Artikel drucken Twitter Email Facebook

Mächte und Märkte im globalen Kapitalismus
von Benjamin Opratko

Rezension: Hartmann, Eva/Kunze, Caren/Brand, Ulrich (Hg.): Globalisierung, Macht und Hegemonie. Perspektiven einer kritischen Internationalen Politischen Ökonomie, Münster: Westfälisches Dampfboot, 274 S., 25,60 €

Nicht erst seit die globale Wirtschaftskrise weit verbreitete Gewissheiten von der Effizienz freier Märkte ins Wanken gebracht hat, wird in den Sozialwissenschaften über das Verhältnis von Ökonomie und Politik, Markt und Staat auf internationaler Ebene nachgedacht. Die „Inter-Disziplin“ der Internationalen Politischen Ökonomie – kurz IPÖ – hat sich insbesondere im Zuge der sogenannten „Globalisierungsdebatten“ seit den 1990er Jahren an diesem Zusammenhang abgearbeitet und dabei Aufmerksamkeit auch über ein wissenschaftliches Fachpublikum hinaus erregt. Dabei werden Einsichten aus Soziologie, Humangeographie, Geschichts-, Politik- und Wirtschaftswissenschaften verknüpft, um die zunehmenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verflechtungen, globale Dynamiken der Liberalisierung und De-Regulierung sowie die daraus entstehenden Konflikte und Problemlagen zu analysieren. Der vorliegende Sammelband will nun eine Bestandsaufnahme der kritischen IPÖ im deutschsprachigen Raum bieten.
Was das Adjektiv „kritisch“ in diesem Zusammenhang bedeuten soll und dass es keine Tautologie darstellt, macht Hans-Jürgen Bieling in seinem äußerst nützlichen, orientierenden Beitrag deutlich. Er zeigt erstens, dass die IPÖ eine länger zurückreichende Historie besitzt als gemeinhin angenommen; und zweitens, dass sie auch eine weitere theoretische Bandbreite aufweist, als dies die meisten Darstellungen vermuten lassen. Schließlich wurde die internationale Dimension bereits von den „Klassikern“ der Politischen Ökonomie – wie Adam Smith oder David Ricardo – ebenso wie in deren Kritik durch Karl Marx berücksichtigt; und auch die, an letzteren anschließende, „klassische“ imperialismustheoretische Debatte – geführt u.a. von Rosa Luxemburg, Nikolai Bucharin, Karl Kautsky, Vladimir Lenin und dem von Bieling unterschlagenen Leo Trotzki – hat sich letztlich mit Fragen beschäftigt, die später unter dem Label IPÖ diskutiert werden sollten. Auch in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wurden Neo-Imperialismus-, Dependenz- und Weltsystem-Theorien prominent diskutiert.
Kapitalismuskritische Perspektiven haben in der IPÖ also eine Tradition, die vor den Disziplinenbegriff selbst zurückreicht. Seit die IPÖ sich in den 1970er Jahren auch akademisch-institutionell verankern konnte, kam es jedoch zur Ausbildung einer „neuen Orthodoxie“, die sich fernab jedes kritischen Paradigmas mit Fragen der politischen Stabilität im internationalen System beschäftigt. Die Existenz dieser, insbesondere im angelsächsischen Raum dominanten, neu-orthodoxen IPÖ, die zumeist positivistisches Wissenschafts- mit neoliberalem Politikverständnis verknüpft, wird in der deutschsprachigen Debatte gerne übersehen und von Bieling daher zu Recht betont. Aktuelle kritische oder „heterodoxe“ Perspektiven in der IPÖ wurden zunächst vor allem als Abgrenzung von dieser neuen Orthodoxie entwickelt und stellen weniger ein gemeinsames Forschungsprogramm als ein breites und durchaus widersprüchliches sozialwissenschaftliches Feld dar.
