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„Dialektik“ der Psychologie
von Maria Asenbaum

Rezension: Abl, Gerald: Kritische Psychologie. Eine Einführung. Stuttgart: Schmetterling Verlag 2007, 10 €

In einer Zeit, in der sich die Mainstream-Psychologie vor allem durch Selektionsdiagnostik, Hirnforschung und reaktionäre Erziehungsleitfäden hervortut und die Ökonomisierung der Universitäten vielerorts alternativen Ansätzen das Wasser abgräbt, freut sich der/die kritische LeserIn über eine Einführung in die kritische Psychologie. Eine solche ist Ende des vorigen Jahres im Schmetterling Verlag in der theorie.org-Reihe erschienen. Der Autor, Gerald Abl, hat in Salzburg Psychologie und Politikwissenschaften studiert und seine Dissertation zur Dialektik bei Freud verfasst. Dies wird in seiner so genannten „Einführung“ mehr als deutlich.
Abl eröffnet, nach einem kurzen Abriss zur Geschichte der Psychologie, mit einem methodischen Kapitel, das es in sich hat. In knapp zwanzig Seiten erklärt er seine simplifizierende Version der Philosophie des Marxismus. Wer sich schon mit marxistischen Thesen beschäftigt hat, ist davon vielleicht etwas genervt, wer das zum ersten Mal liest, eher überfordert, aber diese Marx-Lesart mit den drei Eckpunkten Dialektik, Materialismus und Parteilichkeit nachvollziehen zu können, ist Voraussetzung fürs Weiterlesen. Mit Materialismus ist hier das Anerkennen einer erfassbaren äußeren Welt und ihrer Entwicklungsprozesse gemeint und damit die Möglichkeit von Erkenntnis. Zur Dialektik werden die „klassischen“ Aspekte der Totalität, der Bewegung und das Zusammendenken dieser beiden erörtert. Unter Parteilichkeit versteht Abl ein „vom proletarischen Klassenstandpunkt ausgehendes Erkenntnisinteresse“ und bezieht sich dabei auf den Lukács’schen Begriff der Einheit von Theorie und Praxis.
Dies vorangestellt beginnt der Autor systematisch, die Entwicklungsgeschichte der kritischen Psychologie und deren Vorläufer darzustellen. Dazu versucht er zunächst Berührungspunkte zwischen Psychologie und Marxismus aufzuzeigen. Einerseits geht es hierbei um die Rolle des Psychischen im Marxismus, der Umgang mit menschlichen Bedürfnissen, die Rolle der Individuen und das Verhältnis von Mensch und Natur. Andererseits geht es um das Psychologieverständnis im so genannten „Kommunismus“ der Sowjetunion. Hier beginnt Abl eigenartigerweise mit Pawlow („der sich weder als Psychologe noch als Marxist versteht“), kommt dann aber bald, über einen kleinen Umweg via Rubenstein, zur Kulturhistorischen Schule, auf die sich später Holzkamp (der Begründer der Kritischen Psychologie) beziehen wird. Wichtig ist dabei vor allem Leontjews Entwicklungstheorie des Psychischen, der dem darwinistischen Begriff der Anpassung den der Aneignung entgegenstellt. In diesem Konzept wird individuelle und gesellschaftliche Entwicklung zusammengedacht und nur in einer Gesellschaft ohne Klassenwidersprüche (auf die Leontjew zuzusteuern glaubt) könne sich beides voll entfalten.
In seinem Kapitel über „Bürokratie und Psychologie“ stellt Abl den Niedergang dieser Vorstellungen und der dialektischen Psychologie im Stalinismus dar.
Im nächsten Abschnitt rollt Abl die Geschichte von der anderen Seite her auf: „Die Psychoanalyse als Ausgangspunkt“. Der/die LeserIn merkt schnell, dass es sich hier um Abls Spezialgebiet dreht, denn ohne viel Vorrede steigt dieser in die inhaltliche Arbeit entlang der anfangs erläuterten Säulen Materialismus, Dialektik und Parteilichkeit ein. Im Kapitel über Materialismus und Psychoanalyse zeigt er anhand einer Fülle von Originalzitaten Freuds Verständnis der realen im Unterschied zur psychischen Welt. Hier arbeitet er heraus, welche Rolle Freud der Bedürfnisbefriedigung in der Erkenntnis bzw. dem Missverständnis dieser „realen Welt“ zuerkennt, aber auch jene Punkten, an denen Freud den Materialismus überwunden glaubt und auf „das Selbständige des Seelenlebens“ pocht. Abl meint in Freuds Denken eine neue Komplexität von „Totalität und Entwicklung“ auszumachen. Nicht nur die Gleichzeitigkeit und das Gewordene, sondern auch das Nicht-Denkbare, das unsichtbar Weiterwirkende muss dabei mit einbezogen werden. Obwohl Freud selbst der „dialektischen Methode“ höchst kritisch gegenüberstand, ist nicht nur der Autor dieser Einführung der Ansicht, dass Freuds Verständnis von Kausalität, Gleichzeitigkeiten und der Vielförmigkeit und Fragilität von Zusammenhängen, sowie sein interdisziplinäres Vorgehen, den Grundstein für eine dialektisch-materialistische Psychologie legt.
