Artikel drucken Twitter Email Facebook

Griechenland: “Diese Schulden haben Klassencharakter!”
von Haris Triandafilidou, Giorgos Saliaris, Ramin Taghian

Ramin Taghian sprach in Athen mit Haris Triandafilidou, Mitglied der Jugendorganisation von Synaspismos und dem Aktivisten Giorgos Saliaris, über die Krise in Griechenland, die Besetzung des Syntagma-Platzes und den Widerstand gegen die neoliberale Sparpolitik der griechischen Regierung.

Was sind eurer Meinung nach die Ursachen der Krise in Griechenland?

Haris: Die Mär, dass Griechenland über seine Verhältnisse gelebt hätte, die Löhne zu hoch waren und das der Grund für die hohe Verschuldung sei, ist nicht wahr. Oft wird ja argumentiert, dass deswegen der griechische Kapitalismus nicht konkurrenzfähig sei. Aus meiner Sicht sind mehrere Punkte wichtig. Einerseits die weltweite Krise, die 2008 in den USA ausgebrochen ist. Ein weiterer Grund ist die Euro-Architektur an sich, also dass so viele unterschiedliche Länder unter einer Währung existieren, es aber keine einheitliche Wirtschaftspolitik gibt. Das führt dazu, dass Länder wie Deutschland ohne Ende exportieren können. Das sind immerhin 60 bis 70 Prozent der Exporte innerhalb der EU.
Noch ein Problem ist, dass Griechenland zu extrem hohen Zinsen Kredite aufgenommen hat, um ältere Schulden abzubezahlen. Die europäische Zentralbank (EZB) verleiht an Banken Geld zu einem Zinssatz von 1 Prozent. Diese wiederum verleihen das Geld an die jeweiligen Staaten mit sechs, sieben Prozent Zinsen weiter. Zu wenig thematisiert wurde ein weiterer Grund, weshalb die Staatskassen leer sind. Das Bankenrettungspaket entsprach etwa der Höhe der 110 Milliarden Euro, die jetzt das EU-Rettungsschirms vom letzten Jahr ausmachen. Im Prinzip ging also die Rettung der Banken auf Kosten der Gesellschaft, weil ja nicht nur der Staat, sondern die Gesellschaft dafür bezahlt.
Die Ursachen liegen also einmal im internationalen kapitalistischen System, das in der neoliberalen Logik fußt, mit einem großem Gewicht der Finanzmärkte, und der Europäische Union mit ihrer Ausrichtung. Aber auch die konkreten Maßnahmen in Griechenland spielen eine Rolle. Als Griechenland dem Euro-Raum beigetreten ist, hatten wir zwischen 1997 und 2007 ein Wachstum von knapp 44 Prozent des BIP. Natürlich wurde in diesen Zeiten nichts mit dem Geld angefangen, um z.B. über Steuern irgendetwas in die Staatskassen zu bekommen. Stattdessen wurden Steuern auf große Unternehmen, Banken und andere Kapitalien gesenkt. Die Verschuldung blieb deshalb weiterhin auf 100 Prozent. Zusätzlich steht Griechenland an dritter oder vierter Stelle weltweit bei den Rüstungsausgaben im Verhältnis zur Bevölkerung. Diese Schulden haben Klassencharakter!

Jetzt sind Sparpakete geplant. Wie hat sich die Krise konkret auf die Bevölkerung, auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen ausgewirkt?

Haris: Im letzten Jahr kam es zur Streichung des 13. und 14. Monatsgehalts. Gerade in den deutschen Medien galt das ja immer wieder als Beleg dafür, dass es den Griechen doch so gut gehe. In Griechenland werden aber extrem niedrige Löhne gezahlt. Die Zuschüsse zwei Mal pro Jahr gab es, damit das Ganze noch irgendwie aufgerechnet werden konnte. Wenn man sich überlegt, was eine normale Familie, die keine großen Luxusausgaben hat, an Lebenshaltungskosten aufbringen muss, ist das schon krass. So sind die Lebensmittelpreise viel höher als etwa in Deutschland oder anderen europäischen Ländern. Vor der Krise gab es bereits einen Anteil von 20 Prozent der Bevölkerung, die unterhalb der Armutsgrenze lebte. Unsere Generation war die „Generation der 700 Euro“. Wenn du einen Universitätsabschluss hast, kannst du nicht damit rechnen mehr als 700 Euro zu verdienen. Dank der sozialistischen Regierung verdienst du als BerufseinsteigerIn jetzt nur mehr 560 Euro. Eine Genossin aus meiner Organisation hat Elektrotechnik studiert und letztes Jahr angefangen zu arbeiten. Sie hat viele Überstunden gemacht und dann gesagt: „Ich will die irgendwie bezahlt kriegen oder in Urlaub gehen oder ich arbeite halt nur mehr die 8 Stunden.“ Sie wurde rausgeworfen und verdient jetzt 400 Euro im Monat als Kellnerin.