Als Gemeinsamkeiten kritischer IPÖ können nach Bieling vier Aspekte genannt werden. Erstens eine umfassende Perspektive, die sich nicht auf die Analyse von Markt und Staat beschränkt, sondern auch Produktions- und Reproduktionsverhältnisse, kulturelle und ideologische Gesichtspunkte auf inter- und transnationaler Ebene als Teil ihres Untersuchungsgegenstands versteht. Zweitens die kritische Hinterfragung von dominanten Problemwahrnehmungen und -darstellungen durch polit-ökonomische AkteurInnen wie Mainstream-Analysen. Dies betrifft insbesondere das Verhältnis von Markt und Staat, das aus kritischer Perspektive nicht als einander äußerliche Beziehung gedacht wird, sondern als „integral verschränkt“ (31). Der Illusion vom sich selbst regulierenden Markt wird ein Verständnis von Märkten als politisch konstituierte Beziehungsgeflechte entgegen gestellt, der Illusion vom entlang rein politischer Logiken handelnden Nationalstaat ein Verständnis der Bedeutung weltökonomischer Ungleichheiten. Drittens wird die Frage gestellt, warum sich die herrschenden kapitalistischen Verhältnisse durch Krisen und Turbulenzen hindurch letztlich doch relativ stabil reproduzieren. Dies impliziert einerseits einen Fokus auf unterschiedliche Perioden und Varianten des Kapitalismus, andererseits auch eine normativ-politische Überwindungsperspektive. Die Hegemonietheorie Antonio Gramscis ist für viele AutorInnen der kritischen IPÖ hier ein zentraler Bezugspunkt. Viertens schließlich grenzt sich die heterodoxe IPÖ vom empirisch-positivistischen Selbstverständnis der Orthodoxie ab und legt größere Aufmerksamkeit auf die Selbstreflexion und -kritik der eigenen Analyseinstrumente und theoretischen Vorannahmen.
Über diese Bestimmungen hinaus vereint die Bezeichnung „kritische IPÖ“ ein weites Feld durchaus heterodoxer Ansätze. Die HerausgeberInnen verstehen diese Breite als begrüßenswerte Vielfalt, ohne zu unterschlagen, dass die in diesem Band versammelten Beiträge „sich nicht nur gegenseitig ergänzen, sondern sich durchaus kritisch voneinander abgrenzen“ (10).
Im Wesentlichen finden sich hier drei Arten von Texten. Die meisten Aufsätze konfrontieren den aktuellen Stand der kritischen IPÖ-Debatte mit anderen Theoriesträngen, die den AutorInnen zufolge bisher zu wenig Beachtung erhalten haben bzw. die offene Fragen und „Baustellen“ in der IPÖ zu bearbeiten helfen sollen. Dazu zählt Petra Purkarthofers Beitrag, der die Bedeutung Postkolonialer Theorien für die Aufdeckung und mögliche Überwindung eurozentristischer Haltungen in der IPÖ darstellt; der Überblicksaufsatz von Friederike Habermann und Aram Ziai zu feministischen Perspektiven in der IPÖ; und der Vorschlag von Joachim Hirsch und John Kannankulam, die Argumente der sogenannten „Staatsableitungsdebatte“ der 1970er Jahre, zur Füllung staatstheoretischer Lücken in die IPÖ zu integrieren.
Zwei Autoren widmen sich den ontologischen und epistemologischen Grundannahmen, also den Fragen, wie die Welt, mit der sich die IPÖ beschäftigt, beschaffen ist, und welche Art von (wissenschaftlichen) Aussagen wir über diese treffen können. Joscha Wullweber beantwortet diese Fragen aus einer diskurstheoretischen, den „post-marxistischen“ Thesen von Erneso Laclau und Chantal Mouffe folgenden Perspektive, während Bob Jessop ein kritisch-realistisches Weltverständnis stark macht, das ein nicht-positivistisches, nicht-deterministisches Verhältnis von Kausalität – von ihm „kontingente Notwendigkeit“ genannt – beinhaltet.
Schließlich setzen drei Beiträge an konkreteren Fragen der kritischen Zeitdiagnose an. Bernd Röttger analysiert die Konjunkturen der Gewerkschaftsbewegung entlang historisch unterschiedlicher Formen des Klassenkampfs. Ulrich Brand schlägt vor, die Bedeutungszunahme internationaler politischer Institutionen in der neoliberal-imperialen Globalisierung mit den Konzepten des „internationalisierten Staates“ und der „Verdichtung zweiter Ordnung“ theoretisch auf den Begriff zu bringen. Und Eva Hartmann bearbeitet das in IPÖ-Debatten oft vernachlässigte Feld des Rechts und zeigt, dass ein „instrumentelles“ Verständnis, nach dem Recht „einfach ein weiteres Instrument der Mächtigen“ ist (250), die spezifischen Funktionen und Effekte der „Rechtsform“ in der Internationalisierung von Politik und Ökonomie nicht angemessen begreifen kann.
