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Editorial
von Redaktion Perspektiven

Erinnert sich noch jemand an den Klassenkampf? Via Facebook vernetzte Revolutionen werfen die herrschenden Verhältnisse in Nordafrika und Westasien um, und im krisengeschüttelten Island wird ein Fernsehkomiker, der versprach, nur mit Parteien eine Koalition zu bilden, deren Mitglieder alle Folgen der TV-Serie „The Wire“ gesehen haben, Bürgermeister von Reykjavik. Wir sehen: „Everything under heaven is in utter chaos: the situation is excellent“, wie Slavoj Žižek mit, ausgerechnet, Mao Zedong, jüngst feststellte.
Aber was hat der Klassenkampf, diese Antiquität aus dem analogen Zeitalter, mit dieser Unordnung zu tun? Eine Menge, finden wir – und wollen mit dieser Ausgabe daran erinnern, dass soziale Kämpfe und politische Auseinandersetzungen, so lange sie unter kapitalistischen Bedingungen stattfinden, immer – auch – Klassenkämpfe sind.

Umgekehrt scheint für MarxistInnen der Bezug auf das Konzept der gesellschaftlichen Klassen oft selbstverständlich, ist doch die bisherige Geschichte, wie Marx und Engels im kommunistischen Manifest schrieben, nichts anderes als die Geschichte der Klassenkämpfe. Diese Überzeugung ist Ausgangspunkt marxistischer Theorie, Analyse und politischer Praxis, hebt marxistische von anderen – auch radikalen – politischen Positionen ab und wirkt nicht zuletzt identitätsstiftend. Bei genauerer Betrachtung zeigt
sich jedoch, dass mit der Beschreibung der Gesellschaft als Klassengesellschaft selbst noch nichts erklärt ist. Hinter der scheinbaren Evidenz der Konzepte „Klasse“, „Klassenkampf“ und „Klassenverhältnisse“ verbergen sich komplexe Probleme, die ein offenes, undogmatisches marxistisches Projekt nicht hinter Slogans und Politiken der Selbstvergewisserung verschwinden lassen darf. An der Uni, in Diskussionen unter Polit-AktivistInnen oder in der WG-Küche heißt, die Gesellschaft als Klassengesellschaft zu benennen oft, sich den Vorwürfen des „Reduktionismus“ oder „Ökonomismus“ auszusetzen. Manchmal nicht zu Unrecht, und
doch gilt es unserer Meinung nach zu zeigen, dass ein Ansatz, der Gesellschaft als Geschichte von Klassenkämpfen versteht, vielfältige und komplexe Widersprüche und Dynamiken begreifen und gegebenenfalls auch Einsichten anderer Theorietraditionen integrieren kann. Das ist der zweite, zugegeben: hoch gesteckte, Anspruch dieses Schwerpunkts.

Der Auftakt des Hefts ist brandaktuell: Wir stellen unsere von Ramin Taghian ausgearbeiteten Thesen zur, man wagt es kaum auszusprechen, ägyptischen Revolution vor. In der Einschätzung den Kräfteverhältnisse innerhalb der Bewegung zeigt sich auch, was eine klassentheoretisch informierte Perspektive in der konkreten Analyse der konkreten Situation leisten kann. Die theoretischen Grundlagen eines solchen Zugangs behandeln Katherina Kinzel und Hanna Lichtenberger. Sie diskutieren, wie aus einer an Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie anknüpfenden Perspektive das „Problem der Mittelklasse“ bearbeitet werden kann. Benjamin Opratko nimmt die Uni-Poteste der letzten Jahre zum Anlass, um danach zu fragen, wie Kämpfe von Studierenden aus klassentheoretischer Sicht verstanden werden können. Sind sie ohnehin „WissensarbeiterInnen“ und ihre Kämpfe demnach Klassenkämpfe, wie manche AktivistInnen argumentieren?
Ein historisches Beispiel für die komplexe Dynamik, die Klassenkämpfe annehmen können, präsentiert Colin Barker mit dem Aufstieg und Scheitern der Solidarnosc-Bewegung. Vor genau dreißig Jahren kämpften polnische ArbeiterInnen gegen die staatskapitalistische Bürokratie und für die Einlösung der Versprechungen des Sozialismus. Der Abschluss des Schwerpunkts ist zugleich die Fortführung unserer in Perspektiven Nr. 12 begonnenen Artikelserie zu marxistischen Krisentheorien. Dazu haben wir einen, auch innerhalb der Gruppe Perspektiven, kontrovers diskutierten Artikel von Harry Cleaver erstmals ins Deutsche übersetzt. Da der Beitrag für unser Magazinformat zu umfangreich ist, haben wir ihn zweigeteilt; wer gerne Micky Maus-Hefte gelesen hat, kann sich also auf eine vertraute Formel freuen: Fortsetzung folgt in nächsten Heft!

Außerhalb des Schwerpunkts haben wir Stellungnahmen von Aktivistinnen aus verschiedenen feministischen Zusammenhängen über die Aktionen und Diskussionen zum Internationalen Frauentag eingeholt, der heuer zum einhundertsten Mal stattfindet.

Während auf Ländern wie Bolivien und Venezuela die Hoffnungen vieler Linker ruhen, bleibt Kolumbien das
konservative und US-treue Bollwerk des Kontinents. Sebastian Muhr, Julia Hofmann, Tobias Zortea und Tobias Boos beschäftigen sich vor diesem Hintergrund mit der schwierigen Situation der kolumbianischen Linken.

Philipp und Stefan Probst schließlich politisieren ihre Vorliebe für schnelle Gitarrenmusik und erzählen die Geschichte von jungen Punks, die nicht trinken, rauchen und rumvögeln wollten. In der Auseinandersetzung mit der Straight Edge-Bewegung werfen sie eine Reihe grundsätzlicher Fragen zum Verhältnis von Politik und Jugendkultur auf.

Rezensionen gibt’s auch: zu chinesischen WanderarbeiterInnen, politikwissenschaftlicher Geschlechterforschung, neoliberalen Gefängnissen, marxistischer Gesellschaftstheorie und, jawohl, zu Mao Zedong. Womit dieses Perspektiven-Editorial das erste und vermutlich letzte ist, in dem der ehemals Große Vorsitzende gleich zwei Mal vorkommt.

In diesem Sinne: Lest, diskutiert, klassenkämpft – und teilt uns eure Meinung mit, am besten via kontakt@perspektiven-online.at!

Eure Perspektiven-Redaktion





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