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Psychologie mit großem K
von Maria Asenbaum

Rezension: Markard, Morus: Einführung in die Kritische Psychologie, Hamburg: Argument Verlag 2009, 319 Seiten, € 18,40

Mit der 2009 erschienen Einführung in die Kritische Psychologie legt Morus Markard eine umfassende und systematische Aufarbeitung der Holzkamp´schen Lehre vor. Durchaus mit Blick auf ein jüngeres, psychologisch nicht unbedarftes Publikum öffnet er einen Zugang zur Kritischen Psychologie (die „orthodoxere“ Variante mit großem K), die bislang – vor allem wegen ihrer Sperrigkeit im Original – nicht selten in den Regalen kritisch interessierter LeserInnen verstaubt ist. Zu Unrecht, wie Markard in seinem Buch zeigt.
Markard verortet die Ursprungsintention Kritischer Psychologie in den wissenschafts-kritischen Debatten der 1960er/70er an verschiedenen sozialwissenschaftlichen Fakultäten im deutschsprachigen Raum, allen voran an der FU Berlin. Im Zuge von Fakultätsbesetzungen und dem Aufbau alternativer Lehrpläne standen sich Gruppierungen, die die Psychologie als Herrschaftswissenschaft zerschlagen wollten, und solche, die sie als Teil kritischer Sozialwissenschaften umfunktionieren wollten – um zunächst einmal die Rolle dieser Art von Herrschaftssicherung näher zu untersuchen – gegenüber. Vor diesem Hintergrund entwickelte der gerade erst habilitierte Professor Klaus Holzkamp seine zunächst noch eher vorsichtig formulierte wissenschaftstheoretische Kritik am psychologischen Experiment, dessen Repräsentanz, der Norm-Versuchsperson und dem Verhältnis vom Konkreten zum Abstrakten in der Mainstream-Psychologie. Ebenso wichtig für den Aufbau und die Verankerung der Kritischen Psychologie waren die strukturellen Umwälzungen an der FU Berlin.1969 spaltete sich das Institut für Psychologie aufgrund politischer Auseinandersetzungen; Holzkamp und seinen MitarbeiterInnen war es dadurch bis in die 1980er Jahre möglich, kritische Theoriearbeit und Forschung, unbehelligt von der liberalen Mainstream-Psychologie, an einem eigenen Institut zu betreiben.
Nach einem kurzen „Zwischenschritt“ zur Psychologiekritik widmet Markard den Großteil seiner Einführung der inhaltlich, thematischen Auseinandersetzung mit Holzkamps Kritischer Psychologie, wobei methodische und inhaltliche Fragen nie vollständig voneinander getrennt dargestellt werden (können). So gilt die Gegenstandsadäquatheit der Methoden als zentrales Kriterium Kritischer Psychologie. Und Gegenstand ist in diesem Fall das Psychische, dessen Charakteristika Holzkamp über den Ansatz historischer Kategorialanalyse zu fassen versucht. In seiner Grundlegung der Psychologie (1983), die über mehrere Kapitel Hauptreferenzpunkt von Markards Ausführungen bleibt, erarbeitet Holzkamp eine Art emanzipatorische Evolutionsgeschichte, in der er dem Darwin´schen Begriff der Anpassung den der Aneignung gegenüberstellt, um zentrale Qualitäten des Psychischen, wie Orientierung, Emotionalität und Kommunikation, als etwas gesellschaftlich Gewordenes darzustellen (S.121). Im krassen Gegensatz zur Mainstream-Psychologie steht hier das Individuum nicht isoliert vor gegebenen Bedingungen, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse werden – als von Menschen entwickelte und veränderbare Dynamik – mit in den Blick genommen. Auch hinsichtlich der individuellen Lerngeschichte und der darin enthaltenen Möglichkeiten und Einschränkungen des Handelns und der Kooperation betont Holzkamp die „gesellschaftliche Natur des Menschen“ und stellt sich Markard zufolge sowohl gegen biologistische als auch gegen klassisch freudianische Konzeptionen, die „die Natur der Menschen“ als etwas von der Gesellschaft zu Bändigendes auffassen (S.142).
Über seine historischen Analysen und in Anlehnung an die Marx´sche Methode zur Untersuchung der Ökonomie entwickelt Holzkamp Kategorien aus der Genese des Psychischen, die dann in aktual-empirischen Analysen angewendet werden können.
Neben der historischen Gewordenheit stellt aber auch die Gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit der menschlichen Existenz eine unabdingbare Referenz zur Untersuchung menschlicher Handlungen dar. Das Individuum stehe in einer doppelten Beziehung zu seinen/ihren Lebensbedingungen und -mitteln: Einerseits sind diese Voraussetzung seiner/ihrer Existenz, andererseits trägt er/sie zu deren Schaffung, Erhaltung und Entwicklung bei (S.147). Die konkreten Lebensbedingungen/Produktionsverhältnisse können daher nicht einfach, wie in die Mainstream-Psychologie üblich, ausgeblendet werden. Einerseits bedeutet dies für die Kritische Psychologie stets ein aktives Verhältnis zur Gesellschaftstheorie, andererseits auch eine Kategorieentwicklung, die gesellschaftliche Verhältnisse nicht nur mitberücksichtigt, sondern auch an der Überwindung ebendieser Verhältnisse (d.h. kapitalistischer Verhältnisse) arbeitet. Eine solche zentrale Kategorie ist die der restriktiven versus verallgemeinerten Handlungsfähigkeit, wobei erstere für die individuell-unmittelbare Bedürfnisbefriedigung und letztere für die gemeinsame Erweiterung der gesellschaftlichen Lebensmöglichkeiten steht (S.181).

