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Rebellion in Wisconsin
von Joe Grim Feinberg

Joe Grim Feinberg berichtet von den größten ArbeiterInnenunruhen seit den 1930er Jahren in den USA. ArbeiterInnen und AktivistInnen kämpfen in Madison, der Hauptstadt des US-Bundesstaates Wisconsin, gegen die Pläne von Gouverneur Scott Walker, der nicht nur das Budget auf Kosten von LehrerInnen saniert, sondern gleich die gewerkschaftlichen Rechte aller Staatsbediensteten einkassiert.

FreundInnen, KollegInnen,

Ich hoffe, ihr habt inzwischen alle von der ArbeiterInnenrebellion gehört, die seit einigen Wochen in Wisconsin abläuft. In den landesweiten Zeitungen hat sie (z.B. in Tschechien und der Slowakei) nur wenig Niederschlag gefunden, aber in den englischsprachigen Nachrichten ist sie weltweit prominent. Ich schreibe, um eure Solidarität anzuregen.

Hintergründe (falls ihr sie noch nicht kennt, ansonsten überspringt sie):
Der US-Bundesstaat Wisconsin, historisch ein wichtiges Zentrum der fortschrittlichen Bewegungen und der organisierten ArbeiterInnenschaft in den USA, befand sich an der Spitze der reaktionären Wahlen 2010. Der Staat wählte einen neuen Gouverneur, Scott Walker, der erst damit bekannt wurde, dass er sich weigerte, Geld von der Obama-Regierung anzunehmen, das dafür gedacht war, eine Passagier-Eisenbahnlinie zwischen der Hauptstadt von Wisconsin, Madison, und der größten Stadt des Bundesstaates, Milwaukee zu bauen (und damit Madison an das bestehende landesweite Eisenbahnnetz anzuschließen). Er hatte mit der Notwendigkeit von Sparmaßnahmen argumentiert, und ist dann auf die brillante, kostensparende Idee gekommen, das Geld für die Eisenbahn umzuleiten in die Instandhaltung von Straßen (siehe dazu sein Video – traurig, aber wahr). Danach beschloss er, die Steuern für Unternehmen und die Reichen zu senken und danach erklärte er öffentlich und panisch, der Staat habe kein Geld. Er schlug ein Gesetz vor, das natürlich die Gehälter und Renten der öffentlich Beschäftigten im Staat stark gekürzt hätte; aber er fügte etwas hinzu, das er in seiner Wahlkampagne niemals erwähnt hatte: Er wollte nicht nur die Kosten senken, sondern auch die Rechte der Arbeitenden beschneiden. Das vorgeschlagene Gesetz würde die gewerkschaftliche Organisierung ernsthaft beschneiden, beispielsweise wäre es öffentlich Bediensteten nicht mehr erlaubt, kollektiv über Arbeitsbedingungen oder Renten zu verhandeln.

Als der Plan öffentlich wurde (ursprünglich war er in einem kleinen “Budgetanpassungs”gesetz versteckt), organisierten die Gewerkschaften in Wisconsin den Protest, der zu einer zweiwöchigen Besetzung des Kapitolgebäudes (in Madison) anwuchs. Ehe unlängst der Zugang zum Gebäude eingeschränkt wurde, kampierten hunderte, vielleicht tausende Menschen im Gebäude, nahmen an ständigen Debatten über das Gesetz teil und erhielten gespendetes, von UnterstützerInnen aus der ganzen Welt bestelltes Fast Food. (Wegen der fortschrittlichen Geschichte von Wisconsin war das alles legal; die Öffentlichkeit hatte das Recht auf freien Zugang zu den Regierungsgebäuden, ehe der Staat am letzten Wochenende dieses Gesetz änderte.) Viele LehrerInnen an öffentlichen Schulen streikten spontan. Im ganzen Land gab es Solidaritätsdemonstrationen. Und an zwei Samstagen hintereinander gab es in Madison Demonstrationen mit 70.000 – 100.000 TeilnehmerInnen, von denen die meisten Basismitglieder der Gewerkschaft der öffentlich Bediensteten von Wisconsin waren, darunter viele graduierte, bei der Universität von Wisconsin angestellte StudentInnen (in Milwaukee und Madison), die ich als Mitglieder der American Federation of Teachers kenne, der auch meine Gewerkschaft der graduierten StudentInnen von Chicago angehört.

