Artikel drucken Twitter Email Facebook

Bewegte Bilder – Zur Politik des österreichischen Dokumentarfilms
von Reinhard Lang und Benjamin Opratko

Ukrainische KohlebergarbeiterInnen, südspanische Tomatenplantagen und erschreckend große Fische im ugandischen Viktoriasee haben seit letztem Jahr etwas gemeinsam. Sie sind einige der ProtagonistInnen einer bemerkenswerten Entwicklung, die in jüngster Zeit Österreichs Kinos erfasst hat. Reinhard Lang und Benjamin Opratko über das Phänomen des politischen Dokumentarfilms in Österreich.

Spätestens seit der Oscar-Nominierung von Hubert Saupers Studie über Auswirkungen der neoliberalen Globalisierung auf das Leben an der Binnenseeküste Tansanias, „Darwin’s Nightmare“, ist ein Trend offensichtlich geworden, der mit einer Reihe weiterer Filme österreichischer RegisseurInnen verbunden ist. Michael Glawoggers „Workingman’s Death“ und Erwin Wagenhofers „We feed the World“ gehören dazu ebenso wie die deutlich kleineren Produktionen „Operation Spring“ von Angelika Schuster und Tristan Sindelgruber oder die Arbeit von Thomas Korschil und Eva Simmler über die brisante Debatte um zweisprachige Ortstafeln in Kärnten, „Artikel 7 – unser Recht“, deren Ausstrahlung der ORF wohl aus politischen Gründen in letzter Sekunde verweigerte. Bemerkenswert ist nicht allein die Tatsache, dass diese Filme produziert werden – sie sind auch noch außergewöhnlich erfolgreich und begeistern KinobetreiberInnen, Publikum und KritikerInnen gleichermaßen. „Workingman’s Death“ wurde unter anderem bei der Biennale in Venedig gezeigt, war nominiert für den Europäischen Filmpreis und gewann Preise bei Festivals in Leipzig, London, Gijon und Toronto. Ebenso international hochgelobt ist „We feed the World“, der mit derzeit 180.000 BesucherInnen erfolgreichste österreichische Dokumentarfilm aller Zeiten; und „Darwin’s Nightmare“ hat es bekanntlich bis in die ehrwürdigen Hallen des Kodak Theatre in Hollywood geschafft (auch wenn er sich dort der erstaunlich belanglosen „Reise der Pinguine“ geschlagen geben musste). Vielleicht am wichtigsten – jedenfalls aber für uns interessant –, ist die Tatsache, dass diese Filme Eingang in öffentlichen Debatten gefunden haben oder solche erst losgetreten haben. Es sind Filme, die explizit politische Themen aufgreifen, die Stellung beziehen, und die diskutiert werden. Grund genug, sich mit dem „Phänomen politischer Dokumentarfilm“ näher zu beschäftigen.

Globale Brüche…

Wir wollen nicht aus den Augen verlieren, dass es sich dabei nicht nur um ein „österreichisches“ Phänomen handelt. Seit einigen Jahren erregt das Genre der „Politdokus“ – politische und im besten Sinne „parteiische“ Dokumentarfilme – international Aufmerksamkeit. Prominentestes Beispiel ist sicherlich Michael Moore, der mit seinen provokativen Arbeiten über den Zustand US-amerikanischer Politik und Gesellschaft – vor allem „Bowling for Columbine“ und der oscarprämierte „Fahrenheit 9/11“ – zum gefeierten Helden der globalen Linken aufstieg. Ebenso global wie die Filme und ihr Publikum sind auch die Entstehungsbedingungen dieser Filme. Spätestens seit Ende der 1990er Jahre ist der Post-1989-Konsens, der die Menschheit in der „besten aller möglichen Welten“ vermutete und das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) beschwor, brüchig geworden. Bald wurde immer offensichtlicher, dass die existentiellen politischen Probleme von der gegenwärtigen Weltordnung nicht nur nicht gelöst, sondern im Gegenteil noch verschärft werden. Die Hoffnung auf eine Ära des Friedens wurde unter Schutt- und Leichenbergen im ehemaligen Jugoslawien, im Irak, in Ruanda und anderswo begraben. Bilder von verhungernden Kindern und ganzen Landstrichen, die von AIDS entvölkert werden sind heute ebenso Teil des Alltagssinns großer Teile der Weltbevölkerung wie die Zerstörung der Umwelt, globale Erderwärmung und Knappheit an Trinkwasser inklusive. Und schließlich sind es auch die ökonomischen und sozialen Krisen in den „entwickelten“ Ländern des reichen Nordens, die Armut und Arbeitslosigkeit zu realen Bedrohungsszenarien machen, während Großkonzerne Rekordgewinne schreiben und die Gehälter von CEOs und TopmanagerInnen sich in astronomische Sphären bewegen.