Giorgos: Ich habe zweieinhalb Jahre in einer Werbeagentur gearbeitet, die hatte zumindest ein paar Dinge wie eine private Krankenversicherung. Ich habe mit 700 Euro im Monat angefangen, im Vertrag stand ganz normal acht Stunden pro Tag, aber ich habe bis auf die Sommermonate noch nie bloß acht Stunden dort gearbeitet. Ich musste jeden Tag 10-12 Stunden arbeiten und wurde noch nie für die Überstunden bezahlt. Irgendwann gab es zwar eine Gehaltserhöhung auf 900 Euro im Monat, trotzdem ging es einfach nicht mehr, weil ich weiterhin immer mehr Stunden gearbeitet habe und allein die Fahrt dahin teuer war. Weil es keine Arbeitsrechte gibt, kannst du nichts dagegen machen. Irgendwann hatte ich die Schnauze voll und meinte, ich will nur die acht Stunden arbeiten. Deswegen wurde ich gefeuert, obwohl im Vertrag acht Stunden stehen. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat zu Beginn der Krise gesagt, wir Griechen wären faul und würden nicht arbeiten. Dabei arbeiten wir alle mehr als acht Stunden am Tag. Es hat sich herausgestellt, – das kam auch in Deutschland in ein paar Artikeln heraus – dass wir GriechenInnen mehr als alle EuropäerInnen arbeiten. Das wird selten erwähnt.

Haris: Weiters baut das ganze Sozialversicherungssystem auf Sozialversicherungs-Marken auf. Eigentlich müssten ArbeitgeberInnen diese kaufen und in die Sozialversicherungs-Hefte ihrer ArbeitnehmerInnen kleben. Wenn das aber nicht passiert und du trotzdem nicht auf deine Rente und Krankenversicherung verzichten willst, dann musst du dir diese Marken selbst kaufen, indem du Geld dafür sparst oder ausleihst. Wie viel das kostet kommt darauf an, bei welchem Versicherungsfond du das machst, wobei es sich um eine ganze Summe Geld handelt, gerade für MigrantInnen, wenn man bedenkt, dass diese meist undokumentiert arbeiten und folglich nicht versichert sind. Du musst diese aber auch ansammeln, um das Recht zu haben, Arbeitslosengeld zu bekommen. Das wirkt sich wiederum auf arbeitsrechtliche Angelegenheiten aus. LehrerInnen zum Beispiel bekommen deswegen nie feste Verträge, sondern werden immer nur bis zum Sommer und an verschiedenen Schulen angestellt, damit sie nirgendwo eine feste Anstellung bekommen. Im Sommer werden sie entlassen und haben deswegen kein Recht auf Arbeitslosengeld. Dazu kommt, dass Korruption in Griechenland sehr weit verbreitet ist. Nun wurde ein Großteil der Leute, die für Steuereintreibung und Korruptionsbekämpfung zuständig waren, weggekürzt. Für 900.000 Betriebe waren davor schon nur 1.000 Kontrolleure zuständig. Dass die UnternehmerInnen dann Steuer hinterziehen, ist da wohl klar.

Wie ist die Situation im Gesundheitssektor?

Haris: Die Krankenversicherung zahlt der Staat, damit der Arbeitgeber nicht belastet wird. Sie können diesen Hungerlohn zahlen, weil wir ja dem Kapital nicht an die Tasche dürfen. Letztes Jahr im Sommer ging durch die Medien: „Passt besonders gut auf, dass euch nichts passiert, damit ihr nicht ins Krankenhaus müsst. Denn es gibt keine Skalpelle, keine Operationsbesteck, es werden nur Notoperationen durchgeführt.“ Das kam so: Natürlich sind die Chefs der Krankenhäuser mit der PASOK (Panellinio Sosialistiko Kinima, die sozialdemokratische Partei Griechenlands, Anm) gut verbunden. Die haben lange Zeit alles, was an Mitteln für die Krankenhäuser benötigt wurde, bei verbandelten Unternehmen zu Preisen bestellt, die bis zu 200 Prozent über dem Durchschnitt liegen. Die unterfinanzierten Krankenhäuser konnten das irgendwann nicht mehr bezahlen, und die Unternehmen haben aufgehört, Sachen zu liefern. Das war ein wunderbares Beispiel dafür, wie dieses PASOK-System funktioniert, welchen Klientelismus und Nepotismus die PASOK aufgebaut hat.
Auch das öffentliche Schulsystem ist extrem unterfinanziert. Um die Hochschulzugangsberechtigung zu bekommen, also die Prüfung zu bestehen, bist du gezwungen Privatunterricht zu nehmen. Den müssen die Eltern aus eigener Tasche zahlen. Vor zwei Jahren bedeutete das für jede Familie 7.500 Euro. Wer hat denn so viel Geld?

Giorgos: Deswegen sind die Leute auch gezwungen, Kredite aufzunehmen. Sie können oft gar nicht anders.

Privatverschuldung und Kredite haben in anderen Ländern eine zentrale Rolle in der Krisendynamik gespielt. Wie ist das in Griechenland?

Haris: Die Verschuldung der Privathaushalt macht einen großen Teil der Schulden aus. Bei der Einführung des Euro sind die Zinsen für Kredite extrem gesunken. Im Gegensatz zum frühere fordistischen Wohlfahrtsstaat besteht der soziale Kompromiss nun darin, Kredite aufnehmen zu können. Viele Leute hatten und haben Kreditkartenrechnungen, die sie nicht bezahlen können. Man konnte sich einen Kredit nehmen, um in den Urlaub zu fahren, die wurden Urlaubskredite genannt. Du konntest Konsumkredite aufnehmen – die heißen auch alle so! Die Privatverschuldung ist unglaublich. Du kannst im Supermarkt auf Kredit kaufen, weil du deine Grundbedürfnisse mit deinem normalen Gehalt nicht decken kannst. Das war vor der Krise schon so. Man muss sich vorstellen, dass dann im letzten Jahr die Löhne um durchschnittlich 20 bis 40 Prozent gekürzt wurden, die Mehrwertsteuer erhöht wurde, das Benzin extrem teuer geworden ist usw. Es geht hier mittlerweile um Leben und Tod. Das ist auch der Grund warum sich so viele Leute vor dem Parlament versammelt haben.

