebaut. Was wir damals bemerkten und was wir insgesamt bezüglich der Periode der 1960er und 1970er empfanden, war das Problem, dass es zwar riesige Bewegungen an der Gewerkschaftsbasis gab – die MinenarbeiterInnen waren die einzigen, die auf nationaler Ebene erfolgreich waren – aber dann brach alles wieder zusammen. Während des Streiks gingen die MinenarbeiterInnen in andere Betriebe in den Norden zu den Auto- und Stahlfabriken, um dort Geld zu sammeln, und es wurden Karawanen aus den nördlichen Städten organisiert um den MinenarbeiterInnen Sachen zu bringen. Wir erkannten, dass ein Problem dieser Ära war, dass eine Institution, eine politische Kraft oder Publikation fehlte, die all das zusammenbrachte und eine Art Klassensichtweise, einen analytischen Kontext schaffen kann.
Wir hatten nicht den Plan, eine Organisation aufzubauen. Die meisten von uns haben damals bei den International Socialists angefangen, aber die Idee war, nicht von der Organisation kontrolliert zu sein, unabhängig zu bleiben und so war es dann auch im Großen und Ganzen, obwohl die meisten von uns SozialistInnen sind. Wir waren von unserem eigenen Erfolg überrascht. Wir haben eine Auflage von 8000 oder 9000 Stück. Dann begannen wir damit, Kongresse zu organisieren, um Leute aus den verschiedenen Teilen der ArbeiterInnenklasse zusammenzubringen. Die waren auch sehr erfolgreich, ungefähr tausend Personen nehmen jedes Jahr daran teil. Das Problem ist, dass es das einzige Projekt dieser Art ist. Wir haben nicht die Ressourcen um den Einfluss zu gewinnen, den wir gerne hätten, obwohl wir durchaus welchen haben. Labor Notes ist eine wichtige Institution innerhalb der Gewerkschaftsbewegung geworden. Die Gewerkschaftsspitze war demgegenüber zwar manchmal feindselig, aber sie können nichts dagegen unternehmen.
Die Schicht der Militanten in den Vereinigten Staaten ist nicht anders als sonst wo, außer in dem wichtigen Sinne, dass Sozialismus als politische Idee für ein halbes Jahrhundert kein wichtiger Teil der ArbeiterInnenbewegung gewesen ist. Das soll nicht heißen, dass es nicht viele SozialistInnen gibt. Man kann auf viele Demos gehen, z. B. von ArbeiterInnen aus der Autoindustrie und jemanden ansprechen, der nicht in einer Gruppe ist und von dem man nicht denken würde das er Sozialist ist, aber wenn man mit ihm redet, findet man heraus, dass er’s ist. Und dann gibt es noch dieses andere Phänomen, das mir ständig begegnet. Es ist so eine Art kleines Identifikationspapier, wenn man die Industrial Workers of the World (IWW)-Karte hat. Das kann man auch bei ganz normalen Gewerkschaftsmitgliedern finden, dass sie sich von der Idee einer radikalen, revolutionären Gewerkschaftsbewegung angezogen fühlen. So wie die IWW heute existiert, ist es nur eine politische Sekte. Aber die Idee dahinter, die Geschichte davon, gefällt einigen der Militanten. Ich bin immer wieder überrascht, wenn mich jemand zur Seite zieht und sagt „Ich hab eine rote Karte.“

Im englischen Original erschienen in: International Socialism 115 (2007).
Übersetzung: Maria Asenbaum
Mit freundlicher Genehmigung von International Socialism





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