…produzieren Öffentlichkeit

Diese globalen Entwicklungen haben die politische Landschaft überall auf der Welt nachhaltig verändert. Während noch in der 1980er Jahren bürgerliche IdeologInnen die „großen Erzählungen“ am Ende wähnten und Politik auf das Management konkurrierender Individuen reduzierten, konnte eine Dekade später festgestellt werden: Die „Big Issues“, die großen Themen der politischen Debatte sind zurück! Zwei Ereignisse stehen stellvertretend für den Beginn dieser Bewegung: Der Aufstand der Zapatistas 1994 in Chiapas/Mexiko, deren Aufschrei gegen die neoliberale Globalisierung um die Welt ging; und die Großdemonstration in Seattle 1999 gegen das Treffen der Welthandelsorganisation WTO, wo eine bis dahin undenkbare Allianz aus jungen AktivistInnen, die sich gegen Umweltzerstörung, Rassismus, die Ausbeutung der „Dritten Welt“ oder Sexismus engagieren, Teilen der radikalen Linken und organisierten ArbeiterInnen die HerrscherInnen der Welt überraschte. Seitdem findet bekanntlich kein Treffen der globalen Eliten – ob WTO, IWF, Weltbank, NATO, G8 oder EU – ohne Gegenveranstaltungen statt, bei Sozialforen auf globaler, kontinentaler, nationaler und regionaler Ebene wird regelmäßig über Politik und Strategien der Bewegung diskutiert, die sich den Slogan „Eine andere Welt ist möglich!“ auf die Fahnen geschrieben hat, und die Proteste gegen den Irak-Krieg im Frühjahr 2003 zeigten auf beeindruckende Weise, dass Millionen Menschen in aller Welt von den Entwicklungen der letzten Jahre politisiert wurden. Wenn auch über die konkreten Erfolge und Misserfolge der einzelnen Bewegungen noch diskutiert werden muss, ist ein Produkt dieser globalen Entwicklung doch offensichtlich: eine globale, kritische Öffentlichkeit, die Politik weder ökonomischen Eliten noch SpitzenpolitikerInnen überlassen will, für die die „großen Fragen“ der Politik heute wieder auf der Tagesordnung stehen, und die politische Debatten in alle Bereiche der Gesellschaft trägt. Vor diesem Hintergrund muss der politische Dokumentarfilm diskutiert werden. Es sind genau die „großen Fragen“ der Politik, die von diesen Filmen angesprochen werden, es ist die neue kritische Öffentlichkeit, die den Filmen ihr Publikum gibt, und es sind die Veränderungen im alltäglichen Bewusstsein, die den Resonanzraum schaffen, in dem die Filme und ihre Themen diskutiert werden – auch in Österreich. Ein Blick auf die drei prominentesten Beispiele aktueller politischer Dokumentarfilme aus Österreich zeigt deutlich deren globale Perspektiven und Ansprüche.

Workingman’s Death: Arbeit einst, jetzt und dann?