Inwiefern ist in so einer Situation der Glaube an eine bürgerlich-parlamentarische Lösung in der Bevölkerung eigentlich noch erhalten? Die Leute sind wütend, Haris, du sagst es geht um Leben und Tod. Werden die Aufforderungen, in harten Zeiten durchzuhalten und die vermeintliche Notwendigkeit der Sparpakete, geschluckt?

Haris: Im Winter gab es einen Hungerstreik von 300 MigrantInnen, um Papiere zu bekommen. Wie in den Medien über diese MigrantInnen hergezogen wurde, zeigte eine deutlich rechte Stimmung. Damals hatte ich den Eindruck, dass viele nicht nur die parlamentarische Demokratie, sondern Demokratie als solche in Zweifel ziehen. Was mir aber sehr viel Hoffnung gibt, sind die Ereignisse seit dem 25. Mai am Syntagma-Platz. Hier läuft alles unter der Bemühung, dass die Leute begreifen, was Demokratie wirklich ist. Ich war bei einer wunderbaren Diskussion mit vier verschieden Vortragenden. Es ging darum, was Demokratie bedeutet, was es bedeutet, Minderheit in einer Demokratie zu sein, was direkte und was repräsentative Demokratie ist, und was jetzt gerade hier passiert. Die Leute versammeln sich unter der Forderung nach echter Demokratie. Das ist positiv! Sie sagen, wir zweifeln Demokratie nicht grundsätzlich an. Letztes Jahr noch war die Stimmung weit verbreitet, wir bräuchten jemanden wie Berlusconi, jemanden der es in der Marktwirtschaft zu etwas gebracht hat. Solche Leute müssten jetzt an die Regierung und alles verwalten um uns aus dieser Misere heraus zu führen. Diese Stimmung ist total gekippt. Die Demokratie als Idee wird nicht angezweifelt, sondern die parlamentarische Demokratie unter neoliberalen Vorzeichen steht in der Kritik.

Also eine Krise der repräsentativen Demokratie?

Haris: Die Parteien sind hier sehr klientelistisch organisiert, was auch von den Medien befördert wurde. Vor allem PASOK hat das so aufgebaut: Du wählst mich und dafür bringe ich dein Kind oder dich irgendwo im öffentlichen Sektor unter. Ähnliches passiert auf den Universitäten. Jede Partei hat ihre StudentInnenorganisation. Die treffen sich aber nicht, um zu diskutieren, sondern sagen, wir sind PASOK, wir fahren gemeinsam auf Urlaub, bieten Reisen an oder gehen in Nachtclubs. Wenn du uns kennst, bekommst du einen Tisch für den du sonst 100 Euro zahlst um 20 Euro.

Giorgos: Bei den Griechen ist die Partei wie eine Fußballmannschaft von der man total großer Fan ist. Schon als Kind wird dir anerzogen, du wirst jetzt PASOK oder du wirst Nea Dimokratia (konservative Partei Griechenlands, Anm.). Wenn du überhaupt nichts mit Parteien zu tun haben willst, ist es sehr schwer durchzukommen.

Haris: Das bricht aber jetzt auf. PASOK hat bei den letzten Wahlen über 40% bekommen. Jetzt bei den Umfragen schaffen sie es nicht über 25%. In manchen Regionen schlägt die Basis der Partei die Parteibüros in Stücke. Die SozialdemokratInnen haben unter Kostas Simitis (Ministerpräsident von 1996 bis 2004, Anm.) einen extrem neoliberalen Kurs eingeschlagen. Alles unter der Fahne des Beitritts zum Euro-Raum, damit es uns endlich besser gehe. Nach der letzten Wahl ist Papandreou (Giorgos Andrea, aktueller Ministerpräsident, Anm.) eigentlich mit einem komplett keynesianistisch-sozialstaatlichen Programm an die Macht gekommen. Sein Bruder ist jetzt in der Kommission, die für Privatisierungen zuständig ist. Die schieben sich die Geschäfte zu. Daran wird nichts geändert, aber die kleinen Leute müssen zahlen.

Könnt ihr näher auf das Verhältnis zwischen der Basis der sozialistischen Partei und ihrer Führung eingehen? Ihr habt ja schon angesprochen, dass es zu Auseinandersetzungen gekommen ist. Wie verhalten sich dabei die Gewerkschaften?

Haris: Gerade gab es eine Kampagne, die versucht hat SYRIZA, die Koalition der radikalen Linken im Parlament, dafür verantwortlich zu machen, dass Regierungsmitglieder mit Joghurt beworfen oder ausgebuht werden. Das Ganze hat dann aber doch irgendwann zu lächerlich gewirkt. Die Partei hatte bei den letzten Wahlen 4,6%. Wie viele sind wir, ohne es zu wissen? (lacht) Sie zeigten dann ein Video auf dem angeblich Mitglieder von SYRIZA zu sehen sind, die Joghurt werfen. Es stellte sich aber heraus, dass das unter anderem der Vorsitzende der Jugendorganisation von PASOK war. Ihre eigenen Leute haben sie ausgebuht! Das war zu erwarten. Schließlich machen sie das komplette Gegenteil von dem Programm, für das sie gewählt wurden.