Aber der Kampf hat die Unterstützung von ArbeiterInnen und AktivistInnen im ganzen Land erhalten, darunter mehrere meiner FreundInnen aus Chicago, die in Madison mitgemischt haben. Die Situation ist sowohl aufregend als auch erschreckend. Wenn das vorgeschlagene Gesetz in Kraft tritt, dann bedeutet das eine beispiellose Niederlage für die organisierten ArbeiterInnen in den USA, und mehrere andere Bundesstaatsregierungen haben bereits ähnliche Pläne vorgeschlagen. Wenn der Plan in Wisconsin durchgeht, werden diese anderen Bundesstaaten sicher versuchen, auf dem Erfolg der Regierung Walker aufzubauen. Es liegt nahe, dass darüber hinaus den gewerkschaftsfeindlichen Kräften überall Hoffnung und Eingebung erwachsen würde.

Aber so beispiellos das vorgeschlagene Gesetz ist, so beispiellos ist das Ausmaß der Opposition dagegen. Die gegenwärtige Rebellion könnte die größte ArbeiterInnenunruhe in den Vereinigten Staaten seit den 30er Jahren werden. Und es gibt eine große Wahrscheinlichkeit, dass sie anwachsen wird. Eine der wichtigsten Gewerkschaften in Wisconsin hat einstimmig einen Aufruf zu einem nationalen Generalstreik angenommen für den Fall, dass das Gesetz durchgeht. Es hat noch nie einen nationalen Generalstreik in den USA gegeben – unter anderem wäre er illegal – aber ich habe noch keineN GewerkschaftsagitatorIn oder FührerIn sich gegen diese Idee aussprechen gehört, trotz ihres üblicherweise moderaten, sogar konservativen Zugangs bei der Organisierung (von Streiks). Und weiter: die Polizeigewerkschaft von Wisconsin hat eine Unterstützungserklärung für die Proteste veröffentlicht und gefordert, dass das Kapitol offen bleiben muss, und sie hat ihre Mitglieder dazu aufgerufen, sich den DemonstrantInnen, die im Gebäude übernachten, anzuschließen – und das, obwohl Walker vorgeschlagen hat, dass das Gesetz die Polizeigewerkschaften (und die der Feuerwehren) nicht betreffen soll. Das könnte das erste Mal in der Geschichte der USA, zumindest in dieser Größenordnung, sein, dass die Polizei offen den Anordnungen ihrer Vorgesetzten trotzt, gegen ArbeiterInnenproteste vorzugehen. Zusätzlich kam wichtige moralische Unterstützung von mehreren Mitgliedern der Green Bay Packers, dem Football-Team von Wisconsin, das Ende Jänner die Super Bowl gewann, und das, sowas gibt es, eine Non-Profit-Organisation ist, die ihren Fans gehört (ich spreche über American Football, mit Helmen und sonderbar geformten Bällen; die Super Bowl ist die oberste Klasse der Meisterschaft).

Es gab andere, farbenfrohe Vorfälle, die zumindest gute Geschichten abgeben. Ein rechter (republikanischer) Abgeordneter von Wisconsin beging den Fehler, sich frühzeitig darüber zu mokieren, dass seine KollegInnen bloß versucht hätten, die Regierungsfinanzen in den Griff zu bekommen, und „plötzlich ist es, als ob Kairo nach Madison gekommen wäre“. Egal ob die JournalistInnen die Idee von ihm hatten oder von selbst darauf kamen, fast jede Zeitung hat sich seither auf dieses Thema gestürzt. Es gibt zweifellos Unterschiede zwischen den beiden Situationen. Zum einen ließ Mubarak Gewerkschaften der öffentlich Bediensteten zu, obwohl er versuchte, sie von oben zu kontrollieren. Zum anderen hat niemand auf die DemonstrantInnen in Wisconsin geschossen, obwohl der stellvertretende Generalstaatsanwalt von Indiana diese Idee öffentlich seinen KollegInnen in Wisconsin vorgeschlagen hat (er wurde gefeuert).
Die Sache verdichtete sich, als die oppositionellen (demokratischen) Abgeordneten in Wisconsin beschlossen, die Bewegung der ArbeiterInnen zu unterstützen, indem sie den Senat des Bundesstaates boykottieren, damit keine Abstimmung zustande kommt und das Gesetz somit nicht angenommen werden kann. Nachdem das Gesetz von Wisconsin die Polizei dazu ermächtigt, abwesende Abgeordnete zu suchen und sie (mit Gewalt) zum Kapitol zu bringen, flohen die Abgeordneten in das benachbarte Illinois, in dem die Polizei von Wisconsin keine Autorität besitzt. In Erwartung einer ähnlichen Situation taten die Demokraten in Indiana dasselbe und sorgten in der Öffentlichkeit damit für das unübliche Spektakel, dass angesehene PolitikerInnen vor den Polizeikräften flüchten, die ihrerseits nicht darauf aus zu sein scheint, sie zu fangen, während die Republikaner vor Wut toben, aber keine Möglichkeit gefunden haben, auf rechtlicher Basis zu einer Abstimmung (über das Gesetz) zu kommen.

