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Mechanismen der Ideologie
von Hans Pühretmayer

Rezension: Rehmann, Jan: Einführung in die Ideologietheorie, Hamburg: Argument-Verlag 2008, 248 Seiten, € 17,40

Trotz der wiederholten Ausrufung des „Endes der Ideologie“ (Daniel Bell, Francis Fukuyama) sowie der Hegemonie von so genannten „post-ideologischen“ Diskurstheorien in den Sozialwissenschaften gibt es viele politisch wie theoretisch plausible Gründe, sich mit der Wirkungsweise von Ideologien zu beschäftigen. Ein wesentliches Ziel von Jan Rehmanns Einführung in die Ideologietheorie ist es, theoretische Mittel zur Verfügung zu stellen, um die kulturelle Hegemonie des Neokonservativismus bzw. des Neoliberalismus erklären zu können – insbesondere die Frage, wie es gelingen konnte, Subalterne dazu zu bewegen, mehr oder minder begeistert für Parteien zu stimmen, deren Politik ihren Interessen zuwider lief und zu einem Verlust von kollektiver Handlungsfähigkeit und sozialer Absicherung beitrug. Weiters zählt der Autor es zu den Aufgaben von Ideologietheorien, eine hegemoniefähige Strategie demokratisch-sozialistischer Transformationen zu entwickeln.
Rehmann unterteilt die verschiedenen Ideologiekonzeptionen in „Ideologiekritik“ und „Ideologietheorien“, betont aber stets, dass die Trennlinien bei weitem nicht so klar gezogen werden können, wie dies die VertreterInnen der jeweiligen Position gerne hätten. Zunächst referiert er die Geschichte der prä-marxistischen Ideologiekritik, beginnend mit Destutt de Tracy. Darauf folgt eine ausführliche Darstellung der – durchaus heterogenen – Thesen von Marx und Engels zu Fragen der Ideologie (Kapitel 2). Mittels intensiver und kontextbezogener Lektüre kann Rehmann einigeoberflächliche, aber weit verbreitete Kritiken am Ansatz von Marx und Engels entkräften. Er zeigt, dass die Kritik der Ideologie als „notwendig falsches Bewusstsein“ sowie das Bild der Camera obscura und auch die problematischen Metaphern des „Reflexes“ und des „Echos“ keineswegs als passive Bewusstseinsprägung (naiver Empirismus) verstanden wird, sondern stets auf der These beruhen,dass Ideologien aus dem widersprüchlichen „historischen Lebensprozess“ der Menschen sowie der Verselbständigung und Überordnung der intellektuellen Tätigkeiten gegenüber der gesellschaftlichen Produktion hervorgehen. Zentral ist ein Terrainwechsel von einer (Natur-)Wissenschaft der Ideen auf das Gebiet einer Analyse der Widersprüche der Gesellschaft, ihrer „Selbstzerrissenheit“. Rehmann stellt dabei den durchaus umstrittenen Begriff des „Waren-Fetischismus“ in den Mittelpunkt: „Mit dem ,Fetischcharakter der Ware‘ bezeichnet Marx den Tatbestand, dass in der privatarbeitsteiligen Warenproduktion der gesellschaftliche Zusammenhang der Produzenten nicht bewusst geplant werden kann, sondern sich erst beim Verkauf der Ware und damit im Nachhinein als fremde, ,dingliche‘ Macht hinter ihrem Rücken durchsetzt.“(37) In der Rezeptionsgeschichte der Thesen von Marx und Engels hätten dann v.a. Lenin und der Marxismus-Leninismus den Ideologiebegriff neutralisiert (Kap. 3), während Lukács die kritische Ideologiekonzeption in einer Theorie „verdinglichten Bewusstseins“ rehabilitierte. Jedoch habe Lukács die „Verdinglichung“ auf eine Weise totalisiert, dass Apparate und Intellektuelle nicht mehr erforderlich sind und die Kämpfe und Widersprüche in der Ideologie nicht mehr wahrgenommen werden können. Horkheimer und Adorno knüpften an Lukács an, kritisierten aber verschiedene Aspekte, wie etwa das philosophisch überhöhte Vertrauen in ein revolutionäres Proletariat. Zentrale Themen ihres ideologiekritischen Ansatzes bilden die Kritik des Identitätsdenkens sowie die Konzeption der Kulturindustrie (Kap. 4). Alle diese Ansätze werden üblicherweise unter dem Label „Ideologiekritik“ verhandelt. Insbesondere gegen ideologiekritische Entlarvungen „falschen Bewusstseins“ werden meist folgende Einwände erhoben: sie übersehen die materiellen Existenzformen des Ideologischen, seine Apparate, Intellektuellen und Praxisformen, die bestimmte ideologische Effekte auf Handlungs- und Denkweisen erzeugen; sie verfehlen die Bedeutung der unbewussten Funktionsweisen von ideologischen Formen und Praxen; und sie verdrängen die Hauptaufgabe, die Wirkungsweise der Ideologien zu verstehen und ihrer „Macht über die Herzen“ nachzuspüren, um ihr auf dieser Grundlage ihre Attraktionspunkte entwenden zu können (12).