Giorgos: Viele Politiker beschweren sich, dass sie sehr aggressiv angegriffen und beworfen werden und wir doch auf Dialog setzen sollen. Aber wer gibt der Polizei die Befehle anzugreifen? Wenn sie einen Dialog wollen, sollen sie die Polizei raus lassen. Natürlich schmeißen wir Joghurt! Wir merken, dass sie uns anlügen.

Haris: Als Papandreou gewählt wurde, hat er gesagt: „Wenn wir die Schere zwischen Arm und Reich nicht radikal verkleinern und wenn wir dieser Gesellschaft nicht das Gefühl geben, dass endlich mehr Gerechtigkeit herrscht, dann werden sie uns mit Steinen verjagen.“ Genau das passiert jetzt. Letzte Woche hat die europäische Linkspartei hier getagt und eine Veranstaltung organisiert. Es wurden Basisgewerkschaften, aber auch die Chefs der größten Gewerkschaften eingeladen, in deren Bereichen jetzt privatisiert werden soll. Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Privatangestellten ist PASOK-Mitglied. Seine Analyse der Angriffe auf die arbeitsrechtlichen Errungenschaften hat aber gezeigt, dass er ideologisch mit dieser Partei fertig ist. Ein Gewerkschafter der staatlichen Ölgesellschaft wurde aus der Partei ausgeschlossen und hat gesagt: „Wir haben Fehler gemacht und gedacht, Gewerkschaftsarbeit heißt hie und da mal eine Pressemitteilung rauszugeben. Aber ich habe eines verstanden, Gewerkschaftsarbeit muss jetzt auf der Straße stattfinden.“ Daran sieht man die Politisierung der Gewerkschaften und der Basis. Ein weiterer Gewerkschafter der staatlichen Wassergesellschaft, die privatisiert werden soll, hat sich ausgerechnet wie viel der Betrieb bei einem Verkauf kosten würde. Er meinte, selbst wenn wir glauben, dass unbedingt Geld nötig sei und die Betriebe verkauft werden müssten, käme das auf 40 Euro gespalten auf drei Wasserrechnungen pro EinwohnerIn. Nach drei Rechnungen wäre die gesamte Bevölkerung im Besitz des Betriebs! Solche Konzepte und Alternativen sind wichtig. Es ist wichtig zu zeigen, dass die Regierung nicht die absolute Wahrheit besitzt und diese kapitalistische neoliberale Logik keine Naturgewalt ist.

Ihr habt schon die Ereignisse am Syntagma-Platz erwähnt. Eröffnen sich hier Alternativen? Vielleicht könnt auch kurz erklären, welche Rolle die “Indignados” spielen.

Haris: Im Prinzip war es eine Reaktion auf die Ereignisse in Spanien, die ja ähnliche Probleme haben. Eine extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit trotz guten Ausbildungsniveaus, prekäre Arbeitsbedingungen usw. Seit Februar hatte sich eine enorme Wut aufgestaut, die sich aber nirgends kanalisiert hat, sondern nur im Werfen von Gegenständen Ausdruck fand. Seit dem 25. Mai gibt es am Syntagma-Platz eine bunte Bewegung. Auf dem unteren Teil des Platzes finden Vollversammlungen statt und auf dem oberen Teil stehen Leute vor dem Parlament und zeigen ihm quasi den Mittelfinger. Es gibt Leute mit griechischen Fahnen, die Patriotismus im Protest erkennen. Es gibt auch Rechtsextreme. Am Anfang war es so, dass es innerhalb der Linken Schwierigkeiten gab, sich zu positionieren. Fordern wir eine patriotische Regierung oder konzentrieren wir auf soziale Gerechtigkeit und setzten Demokratie, soziale Gleichheit und Geschlechtergleichheit auf die Agenda? Die KKE (Kommunistische Partei Griechenlands, Anm.), die größte organisierte linke Partei, enthielt sich komplett und verurteilte das Ganze als etwas, was keine revolutionäre Gesinnung hat, keine Thematik, kein Programm. Andere Teile der Linken, ob parlamentarisch oder außerparlamentarisch, haben einfach folgendes gemacht. Sie haben respektiert, dass es eine Parteienverdrossenheit gibt. Sie gehen also nicht mit Parteifahne hin, sondern diskutieren mit und hören zu. Wir müssen dorthin gehen und die Leute überzeugen.

Wie finden solche Diskussionen am Syntagma-Platz statt?

Haris: Am Dienstag wird es die vierte Diskussion geben. Es gibt immer ein Gremium, das vorschlägt, welche Leute sprechen sollen. Darüber wird dann in der Vollversammlung abgestimmt. Das ist wirklich basisdemokratisch. Die RednerInnen sitzen vorne und haben jeweils eine viertel Stunde Zeit. Für die Fragen werden Nummern gezogen und du wirst aufgerufen. Wenn zu viele etwas sagen wollen, wird ausgelost, damit niemand aus irgendwelchen Gründen bevorzugt wird. In einer meiner ersten Diskussionen ging es darum, was diese Schulden genau sind, ob es eine richtige Lösung dafür gibt und ob das, was gerade passiert die einzig möglich Lösung ist. Die Leute haben mitdiskutiert und viele Fragen gestellt. Genau das hat sich doch die Linke so lang gewünscht, dass die Leute auch erfahren, dass es andere Möglichkeiten gibt! Die Medien haben darüber nie berichtet. Sie sind hier wirklich Instrumente des Machtblocks. Interessant war, und das kann man vielleicht als Hegemoniekrise verstehen, dass während des Generalstreiks am 29. Juni nicht einmal die regierungstreuesten Medien rechtfertigen konnten, was passiert ist. Die vom Fernsehen befragten Parteivertreter wurden regelrecht von den Medien attackiert. Diese Mainstreamideologie bricht auf. Das ist einerseits positiv, weil es in Richtung soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Ausdehnung von Rechten geht. Es kann aber natürlich auch in die Hose gehen und eine krassen Rechtsruck geben.