In seinem Film „Workingman’s Death“ wollte Michael Glawogger eigentlich ein Kapitel den Linzer Stahlwerken der VOEST widmen. Doch das Management wollte nicht, weg vom Schwerarbeiter-Image war die Begründung. Glawogger stellt die bezeichnende Frage nach dem Verschwinden der Sichtbarkeit manueller Arbeit. Arbeit, die an die körperliche Substanz geht, die jeden Muskel des Körpers fordert und kaputt macht. Somit auch jene Form der Arbeit, die als Mythos einer Klasse, der Klasse der ArbeiterInnen, gilt. Die erste der sechs Episoden dreht sich entsprechend um den Mythos des Aleksej Stachanov. Dieser holte angeblich 1935 im größten Kohleabbaugebiet der Welt das 14-fache der vorgegebenen Arbeitsnorm der Sowjets. Einst der Stolz der stalinistischen Weltmacht, heute Teil der Ukraine und einer der devastiertesten Flecken Erde in Europa ist Donbass heute heruntergekommen und verlassen, doch abgebaut wird noch immer. Längst aufgegeben von Staat und Wirtschaft schürfen Menschen autark und auf sich allein gestellt in 30 cm hohen Schächten nach Kohle für ihr tägliches Überleben. Mit denselben Mitteln wie zu Stachanovs Zeiten.
In Indonesien begleitet Glawogger Schwefelarbeiter, die täglich den Vulkan Kawa Ijen besteigen, umhüllt von giftigen Dämpfen Schwefelplatten aus dem Krater schlagen um anschließend jeweils 70 – 120 kg dieser Brocken zu Tale zu tragen. Die Arbeiter sind Teil der touristischen Attraktion geworden, wer den Vulkan besucht will auch die Schwefelarbeiter sehen. Maschinen kommen nicht zum Einsatz, die Kosten-Nutzen-Rechnung spricht dagegen.
In zwei weiteren Kapiteln widmet sich Glawogger einem riesigen Schlachthof in Port Harcourt (Nigeria) sowie einer pakistanischen Werft, in der gigantische, ausrangierte westliche Tanker zerlegt werden. Vier mal entführt und fesselt Workingman’s Death mit einer filmerisch beeindruckenden Ästhetik ans Ende der Welt, an Orte der Trostlosigkeit und Arbeit wie sie in unserer Gesellschaft nur mehr in den Geschichtsbüchern zu finden ist. Doch wie schaut die Zukunft aus? Hier wirft der Film zunächst einen Blick ins aufstrebende China. In den Stahlwerken in Anshan hält die Moderne Einzug. Technologie löst reine Muskelkraft ab. Kapitalismus fordert Entlassungen. Ein China im Aufbruch verbunden mit dem Glauben an eine wunderbare Zukunft, vergleichbar mit dem Boom in Nachkriegs-Deutschland. Nach Deutschland führt uns auch die abschließende Episode. Der „Epilog“ zeigt das ehemalige Hüttenwerk Duisburg-Meidrich im Ruhrgebiet. Hier wurde eins Stahl erzeugt, heute ist es ein Freizeitpark. Workingman’s Death spielt mit der Arbeiterästhetik längst vergangener Zeiten., sucht Arbeit die in dieser Form für uns fremd und skurril erscheint, als Relikt vergangener Zeiten und stellt dabei die brandaktuelle Frage nach der Zukunft des „bewussten Stoffwechsels mit der Natur“.1

We Feed the World und Darwin’s Nightmare: Viel Fisch, viel Fleisch

Woher kommen unsere Lebensmittel? Wie wächst unser Gemüse auf? Sind unsere Hendlhaxen wirklich glücklich? Gibt es noch „Landwirtschaft“ oder ist sie nicht schon Teil einer Industrie, in der Nahrung genauso produziert wie in einer Fabrik oder abgebaut wie in einem Bergwerk wird? Das sind die Fragen, denen der Film „We feed the world“ auf den Grund gehen möchte. Das Ergebnis ist eine Irrfahrt durch europäische Schauplätze und bis zu Soja Bauern in Brasilien, wo Kinder Hunger leidend neben für europäische Viehzucht bestimmten Sojafeldern aufwachsen, die nach Greenpeace Schätzungen zu 60% aus genmanipulierten Organismen bestehen. In Rumänien erklärt Karl Otrok von Pioneer, dem weltgrößten Saatgut-Konzern, zwischen Melanzanifeldern: „Wir sollten uns damit anfreunden, dass es eigentlich keine Lebensmittel mehr gibt, die gentechnik-frei sind.“ In der Steiermark begleitet man den generalstabsmäßig geplanten achtwöchigen Zyklus zur Aufzucht unserer Speisehühner, in Spanien taucht man ein in unendliche Weiten von Gewächshäusern, Tomaten das ganze Jahr und für ganz Europa. Die Devise lautet überall gleich: Profit ist alles, Geschmack ist nichts. Der Film dagegen hinterlässt Geschmack: intensiv bitter bleibt er auch lange nachdem man etwa erfahren hat, dass in Wien täglich soviel Brot vernichtet wird, wie eine Stadt der Größe von Graz täglich benötigt.

In Hubert Saupers „Darwin’s Nightmare“ beginnt alles mit einem wissenschaftlichen Experiment. In den 1960er Jahren wurde in den Victoria See eine fremde Fischart eingesetzt, der Nilbarsch. Nach drei Jahrzehnten sind die ursprünglichen 400 Fischarten ausgerottet und die Filets des Fremdlings der Exportschlager in alle Welt. Die Konsequenzen sind vielfältig, der Fisch wird exportiert während Hunger herrscht, Flugzeuge holen den Fisch ab und kommen aus Europa mit Waffen für die Kriege Afrikas. „Darwin’s Nightmare“ könnte ich in Sierra Leone erzählen, nur wäre der Fisch ein Diamant, in Honduras eine Banane, und in Angola, Nigeria oder Irak, schwarzes Öl.”, so Hubert Sauper. Der Film zeigt so exemplarisch, wie die Abhängigkeit der Peripherie vom Zentrum funktioniert, nach den Spielregeln des globalisierten Kapitalismus.