Die Ausarbeitung einer „Ideologietheorie“, die diese Probleme und Grenzen des Ansatzes der Ideologiekritik zu überwinden versucht, begann mit den Werken von Antonio Gramsci und Louis Althusser. Gramsci konzentrierte sich auf die inneren Widersprüche der Ideologien, der zivilgesellschaftlichen Institutionen und des Alltagsverstands. Rehmann betont die praktische Bedeutung dieser theoretischen Perspektive, da jede eingreifende Politik von unten darauf angewiesen sei, die Widersprüche im ideologischen Gefüge und speziell im herrschenden Machtblock zu analysieren, um in sie intervenieren zu können. Letztlich diente Gramsci der Ideologiebegriff als Übergangskategorie zur Ausarbeitung einer Hegemonietheorie, einschließlich seines erweiterten Begriffs des „integralen Staats“. Althusser setzte Gramscis Überlegungen fort und ergänzte sie um die Konzepte des ideologischen Subjekts, der freiwilligen Unterwerfung (assujettissement) und des Imaginären. Diese psychoanalytischen Kategorien ermöglichten ihm, das Ideologische als ein „gelebtes“ Verhältnis zu den Existenzbedingungen zu verstehen, es konstitutiv mit dem Unbewussten in Beziehung zu setzen und den dynamischen und aktiven Charakter ideologischer Unterwerfung zu veranschaulichen. Weiters betont Althusser die materielle Existenz von Ideologien in Alltagspraxen, Ritualen und (ideologischen Staats-)Apparaten. Die Integration der lacanschen Psychoanalyse setze, so kritisiert Rehmann, die althussersche Ideologietheorie der Spannung zwischen einem historisch spezifischen Konzept der ideologischen Staatsapparate und einer ungeschichtlich konzipierten „Ideologie im Allgemeinen“ aus – ein Problem, das schließlich sogar zur Auflösung der „Althusser-Schule“ (es wird nie erklärt, wer dies sei) beigetragen haben soll. Rehmann missinterpretiert hier Althusser insofern, als er dessen Thesen über die „Ideologie im Allgemeinen“ als substanzielle Aussagen über konkrete Ideologien deutet. Althusser hingegen versteht diese Thesen als „begriffliches Minimum“ (dessen Bestimmungen selbstverständlich revidierbar sind), das notwenig ist, um überhaupt von Ideologie sprechen zu können. Diese Missinterpretation verweist auch auf eine offenbar unüberwindbare Differenz zwischen Psychoanalyse und Kritischer Psychologie (nach Klaus Holzkamp). Rehmann geht z.B. mit Holzkamp davon aus, dass in einer herrschaftsfreien Gesellschaft die menschliche Psyche ohne Unbewusstes auskommen könne, während Althusser genau dies in seiner Ideologietheorie bestreitet. Zu kurz kommt in Rehmanns Darstellung ein grundsätzliches Anliegen der Althusserschen ideologietheorie: der Versuch der wissenschaftlichen Erklärung der Mechanismen von Ideologie (Anrufung, verkennende Wiedererkennung), relativ autonomer Mechanismen, die nicht auf die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse reduzierbar sind. Selbstverständlich kritisiert Althusser – so wie auch Stuart Hall – alle Ideologien, die Marx, Engels oder die Kritische Theorie ebenfalls kritisierten. Zugleich aber versuchen sie Vorstellungen einer „Reinheit“ bestimmter gesellschaftlicher Bereiche oder gesellschaftlicher Gruppen zu kritisieren – bzw. positiv formuliert: deren konstitutive Verwobenheit in ideologische Verhältnisse zu denken, ohne sie darauf zu reduzieren. Dies bedeutet eine Aufforderung zu einem politischen Handeln ohne Garantien und zur ständigen Selbstreflexion aller emanzipatorischen Bewegungen.