Wie spiegeln sich diese Widersprüche in der Bewegung wider?

Haris: Die Hegemonie in dieser Bewegung haben schon linke bzw. demokratische Kräfte inne. Im Moment sieht es gut aus. Das hängt aber auch davon ab, wie sich die Medien verhalten werden und wie viel Polizeigewalt wir noch sehen werden. Letztes Jahr fand am 5. Mai, als das Maßnahmenpaket beschlossen wurde, die größte Demonstration seit dem Ende der Diktatur statt. Damals wurde eine Bank angezündet und drei Menschen sind gestorben. Danach war die Bewegung tot. Es hat den Leuten Angst gemacht und für einen gewissen Zeitraum vermittelt, dass Demonstrationen das falsche Mittel wären. Wenn etwas derart ausartet, ist es nicht mehr gut. Wir haben extrem viel Polizeigewalt auf den Demonstrationen, wobei speziell für Demos zuständige Spezialeinheiten eingesetzt werden, die auch auf Leute einschlagen. Deshalb fanden die Leute auch den Syntagma-Platz so toll. Hier war etwas anders als bei den typischen Demonstrationen, die von Polizeigewalt und dem Schwarzen Block geprägt sind. Die Leute hatten das Gefühl, am Syntagma-Platz ist man sicher.

Wie reagiert die Polizei auf die Versammlungen? Es gab doch auch hier Repression, oder?

Haris: Am 15. Juni wurde zum ersten Mal versucht, den Platz unter Einsatz von Tränengas zu räumen. Am Abend waren aber alle wieder da. Ich hatte das Gefühl, die Leute verteidigen das, weil sie es selbst aufgebaut hatten, es ist ihre Sache. Und es gibt auch agents provocateurs. Auf einem Video sieht man einen Vermummten, der plötzlich zum Parlament geht, mit Polizisten redet und dann rein geht. Sie haben versucht zu erklären, das sei ein Gewerkschafter von den öffentlichen Verkehrsbetrieben, der die Polizei um Hilfe gebeten hätte, weil er von den Anarchisten bedroht worden wäre und so gerettet wurde… Man sieht immer wieder Vermummte, die mit der Polizei herumhängen. Am 15. Juni ist einem sogar seine Polizeimarke aus der Tasche gefallen. Oft sind es aber auch Mitglieder von rechtsextremen Gruppen. Schließlich ist ein Teil der Vermummten natürlich wirklich vom Black Block. Die werden niedergeschlagen, aber nie festgenommen. Selbst bei den Ereignissen in der Bank vor einem Jahr, die niedergebrannt wurde, stand die Polizei nur daneben, weil das Teil ihrer Eskalationsstrategie ist. Sie sorgen dafür, dass Krawalle entstehen!

Was spielt sich außerhalb vom Syntagma-Platz ab, in den Stadtvierteln aber auch außerhalb von Athen? Wie ist dort die Situation?

Haris: Es zentriert sich natürlich um den Syntagma-Platz, weil dieser – direkt vor dem Parlament – einen symbolischen Charakter hat. Es gibt auch Nachbarschaftsversammlungen und Solidaritätsnetzwerke. Diese wurden von Leuten initiiert, die gesehen haben, was am Syntagma-Platz passiert und gesagt haben, wir machen jetzt eine Volksversammlung. Diese finden auf Plätzen in unterschiedlichen Gegenden statt. Was in den kleinen Nachbarschaften stattfindet, geht aber vor allem von Linken aus unterschiedlichen Spektren aus, in manchen Teilen heterogener als in anderen. Letztes Jahr gab es Versuche, solche Versammlungen in meiner Gegend zu starten. Da waren sowohl AnarchistInnen, unsere Organisation als auch solche, die einfach wissen wollten was los ist und sich Sorgen machen. So etwas gibt es also in vielen Städten, aber natürlich nicht in der Größe wie auf dem Syntagma-Platz. Auf real-democracy.gr sind übrigens alle verbundenen Städte und Versammlungen aufgelistet.

Giorgos: Die Kleinstädte und Dörfer merken nicht so viel von der Krise wie die Großstädte. Dadurch, dass viele Menschen in kleinen Städten noch eigene Felder besitzen und darauf anbauen können, trifft sie die Krise nicht so hart. Gerade in Gebieten, die von wenigen Fabriken versorgt wurden, ist die Krise wiederum viel stärker spürbar, weil diese Fabriken jetzt oft geschlossen werden. Die Arbeitslosigkeit steigt dort enorm an.

Es wirkt oft nicht so als gäbe es eine einheitliche, sondern unterschiedliche Bewegungen in Griechenland. Wie ist das Verhältnis der Bewegung am Syntagma-Platz zur Gewerkschaftsbewegung, aber auch zur anarchistischen Bewegung? Spielt die radikale Linke eine Rolle bzw. verändert sich hier auch die Art der Zusammenarbeit?