Anhand dieser und anderer essentieller Begrifflichkeiten der Kritischen Psychologie präsentiert Markard auch eigene Forschungsarbeiten zu den Themen Entwicklung, Bildung und Erziehung. Im abschließenden Kapitel geht er nochmals fokussierter auf die Prinzipien Kritisch-psychologischer Forschung ein, um so zur Reinterpretation, zum Erkenntnisprinzip der Einheit von Kritik und Weiterentwicklung (S.299), anzuregen. Wichtig ist ihm dabei, dass in psychologischer Forschung nicht Subjekt-Objekt-Beziehungen wie in den Naturwissenschaften vorherrschen, sondern die Betroffenen selbst am Forschungsprozess partizipieren. Außerdem soll menschliches Handeln – im Gegensatz zum bloßen Verhalten – in einem Begründungsdiskurs reflektiert, statt in einem statischen Bedingungsgefüge geprüft werden. Die aktive Lebensgestaltung von Menschen wird damit zum eigentlichen Forschungsgegenstand, dem durch eine geeignete Methodologie Rechnung zu tragen ist, anstatt, wie in der heutigen psychologischen Forschung üblich, jegliche individuelle „Verhaltensabweichung“ als Störvariable auszuschließen.
Insgesamt ist Morus Markards Einführung in die Kritische Psychologie eine sehr gelungene Aufbereitung der Holzkamp´schen Hinterlassenschaften und deren Weiterentwicklungen. Die Einbettung in die inhaltlichen und strukturellen Rahmenbedingungen des Entstehungsprozesses der Kritischen Psychologie, sowie die aktuellen Bezüge und plastisch geschilderten Beispiele stellen eine echte Bereicherung zur klassischen Lesart dar. Markard versucht auf alle Themen systematisch hinzuführen und sie ausreichend zu kontextualisieren. Trotzdem bleibt es dem/der LeserIn nicht erspart, die wesentlichen Passagen im Mittelteil sehr konzentriert und teilweise mehrmals zu lesen, weil hier auch wissenschaftstheoretisch relativ komplexe Sachverhalte thematisiert werden. Diese Einführung ist keine leichte Lektüre, deshalb erscheint auch ein gemeinsames Lesen und Diskutieren sehr sinnvoll. Wenn Markard mit diesem Buch dazu anregen kann, im studentischen Umfeld wieder Kritisch-psychologische Inhalte zu diskutieren, so ist ihm bereits viel gelungen.





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