Rehmann konstruiert weiters eine theoretische Kontinuität zwischen der „Althusser-Schule“ und poststrukturalistischen Diskurstheorien bzw. der Postmoderne: Der „Althusserianismus“ habe der postmodernen Übernahme seiner zentralen Kategorien kaum etwas entgegenzusetzen, da er insbesondere durch einen „theoretischen Antihumanismus“ gelähmt sei – also die theoretische Forderung, dass nicht „der Mensch“ (wie entfremdet, verdinglicht und in Fetischismen verfangen auch immer), sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse und Kämpfe die Grundkategorien einer materialistischen Geschichtstheorie sein sollten. Der Autor bezieht sich hier insbesondere auf die poststrukturalistischen Ansätze von Foucault, Laclau und Mouffe, da diese die Ideologie ihres kritischen Stachels beraubt, neutralisiert und durch den Diskursbegriff ersetzt hätten (134ff). Die Weiterentwicklungen der Althusserschen Thesen durch Michel Pecheuxs materialistische Diskursanalyse zeigen hingegen, dass eine konsistente Verknüpfung von Diskurs- und Ideologietheorien durchaus möglich ist. Im Übrigen reduzieren weder Althusser noch Pêcheux das Gesellschaftliche auf Diskurse.
Ein zentrales Problem in Althussers Ansatz sieht Rehmann schließlich darin, dass die Analyse der Widersprüche und Kämpfe im Ideologischen zugunsten der Funktion der Herrschaftsstabilisierung vernachlässigt wurden und somit weder die Entstehung noch die Wirkungsweisen von Widerstand erklärt werden könnten. Althussers Modell müsse daher dialektisiert werden, um Widersprüche denken zu können. Das Projekt Ideologietheorie (PIT) um Wolfgang F. Haug knüpft an den „kritischen Ideologiebegriff bei Marx und Engels“ sowie an Gramsci und Althusser an. Das Ideologische bezeichnet hier die Grundstruktur ideologischer Mächte „über“ der Gesellschaft und damit den Wirkungszusammenhang einer „entfremdeten Vergesellschaftung-von-oben“. Es wird primär an den Funktionsweisen der Hegemonialapparate, ideologischer Mächte und Praxisformen festgemacht, die das Selbst- und Weltverhältnis der Individuen organisieren. Der Ansatz des PIT versteht sich nicht nur als ideologietheoretisch, sondern zugleich als ideologiekritisch, da er die ideologischen Mächte, Apparate und Praxisformen „grundsätzlich vom Standpunkt einer klassenlosen und herrschaftsfreien Gesellschaft betrachtet.“(153) Er wird sowohl dem entfremdeten Charakter als auch der materiellen Existenzweise der Ideologie gerecht, verbindet beide Stränge organisch miteinander und behebt damit das „Dilemma“ der bisherigen Forschungsansätze. Als Gegenbegriff zum Ideologischen entwirft das PIT – und Rehmann folgt ihm hierbei – die Perspektive einer Selbstvergesellschaftung der Menschen im Sinne einer gemeinschaftlich-konsensuellen Kontrolle der gesellschaftlichen Lebensbedingungen. Eine kritische Gesellschaftstheorie müsse sich auch für die vielfältigen „horizontalen“ Vergesellschaftungsformen (Erfahrungen der Kooperation und Solidarität) interessieren, in denen die Individuen ihr Zusammenleben ohne Dazwischenkunft übergeordneter ideologischer Instanzen regeln und entsprechende soziale Erfahrungen