Haris: Ehrlich gesagt, obwohl meine Organisation der ganzen Sache noch am positivsten gegenüberstand, hatte ich am Anfang Angst. Ich dachte, die denken nur ‚Demokratie ist Scheiße, Parteien und Organisieren genauso‘ und sitzen einfach nur rum und meckern. Ich wurde eines Besseren belehrt. Am 15. Juli fand der erste Generalstreik seit den ersten Versammlungen der indignados am Syntagma-Platz statt. Die Vollversammlung hat explizit dazu aufgerufen, sich am Streik zu beteiligen und an der Kundgebung teilzunehmen. Dort haben auch Mitglieder des Black Block Stunk gemacht. Die AnarchistInnen hingegen, die sich wirklich inhaltlich damit auseinandergesetzt haben, sind täglich präsent. Ebenso unterschiedliche andere linke Organisationen. Einzig die KKE ist nicht dabei.

Welche Rolle spielt die KKE?

Haris: Die KKE hat vor einigen Jahren ihre eigene Gewerkschaft gegründet und nimmt nicht an Streiks oder Kundgebungen der offiziellen Gewerkschaften Teil. Sie machen dann Gegenkundgebungen, schließlich sind sie überzeugt, die richtige Ideologie zu haben. Die Revolution findet erst statt bzw. der Kapitalismus geht erst dann zu Ende, wenn alle ihre Ideologie angenommen haben. Der einzige Weg aus der Krise ist daher, dass sich alle ihnen anschließen. Wie gut das ankommt hat man am 28. Juni gesehen. Tagsüber wurde mit Tränengas geschossen und eine neue Qualität der Repression hatte begonnen. Gegen 6 Uhr Abend sollte am Syntagma-Platz ein Konzert stattfinden, und obwohl ein paar Stunden zuvor noch Tränengas- und Blendgranaten geflogen sind, war es schon ruhiger. Die KKE versammelte sich gegen Nachmittag und versuchte durch die Straße am Parlament vorbei zu marschieren. Genau dort wo vorher Stunden lang Leute von der Polizei mit Tränengas angegriffen wurden. Die Leute haben zuerst ironisch zu klatschen begonnen, dann gebuht und gefragt: „Was wollt ihr hier eigentlich? Wir haben die ganze Zeit was auf die Fresse bekommen, sind mit der übelsten Repression konfrontiert gewesen und ihr spaziert hier einfach durch!“

Ändert das etwas bei den Mitgliedern der KKE?

Haris: Ich glaube nicht, schließlich ist das nicht der erste Fall. Im Dezember 2008, als die ganze Stadt gebrannt hat, nachdem ein Junge von der Polizei erschossen wurde, gab es viel Gewalt auf den Straßen. Einerseits hat der Black Block viel Zulauf bekommen, aber es beteiligten sich auch Leute, die sonst nichts mit Gewalt zu tun hatten. Sie traten Sachen ein, SchülerInnen warfen vor Polizeistationen mit Steinen und Obst. Sie versuchten einfach ihre Verzweiflung und Wut auszudrücken. Eine Medienkampagne versuchte damals, SYRIZA die Schuld dafür zu geben. Die damalige KKE-Generalsekretärin sagte damals: „SYRIZA streichelt die Ohren der Vermummten“, und würde die Gewalt nicht kritisieren. Während also die größte Demonstration stattfand und Gewerkschaften, Jugendliche und Leute, die früher auf dem Sofa gesessen sind, sich gegen Polizeigewalt und Hoffnungslosigkeit gewehrt haben, hat die KKE eine Demo vor unserem Parteibüro abgehalten und uns ausgebuht. Sie trennen sich bewusst von den Protesten ab. Sie haben zwar in Umfragen dazugewonnen, aber nicht bei den Leuten die am Syntagma-Platz waren.

Wie ist die Zusammenarbeit der restlichen Linken?

Haris: Ich hab schon den Hungerstreik der dreihundert MigrantInnen Anfang Februar erwähnt. Wie gesagt hatten wir damals Angst, die ganze Situation könnte nach rechts kippen, weil die Medien und auch der Machtblock alles so darstellten, als würde die Linke die MigrantInnen für ihre eigenen politischen Zwecke benutzen. Der Hungerstreik wurde dann nach 43 Tagen und zu einem Zeitpunkt erfolgreich beendet, als wir wirklich schon gedacht haben, dass jemand sterben würde. Dabei wurde nicht nur für MigrantInnen, sondern für alle ArbeitnehmerInnen eine Senkung der Sozialversicherungs-Marken erreicht, die wie gesagt für den Erwerb einer Gesundheits- und Sozialversicherung notwendig sind. Außerdem haben alle beteiligten MigrantInnen Papiere bekommen und durften damit reisen. Ein ganz breites Spektrum der griechischen Linken hat diesen Hungerstreik unterstützt, so dass du von AnarchistInnen bis zu Leute, die sich einfach selbst als links verorten aber nicht organisiert sind, eine ganz große Solidaritätsbewegung hattest. All diese Leute sind mit in den Krankenhäusern gewesen, als die Hungerstreikenden eingeliefert wurden, und haben dort Übersetzungen gemacht oder irgendwelche Hilfestellungen geleistet. Sie waren auch in dem Gebäude, in dem die Hungerstreikenden untergebracht waren, damit keine Faschisten angreifen können. Diese Solidaritätsbewegung hat dazu beigetragen, dass das Klima zwischen den verschiedenen Linken am Syntagma jetzt so gut ist. Es wurden in verschiedenen Teilen Griechenlands Plakate mit den jeweiligen örtlichen Abgeordneten gedruckt, die für das letzte Sparpaket gestimmt haben, und da steht „Wanted“ drauf. Das Klima ist extrem schlecht für die Regierung. Man kann eigentlich sagen, dass seit Anfang des Jahres die Stimmung gegen die Regierung extrem ist.