Was kann die Doku? Film und Politik

Die Filme greifen lebendige und relevante Debatten auf: Verschwindet die ArbeiterInnenklasse? Woher kommt die Hungerkrise? Wie wird der afrikanische Kontinent systematisch „unterentwickelt“? Die Form des Dokumentarfilms bietet dazu eine Möglichkeit zur Intervention mit Vor- und Nachteilen. „Meiner Meinung nach ist es so, dass der Spielfilm mit dem arbeitet, wie das Leben sein könnte. Und der Dokumentarfilm arbeitet mit dem, wie das Leben ist“, meint „We feed the World“-Regisseur Erwin Wagenhofer. Dokumentarfilm ist damit der Versuch eines Abbildes von Realität, damit aber auch immer Reduktion, Zurichtung der Realität. Ein Bild hat immer eineN AutorIn, der Blick ist immer jener des/der FilmemacherIn. Darin liegen die Schwächen und Stärken des Dokumentarfilms. „Wie das Leben ist“, dazu gibt es verschiedene Perspektiven und Meinungen, Dokumentarfilm leistet einen Beitrag zu diesen Debatten und bereichert sie. Einerseits wird so grundsätzlich Aufmerksamkeit geschaffen, auf Themen fokussiert und Anstoß zur Debatte gegeben. Die in den Filmen aufgegriffenen Argumente werden diskutiert, im Alltag und in Medien, aber auch die FilmemacherInnen stellen sich der Auseinandersetzung – beispielsweise bei Podiumsdiskussionen. Die große Stärke des Dokumentarfilms liegt wohl wörtlich in den möglichen neuen Sicht-Weisen auf Themen, in der Macht des Bildes. Andrerseits lässt der Dokumentarfilm den/die BetrachterIn mit den gezeigten Missständen alleine. Im Aufzeigen von Perspektiven und Lösungsansätzen weisen sich die Schwachpunkte des Mediums, dies ist somit auch nicht der Anspruch, der an politischen Dokumentarfilm gestellt werden sollte. Die Möglichkeiten, Perspektiven aufzuzeigen verschwinden zur Gänze (wie bei „Workingman’s Death“ und „Darwin’s Nightmare“) oder beschränken sich zumeist auf verbale Mittel – wobei die Frage, wer zu Wort kommen darf, dabei stets heikel bleibt.
Die Möglichkeiten und Beschränkungen des politischen Dokumentarfilms stecken somit die Grenzen der Rezeption der Filme ab. Sie können und sollen als Interventionen in politische Debatten verstanden und diskutiert werden. Das bedeutet auch, Argumente der Filme – ob explizit ausgesprochen oder implizit vorhanden – kritisch zu überprüfen und zu kommentieren. In „We Feed the World“ nimmt beispielsweise Jean Ziegler, linksliberaler Intellektueller und UN-Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf Nahrung, die Rolle des Kommentators ein – und füllt sie eher mit leeren Phrasen als echten Handlungsperspektiven. „Workingman’s Death“ muss sich den Vorwurf gefallen lassen, mit seinen ästhetisierenden Bildern Drecksarbeit zu romantisieren und Distanz zu stachanowschen Mythen vermissen zu lassen, oder durch die Anordnung der Episoden eine logische Entwickling hin zu einer „schwerelosen“ Ökonomie zu suggerieren: Den peripheren Orten, wo Menschen noch physisch schuften müssen, weist das chinesische Stahlkombinat den Weg in die Zukunft – den ChinesInnen wiederum der Duisburgische Vergnügungspark. Hier steckt die Politik, die Botschaft in der Ästhetik – auch dorthin muss politische Kritik zielen. Gleichzeitig aber kann der Anspruch an Dokumentarfilme – und gleiches gilt für Spielfilm, Literatur, Musik oder bildende Kunst – nicht sein, politische Programme zu formulieren. Stattdessen ist es notwendig, Politdokus als Teil der gesellschaftlichen Debatten zu begreifen, die zu aktiver Politik und der Veränderung der von ihm dargestellten Gegenwart führen können. Filme wie jene von Glawogger, Wagenhofer und Sauper und viele kleinere Produktionen können so die ernsthafte Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdienen und zeigen, dass auch am kleinen, ruhigen Österreich die globale Dynamik nicht spurlos vorüberzieht.

Anmerkungen

1 „Die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert.“ (Karl Marx: Das Kapital I, MEW 23: 192)





Artikel drucken Twitter Email Facebook