und Kompetenzen entwickeln. Im Alltagshandeln werden, so das PIT, das Ideologische, das Kulturelle, die horizontale Selbstvergesellschaftung und das Proto-Ideologische widersprüchlich miteinander verknüpft. Zur Bestimmung des Proto-Ideologischen verbindet Rehmann die Warenfetischismus-These mit Marxens Bemerkung über den „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse“, d.h. der Unterstellung, dass das kapitalistische System im Normalfall ohne Anwendung von „außerökonomischer, unmittelbarer Gewalt“ auskomme, weil die Arbeiterklasse die Anforderungen der kapitalistischen Produktionsweise als „selbstverständliche Naturgesetze“ anerkenne. Damit gelangt er zum (Fehl-?)Schluss, die im ökonomischen Feld produzierten „objektiven Gedankenformen“ nicht als Ideologien zu verstehen, sondern als Rohmaterial, das erst dann von den Ideologien – die ausschließlich im Staat verortet werden – bearbeitet werde. „Offenbar stellt dieser ,stumme Zwang‘ bereits die Weichen für die ideologische Unterstellung unter die bürgerliche Herrschaft, bevor die Ideologien anfangen, wortreich über ihn zu reden oder ihn angestrengt zu verschweigen, ihn zu rechtfertigen oder abzuleugnen.“(43) Auf Althussers Kritik (in seinem Text Marx in his limits) der marxschen Fetischanalysen als „vormarxistisches Relikt der Entfremdungstheorie“ geht Rehmann dabei leider nicht ausführlicher ein. Er kritisiert schließlich auch Gramsci und Foucault, weil sie nicht von „Entfremdungen und Fetischisierungen“ schreiben. Doch sind es nicht gerade diese beiden totalisierenden Kategorien (überhöht nur mehr durch „Verdinglichung“), welche eine konkrete Analyse historisch-sozialräumlich realer Situationen und Zusammenhänge – auf die es Rehmann doch zentral ankommt – be- und verhindern? Zwar sind sie Ausdruck herrschaftskritischer Intentionen, der präzisen Analyse scheinen sie aber nicht dienlich zu sein.
In den abschließenden drei Kapiteln des Buches werden die erarbeiteten ideologietheoretischen Instrumentarien am weltweit hegemonialen Neoliberalismus erprobt, u.a. an den Thesen von Friedrich A. Hayek sowie an Texten der governmentality studies: Rehmann versucht zu zeigen, dass die neoliberale Aktivierungsrhetorik der Managementliteratur von den governmentality studies „nur einfühlsam nacherzählt und theoretisch verdoppelt“ werde (210). Allerdings würde Foucaults Konzept der Gouvernementalität durchaus wertvolle Anregungen bieten, wenn es mit konkreten Analysen realer Herrschaftsverhältnisse bzw. gesellschaftlicher Spaltungen verbunden werde.
Jan Rehmanns Einführung in die Ideologietheorie besticht durch einen kompakten und kenntnisreichen Überblick über zentrale Ansätze der Ideologiekritik und der Ideologietheorie, in deren Mittelpunkt die umfassende Analyse von Herrschaftsverhältnissen sowie die Perspektive einer herrschaftsfreien Gesellschaft stehen. Auch aufgrund des Vorschlags, die innovativen Argumente der durchaus unterschiedlichen Ansätze zu verknüpfen, stellt dieses Buch eine ausgezeichnete Basis für weiterführende Diskussionen dar.





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