Und drückt sich das auch in Alltagspraktiken aus?

Haris: Zum Einen gab es die Mautverweigerungen an manchen Mautstellen. Man zahlt ja hier ohnehin eine extrem hohe Straßenbenützungsgebühr an den Staat. Zusätzlich soll dann noch diese Maut gezahlt werden. Die Straßen wurden größtenteils von Hochtief, der größten international agierenden deutschen Baufirma, gebaut. Dieses Geld, das die griechischen SteuerzahlerInnen hier zusätzlich zur Straßenbenützungsgebühr bezahlen sollen, geht nicht an den Staat, sondern an Hochtief. Genauso ist das beim Flughafen und bei der Brücke in Choreo, die von einer französischen Firma gebaut wurde und bei der die Maut zwischen sieben und 20 Euro beträgt. Die Leute haben sich dann irgendwann geweigert, dieses Geld zu zahlen, weil es zusätzlich zu den Straßenbenützungsgebühren und den ohnehin hohen Benzinpreisen unglaublich teuer geworden ist, von einem Ort zum anderen zu kommen. Also wurde der Schranken einfach selbst geöffnet. Ein paar haben damit abgefangen, doch bald hat man überall den Alarm von geöffneten Schranken gehört. Als dann die Tickets der Verkehrsbetriebe um fast 50 Prozent teurer wurden und alle Ermäßigungen gestrichen wurden, gab es eine Medienkampagne der Regierung, die die Situation mit Verweis auf die Mautverweigerung so darstellte, als wollten alle alles umsonst haben. Irgendwann im April sind dann Politiker in mehreren Nachrichtensendungen ausgebuht worden, nachdem irgendwelche Leute wieder die Straßen blockierten und meinten, sie würden keine Maut mehr zahlen und alle Menschen durchwinken. Am ersten Tag, an dem Kontrolleure der Verkehrsbetriebe unterwegs waren, wurde einem ins Bein geschossen, weil die Tickets einfach nicht zu bezahlen waren. Wenn man hier ohne Ticket erwischt wird, bezahlt man zuerst 84 Euro. Wenn man das nicht bezahlen kann, dann sind es über 400 Euro. Wenn man dieses Geld dann nicht bezahlt, dann kommt man ins Gefängnis. Und, ich meine, die Leute müssen ja irgendwie zur Arbeit kommen. Wenn du jeden Tag 3 Euro zahlst um zur Arbeit zu kommen, dein Lohn aber nur 560 Euro beträgt, dann hast du ein Problem. Eine weitere Sache, die dazu geführt hat, dass die Leute die Schnauze voll haben, ist die Siemens-Affäre. Dafür ist kein Schwein ins Gefängnis gegangen, trotz der vielen Schmiergelder. Aber die Leute die keinen Fahrschein zahlen, auf die wird mit dem Finger gezeigt. Tsochatzopoulus, der ehemalige Verteidigungsminister, der Schmiergelder für U-Boot Geschäfte kassiert hat, muss jetzt vor Gericht, aber der ist auch nur ein Bauernopfer.

Wie schätzt du die Gefahr der radikalen Rechten ein? Du hast ja vorher erwähnt, dass die auch an Versammlungen teilnehmen. In Österreich, aber auch in vielen anderen europäischen Ländern kann die extreme Rechte als Krisengewinnerin bezeichnet werden. Sie schüren Ressentiments und Nationalismus. Wie groß ist die Gefahr hier?

Haris: Sie haben versucht an Versammlungen teilzunehmen, wurden aber wieder raus gedrängt. Griechenland gehört zwar zu Europa, hat aber ganz andere Strukturen. Die radikale Rechte konnte in Griechenland nie als eigene Strömung agieren, weil das Programm der radikalen Rechte von beiden Mainstreamparteien adaptiert wurde, Patriotismus und Christentum. Die Rechte in Griechenland orientiert sich ähnlich der Militärdiktatur an der Dreifaltigkeit: Heimatland, Religion, und Familie und auch in der konservativen Partei gibt es Leute, die extreme Positionen vertreten. Lange Zeit war die Rechte in Griechenland extrem vorherrschend, was v.a. an der Geschichte Griechenlands liegt.

Wie verhält sich die außerparlamentarische Rechte?

Haris: Letzten Herbst 2010 wurde das Einbürgerungsgesetz verändert. In den Reden der verschiedenen Parlamentsfraktionen sagten die konservativen Abgeordneten, das Projekt der multikulturellen Gesellschaft sei gescheitert. Elaos, die rechtspopulistische Partei, hingegen hat gesagt, die Ausländer brächten Krankheiten ins Land, die verbreiten also einen radikalen Rassismus. Die außerparlamentarische extreme Rechte – „Chrysi Avgi“ – hat zum ersten Mal einen Vertreter im Athener Stadtrat. Bei seinem ersten Auftritt hat er gleich den Hitlergruß gemacht. Die stechen Leute ab, prügeln, ziehen Leute in Ecken und hauen ihnen den Schädel ein. Das ist eine extrem schlimme Situation, besonders im Zentrum von Athen. Es gibt viele MigrantInnen, die in verfallenen Häusern oder Baracken wohnen und um zu überleben Drogen verkaufen. Im letzten Mai gab es dann einen tragischen Vorfall als ein Mann seine schwangere Frau ins Krankenhaus bringen wollte. Er wollte das Auto holen und hatte eine Videokamera in der Hand, um die Geburt zu filmen. Drei Migranten haben ihn erstochen und er wurde von seiner Frau tot aufgefunden. Am nächsten Tag sind FaschistInnen durch das Zentrum gegangen und haben Jagd auf MigrantInnen gemacht. Im Athener Zentrum geben viele Menschen den Ausländern Schuld an allem. Deswegen ist es so gut, dass sich das Klima durch die Bewegung jetzt positiv verändert hat und Demokratie eingefordert wird. Demokratie heißt dann auch, dass Minderheiten Rechte haben.

