Artikel drucken Twitter Email Facebook

Europa macht dicht
von Kristina Botka

Rezension: Corinna Milborn: Gestürmte Festung Europa. Einwanderung zwischen Stacheldraht und Ghetto. Das Schwarzbuch. Wien-Graz-Klagenfurt: Styria 2006. 19,90 €

Wer die Medien verfolgt, kennt unzählige Beispiele wie diese: Zehn Tote Flüchtlinge wurden vor der Insel Lampedusa aus dem Meer gefischt, sie kamen aus Nordafrika, vierzig bleiben vermisst, oder: auf den Kanaren sind in den letzten Tagen neunhundert Menschen an Land gekommen, die aus Afrika geflüchtet sind. Beinahe täglich sind Nachrichten von ausgehungerten, halb verdursteten, gekenterten oder toten Menschen zu lesen, die versucht hatten, von einem Kontinent zum anderen mittels abenteuerlich zusammen gebauter Boote in ein neues Leben zu gelangen. Auch die Berichte über Reaktionen der Regierungen sind zu vernehmen: Italienische Minister hatten in der Vergangenheit vorgeschlagen, die Flüchtlingsboote durch Bombardierung zu vertreiben, Spanien schreit nach europäischem Heer an seinen Grenzen. Menschen, die es geschafft haben, europäisches Festland zu erreichen ohne sofort wieder abgeschoben zu werden, leben oftmals in der Illegalität, in Vorstadtghettos, so wie in Paris oder in Rom, wo eine riesige Stahlmauer errichtet wurde, da die Stadtverwaltung Ausländerwohnblöcke vom Rest der Gesellschaft abgrenzen will.
Corinna Milborn, österreichische Politikwissenschafterin und Journalistin hat nun ein Buch verfasst, das sich umfassend mit der europäischen Migrationspolitik auseinandersetzt.
Milborn beginnt mit einem Besuch an den beiden einzigen europäischen Städten auf afrikanischem Boden – Ceuta und Melilla, am mittlerweile sechs Meter hohen Zaun, welcher die europäischen Außengrenzen vor den Flüchtlingen schützen soll. Sie trifft Menschen, die es geschafft haben, die erzählen wieso und wie sie gekommen sind, von unendlichen Märschen durch die Wüste, von Freunden, die von europäischen „Verteidigern“ schwer verletzt wurden und wie sie jetzt leben. Es bleibt aber nicht bei diesen Schilderungen. Milborn analysiert, wie Europas Markt von den Clandestinos, den Illegalen, profitiert. Denn während die Flüchtlinge unter Müllhalden-ähnelnden Zuständen leben müssen und ständig Angst vor der Abschiebung haben, verrichten sie durch Obst- und Gemüseernte in den Plastikstädten Spaniens (riesige Flächen von Land werden so zu Anbaugebiet für Tomaten, Erdbeeren, Salat etc, die sich in unseren Lebensmittelgeschäften wieder finden) eine Arbeit, die kaum ein Mensch freiwillig machen würde. Der Lohn beträgt wenige Euro in der Woche, und wenn er einmal nicht ausbezahlt wird, kann sich niemand beschweren, denn sonst droht jederzeit die Abschiebung.
Arbeitszeit und Arbeitsumstände sind unter jeglichen europäischen Rechtsstandards – mit der Vision, der Familie in Afrika ein wenig Geld zukommen lassen zu können nehmen die Flüchtlinge aber alles auf sich – und europäische Unternehmen profitieren davon.
Aber nicht nur im fernen Spanien, sondern auch in Deutschland oder Österreich lebt die Wirtschaft davon, dass Menschen ohne jegliche arbeitsrechtliche Absicherung in der Bauwirtschaft, Gastronomie oder zuletzt aktuell geworden – für häusliche Hilfe wie Pflege von Alten hier arbeiten. Diese Menschen, für die jede Fahrscheinkontrolle oder jedes Gespräch mit der Nachbarin mit Angst vor Entdeckung verbunden ist, haben im Krankheitsfall keine Möglichkeit, in ein Krankenhaus zu gehen, sie können kein Konto eröffnen oder sich versichern lassen. Sie sind recht- und schutzlos und werden sich deshalb auch hüten, beim Arbeitgeber Forderungen einzubringen. Dazu sagt Carmela, eine in Wien illegal Arbeitende, mit der sich Milborn trifft: „Ich schätze, dass zumindest die Hälfte der Lokale in Wien Illegale beschäftigt, vielleicht auch alle. Wir sind ja auch sehr praktisch.“ Auch das Beispiel der VOEST, bei der Arbeiter entdeckt wurden, die 60 Wochenstunden illegal arbeiten mussten, dafür 1,30 Euro in der Stunde erhielten, während nach Kollektivvertrag mindestens 10,50 bezahlt werden müssten, zeigt, wie Unternehmen von der misslichen Lage der Flüchtlinge profitieren. Das sind die Arbeitsplätze also, die den „Inländern“ weggenommen werden?