Scott Walker wurde in der Zwischenzeit in weitere Verlegenheit gebracht, als ein Journalist ihn anrief und vorgab, der milliardenschwere Unterstützer seiner Kampagne, David Koch zu sein. Der Anrufer konnte aufzeichnen, wie der Gouverneur darüber sinnierte, agents provocateurs unter die Protestierenden zu bringen, und dann ein Angebot annahm, in „a good time“ gezeigt zu werden, nachdem er seine Widersacher vernichtet hätte. (Der Stab des Gouverneurs bestätigte die Authentizität der Aufnahme, dementierte aber, bloßgestellt worden zu sein.)
Jedenfalls ist der Ausgang der Vorfälle sehr unsicher, trotz einiger Gerüchte, dass die Regierung von Wisconsin zurücktreten könnte. Die Bewegung kann bereits den Teilsieg für sich beanspruchen, dass andere Regierungen zögern werden, ehe sie ähnliche provokante Reaktionen zeigen. Aber innerhalb von Wisconsin hat keine der wichtigen beteiligten Parteien ihren Standpunkt geändert. Ich denke, es ist ein kritischer Moment, und die protestierenden ArbeiterInnen brauchen all unsere Hilfe, auch von Menschen, die das Pech haben, dass sie sich ihnen persönlich nicht anschließen können.
Deshalb wollte ich Vorschläge machen, wie ihr sie unterstützen könnt:

*) Schreibt Solidaritätsstatements – wenn ihr Kontakt zu irgendeiner Organisation habt oder deren Mitglieder seid, dass sie ihre öffentliche Unterstützung der protestierenden ArbeiterInnen ausdrückt, schickt Solidaritätsadressen an defendwisconsin@gmail.com. Das kann eine große Hilfe für die Moral der ArbeiterInnen und für den Aufbau lokaler, aber auch ausländischer UnterstützerInnenkomitees sein. Einige solcher Statements findet ihr am Ende dieser Seite: www.defendwisconsin.org.
*) Spendet an helpdefendwisconsin.org oder http://store.iww.org/madison-donations.html. Die erste Adresse wird von der American Federation of Teachers betrieben, die eine der größten Gewerkschaften der öffentlich Bediensteten von Wisconsin ist. Die zweite ist mit den Industrial Workers of the World verbunden, die kleiner, aber im ArbeiterInnenaktivismus von Madison sehr aktiv sind. Jede Organisation wird das Geld gut einsetzen. Die DemonstrantInnen haben auch die folgenden Seiten vorgeschlagen, um Lebensmittel direkt an sie im Kapitol zu schicken: http://www.facebook.com/IansPizzaOnState?ref=ts&sk=app_6009294086 und http://cabellscrabble.blogspot.com/2011/02/donate-food-to-protesters-via.html. Der Zugang zum Kapitol ist jetzt beschränkt, aber da ich noch nichts Gegenteiliges gehört habe, nehme ich an, die Leute sind von 8:00 bis 18:00 Uhr US-Central Time dort und können immer noch Lebensmittelspenden gebrauchen.
*) Phone bank (d.h. ruft Leute in Wisconsin an und drängt sie, die protestierenden ArbeiterInnen zu unterstützen) – Das könnte Leuten außerhalb von Nordamerika schwer fallen. Aber mensch könnte Skype verwenden, und ihr solltet auf die Uhrzeit achten, zu der ihr anruft. Schreibt wegen Anleitungen an volunteertodefendwisconsin@gmail.com.
*) Gebt diese Nachricht weiter (oder eure eigenen Nachrichten).
*) Verfolgt die Vorfälle auf www.defendwisconsin.org

Update, 10.3.2011: Am 9. März verabschiedeten die republikanischen SenatorInnen von Wisconsin eine neue Version des vorgeschlagenen Gesetzes, ohne auf die Rückkehr der DemokratInnen, die sich außerhalb des Bundesstaats befanden, zu warten. Anstatt eines Kompromisses entfernten die RepublikanerInnen die weniger kontroversiellen Budgetpunkte aus dem Gesetz, während sie die schlimmsten gewerkschaftsfeindlichen Elemente beibehielten. Ohne die Budgetpunkte benötigte das Gesetz nicht die Anwesenheit der Demokratischen SenatorInnen, und die RepublikanerInnen stimmten mit 18:1 (d.h. mit einer oppositionellen Stimme) für das Gesetz. Das Gesetz ist noch nicht in Kraft getreten. Es benötigt u.a. immer noch die Zustimmung durch die bundesstaatliche Legislative.

Übersetzung: akkrise.wordpress.com





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