Zurück zu den Entwicklungen am Syntagma-Platz. Inwiefern lassen sich die Entwicklungen in Griechenland in eine Reihe mit den Aufständen und Bewegungen in Europa sowie im Mittleren Osten einreihen? In Spanien bezieht man sich etwa auch auf die revolutionären Entwicklungen im Mittleren Osten. Wird das in Griechenland reflektiert, spielen diese Entwicklungen eine Rolle?

Haris: Die revolutionären Entwicklungen im arabischen Raum sind auf jeden Fall ein Orientierungspunkt. Aber sie sind es weniger in der politischen Debatte, auch wenn wir uns im Klaren sind, dass die Probleme ähnlich sind: Jugendarbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, große Armut unter der Bevölkerung. Die Bedingungen sind dennoch anders. Auch wenn die Polizeigewalt es nicht vermuten lässt, haben wir immer noch ein demokratisches System, also eine föderative Demokratie, und das schafft andere Interventionsbedingungen. Für die Bewegung ist wichtig zu sehen, dass wenn es die arabischen Länder geschafft haben, ihre nicht-demokratischen Regimes zu stürzen, dann schaffen wir das erst recht. Der Begriff der Revolution bzw. die Bedeutung von Revolution ist aber auf jeden Fall ein Bezugspunkt. Dass du die bestehende Ideologie sprengst, dass du sowohl in deinem Programm als auch in deinem Alltag Alternativen schaffst, indem du ein Netzwerk der Solidarität aufbaust und bereits jetzt das alltägliche Leben verbesserst. Es ist wichtig, damit die Leute sehen, dass du schon jetzt versuchst, diese gewünschte andere Welt durch Gegenbeispiele und alternative Netzwerke in deinem Alltag zu verankern. Das passiert gerade. Soziale Gerechtigkeit in Verbindung mit Demokratie – Basisdemokratie – spielt eine ganz große Rolle. Aber eben auch das Bewusstsein, dass Neoliberalismus zwangsläufig mit Repression Hand in Hand geht und die ideologische Verknüpfung von freier Marktwirtschaft und Demokratie aufgebrochen werden muss. Es wurde endgültig gezeigt, dass die beiden nicht miteinander einhergehen, sondern einander feindlich gegenüber stehen.

Was kann die Linke international bzw. in Europa eurer Meinung nach tun, um die Bewegung in Griechenland zu unterstützen?

Haris: Was ich in Deutschland sehe ist, dass sich die Diskussionen der Linken um den Versuch drehen die Mainstream-Ideologie zu entkräften und die Verantwortung Deutschlands als Exportweltmeister und hegemoniale Macht in der Europäischen Union aufzuzeigen. Aber mir wäre wichtig, dass mehr gezeigt wird, dass es nicht um Länder geht, sondern um Klassen. Es geht nicht darum, dass Deutschland Griechenland schädigt, sondern darum, dass ein bestimmtes Entwicklungsmodell die überwältigende Mehrheit der Menschen in allen Länder schädigt. Dies lässt sich auch an der arbeitsrechtlichen Situation in „Kerneuropa“ zeigen, bzw. den Ländern, die allgemein als Zentrum bezeichnet werden, zum Beispiel in Deutschland mit Hartz IV, oder auch in Frankreich. Kurz, es geht um Klassen! Diesbezüglich bin ich immer ein bisschen enttäuscht. Die Rosa Luxemburg-Stiftung hat das ganz gut gemacht hat, indem sie jetzt eine Broschüre über Mythen und Fakten der Griechenlandkrise auf Griechisch, Englisch und Deutsch herausgebracht hat und so die Leute informiert. Auch würde ich mir wünschen, dass über die Polizeigewalt mehr berichtet wird, und über die tatsächliche Repression im Alltag, die eigentlich nicht von der arbeitsrechtlichen Seite getrennt werden kann: Einerseits wird dir jegliches Recht genommen, dich gewerkschaftlich zu organisieren, gleichzeitig wird dir die Lebensgrundlage entzogen, weil dein Gehalt gekürzt wird. Du weißt nicht, was deine Kinder in Zukunft haben werden, da du kein Geld hast um ihnen eine private Schule zu bezahlen, damit sie es irgendwie an die Uni schaffen, die jetzt auch privatisiert werden soll. Andererseits werden diese Menschen durch radikale und extreme Repression von der Straße verjagt und vom Protest abgehalten. Das wird meines Erachtens nach zu wenig von der Linken thematisiert.


Haris Triandafilidou wurde in Berlin geboren und hat dort Politikwissenschaft studiert. Seit Februar 2009 wohnt sie in Athen und ist bei der Jugendorganisation von Synaspismos organisiert, die Teil des SYRIZA-Bündnisses ist.

Giorgos Saliaris lebt seit acht Jahren in Athen und hat Grafikdesign studiert.





Artikel drucken Twitter Email Facebook