Diese schreiben sich die FreudomarxistInnen auf die Fahnen, denen sich der nächste Abschnitt des Buches widmet. Der frühe Freudomarxismus entstand ab Ende der 20er Jahre aus einer Linksopposition innerhalb der Psychoanalytischen Organisation. Dieser betrachtet die dialektische als die einzig „wahre Methode“ und versucht von dort aus  Freuds Werk fortzuführen und auszuweiten.
Weniger auf einem adäquaten Methodenverständnis als auf der inhaltlichen Ausweitung beruht für Abl der Verdienst dieser Strömung. Die Bearbeitung sozialpsychologischer Fragen und vor allem ein psychologisch-marxistisches Verständnis der Arbeit sind dabei für ihn die richtungweisenden Momente. Ein anderer wichtiger Anstoß kommt aus der kritischen Theorie. Auch ihr widmet Abl ein kurzes Kapitel und setzt sie in Bezug zur Psychologie – in Anlehnung an Marcuses Begriff der Sozialwissenschaften, in welchem Psychologie, Soziologie und Philosophie eine Einheit bilden.
Erst nach 160 Seiten befasst sich der Autor mit der sich in den 1960er Jahren entwickelnden, erstmals so bezeichneten „Kritischen Psychologie“, wobei er die Holzkamp-Schule recht einseitig darstellt und eher deren Defizite gegenüber der Psychoanalyse hervorhebt. Eine inhaltliche Erklärung der Thesen der Holzkamp-Schule bleibt ausgespart. Deren kritische Auseinandersetzung mit der Mainstream-Psychologie wird nicht beleuchtet und ihre Versuche einer Neufassung der Psychologie als Subjektwissenschaft werden nur im Kontext der Institutionalisierung der „Kritischen Psychologie“ an der Freien Universität Berlin beschrieben. Abls Kritikpunkt ist auch der viel zu hohe (natur-)wissenschaftliche Anspruch, der für den Autor „undialektisch“ und enttäuschend ist. Er vergleicht Holzkamps Kategorien mit denjenigen Kants und wirft Holzkamp vor, zu versuchen, Widersprüche auflösen statt sie aufheben zu wollen (hier hätte dieser vermutlich widersprochen). Die Inhalte und Themen gehen unter der Apologie der Psychoanalyse leider unter.
Abschließend gibt es noch je ein Kapitel zur „Dialektischen Psychologie“ und zur „kritischen Psychoanalyse“, wo Abl seinen Faden wieder aufnimmt. Der Dialektischen Psychologie, rund um Klaus Riegel, geht es in erster Linie um eine Verfeinerung des Methodeninventars. So unterscheidet sie zwischen einfacher, wissenschaftlicher, innerer und äußerer Dialektik. Dass sie sich weltanschaulich nicht festlegen möchte, sieht Abl als Manko. In seinem letzten Kapitel gibt er noch spannende Einblicke in neuere Entwicklungen in der gesellschaftskritischen Psychologie wie der analytischen Sozialpsychologie oder der Ethnopsychoanalyse, was zum Weiterlesen anregt.
Abls Kritische Psychologie. Eine Einführung hält nicht was sie verspricht, denn sie ist keine Einführung, vor allem nicht in das, was für gewöhnlich unter „Kritische Psychologie“ verstanden wird. Der Autor gibt keinen einfachen Überblick über die Debatte, sondern legt seinen eigenen systematischen Ansatz dar. Die Stärken des Ansatzes kommen vor allem in den Kapiteln über Freud zum Tragen, da Abl durch das Heranziehen von weniger bekanntem Originalmaterial einen neuen Einblick in dessen Werk ermöglicht. Angesichts dessen, dass es in letzter Zeit recht still um die kritische Psychologie geworden ist, stellt dieses Buch – trotz seiner Schwachstellen – einen wichtigen Anstoßpunkt für eine Wiederbelebung der Auseinandersetzung um kritische Ansätze in der Psychologie dar.





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