Würde ganz Europa, so wie es sich so mancher Politiker wünscht, von einem Tag auf den Anderen ohne die illegal hier arbeitenden Menschen auskommen müssen – es stände wohl für einige Tage still. So argumentiert der Ökonom Friedrich Schneider im Buch: „Die Schattenwirtschaft ist der dynamischste Wirtschaftszweig“, und damit gehe auch ein Wachstum der offiziellen Wirtschaft einher. Ein Anthropologe kommt auch zu Wort und argumentiert, wie nützlich für die Neoliberalen diese Situation ist: „Sie fordern möglichst fügsame und flexible Arbeitskräfte, die keinerlei sozialen Schutz genießen und nicht fest gebunden sind… Ausländer ohne gültige Papiere erhalten keinen Mindestlohn und verursachen keine Sozialkosten, da sie von jeder Sozialversicherung ausgeschlossen sind. ..man kann sie hinauswerfen, wann man will. Es sind Arbeitskräfte, die nach Strich und Faden ausgebeutet werden können und genau den Vorstellungen der liberalen Wirtschaftsfachleute entsprechen.“ Er schlussfolgert: „In Wirklichkeit toleriert der Staatsapparat die illegalen Arbeitsmärkte.“
Nun geht es aber in Milborns Buch nicht in erster Linie um die Situation der Illegal in Europa lebenden, sondern um sämtliche mit Migration und Politik aktuell wichtige Themen: So genannte gespaltene Gesellschaften, wie sie entstehen und wie Menschen in einer Gesellschaft leben, die sie nicht haben will. Dabei trifft sie junge Muslime in englischen Vorstädten und es wird nachvollziehbar, woher die von den Medien so genannten „Terrorzellen“ kommen. Jugendlichen wird der Zugang zum Bildungssystem erschwert oder verwehrt, Familien müssen in heruntergekommenen Siedlungen leben, die eigene geschaffene Identität wird so immer wichtiger, da die „neue“ Heimat eben keine anbietet. Auch aktuelle Entwicklungen seit dem „War on Terror“, nehmen so im Buch eine wichtige Rolle ein und die Gespräche die die Autorin mit den jungen ImmigrantInnen in London führt, machen in ihren Aussagen deutlich, wo auch innerhalb der europäischen Grenzen die Regierungen versagt haben.
Schnell wird klar: Es ist nicht die Einwanderung, die Probleme schafft, sondern es ist der politische Umgang damit.
Die Autorin bringt in ihren Argumenten immer wieder aktuellste Beispiele aus Nachbarländern und aus Österreich (welches bekanntlich das restriktivste Staatsbürgerschaftsgesetz im EU-Vergleich hat), sie geht auf die Menschen ein, konzentriert sich dabei auch auf Themen wie „Frauen zwischen den Welten“. Dabei kommt klar zum Ausdruck, wie es passieren konnte, dass Frauenunterdrückung – durchaus ein Wesensmerkmal der europäischen Gesellschaft – plötzlich zu einer barbarischen Eigenheit muslimischer Einwanderer deklariert wurde. Ein heikles Thema, um das Linke oftmals einen Bogen machen. Nur das Argument „Nicht nur in Familien mit migrantischem Hintergrund gibt es Frauenunterdrückung“ hilft den betroffenen Frauen noch nicht. Milborn kritisiert, dass so Missstände innerhalb von Familien anderer Religion oder Kultur verdeckt werden, wenn es nur mehr darum gehen kann, sie vor rassistischen Pauschalisierungen verteidigen zu müssen. Sie fordert, die Probleme dieser Frauen wie die von gleichwertigen Menschen mit gleichwertigen Rechten zu behandeln und nicht, wie die Probleme von irgendwelchen „Anderen“. Sie weist aber dennoch darauf hin, dass eben durch die fremdenfeindliche Stimmung in Europas Politik genau das nicht möglich ist, sondern Frauen einmal mehr als Objekt herhalten müssen, in diesem Fall, um die Thematik so genannter „traditionsbedingter Gewalt gegen Frauen“ zu instrumentalisieren.
Zusammenfassend handelt es sich hier um ein Buch, das – untermauert durch viele Beispiele – für heutige Debatten um Integration, Einwanderung, europäische Interessen und Auswirkungen auf die Gesellschaft in und außerhalb Europas, viele spannende Fragen behandelt.





Artikel drucken Twitter Email Facebook