Die vielfältigen theoretischen Kontroversen, die sich durch all diese Beiträge ziehen, bilden beispielhaft den State of the Art der aktuellen IPÖ-Diskussion im deutschsprachigen Raum ab. Auf sie im Einzelnen einzugehen lässt der Raum einer Rezension nicht zu. Es sollen aber zwei Themen aus dem Band herausgegriffen werden, welche die politische Bedeutung der kritischen IPÖ deutlich und die Relevanz dieses Forschungsgebiets auch für die nicht-akademische Linke nachvollziehbar macht. So muss man den theoretischen Überlegungen von Joachim Hirsch und John Kannankulam zur „politischen Form des Kapitalismus“ nicht vollinhaltlich folgen, um die von den Autoren im Anschluss daran formulierte Frage nach der Stabilität des gegenwärtigen politischen Institutionensystems für hoch aktuell zu halten. Sie argumentieren, dass die aktuelle Dynamik der Internationalisierung des Staates – womit die (Selbst-)Beschränkung nationalstaatlicher Gestaltungsräume, die Privatisierung von politischen Entscheidungsstrukturen, die wachsende Bedeutung internationaler Organisationen, die Internationalisierung des Rechts sowie die Konstituierung einer „internationalen Managerklasse“ gemeint ist (198-201) – dazu führt, dass die kapitalistische Gesellschaft „insgesamt instabiler und krisenhafter“ wird. Die Machtausübung qua Hegemonie – also durch die kompromisshafte Einbeziehung weiter Teile der ArbeiterInnenklasse – weicht, so die These, zunehmend autoritären, gewaltförmigen, ent-demokratisierten und des-integrierenden Formen poltischen Herrschaft (205f.).
Als zweites hervorzuheben ist der Beitrag von Bernd Röttger, der auf beispielhafte Weise einlöst, was die kritische IPÖ verspricht: Die Verknüpfung von theoretischer Analyse, empirischer Untersuchung und der Entwicklung politischer Schlussfolgerungen für eine antikapitalistische Linke. Nachdem er mit Karl Marx und Antonio Gramsci das grundsätzliche Spannungsverhältnis gewerkschaftlicher Klassenkämpfe als „widerständiges Handeln der subalternen Arbeiterklassen im Kampf im und gegen das Lohnverhältnis“ (95f.) charakterisiert, zeichnet er am bundesdeutschen Beispiel die Konjunkturen der Gewerkschaftsbewegung nach. Von deren Einbindung in den fordistischen Korporatismus, in dem sie sich auf den Kampf im Lohnverhältnis beschränkte, über ihre „Neokonditionierung“ durch die neoliberale Konterrevolution, durch die GewerkschafterInnen zu „Spezialisten für sozialverträglichen Beschäftigungsabbau“ umgelernt wurden (106, Fn.), bis zu den aktuellen, zaghaften Versuchen gewerkschaftlicher Erneuerung. Diese Entwicklungen werden mit den Brüchen in der Politischen Ökonomie im Weltmaßstab verknüpft. Der Beitrag profitiert von der langjährigen empirischen Forschungsarbeit in Betrieben und Gewerkschaften ebenso wie vom explizit gemachten politischen Standpunkt des Autors. Plausibel ist seine begründete Einschätzung, dass nur eine gewerkschaftliche „Erneuerung von unten“ (114) den aktuellen Tendenzen, Gewerkschaften unter Bedingungen der Krise wieder verstärkt als „‚Erfüllungsgehilfen’ für den Bestand der kapitalistischen Eigentumsordnung“ (118) in die Pflicht zu nehmen, wirksam etwas entgegen setzen kann. Röttgers Plädoyer für eine kritische IPÖ, die es als ihre Aufgabe versteht „dem verstreuten Widerstand gegen eine kapitalistische Restauration in der Krise eine Sprache zu geben“ und die „kein akademisierter Marxismus“, sondern eine „an der geschichtlichen Praxis der ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegung orientierte Kritik, die die Widerständigkeit der lebendigen Arbeit ernst nimmt“ (119) sein sollte, kann der Rezensent nur vorbehaltlos zustimmen. Möge sein Apell im Fortlauf der weiteren Debatte zur Internationalen Politischen Ökonomie, zu deren Entwicklung der vorliegende Sammelband einen wichtigen Beitrag darstellt, nicht ungehört verklingen.





Artikel drucken Twitter Email Facebook