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In den Dreck gezogen
von Philipp Probst

Rezension: Mike Davis: Planet der Slums. Berlin: Assoziation a 2007. 20,60 €

Frühe Urbanisten stellten sich die Städte der Zukunft als „hoch zum Himmel strebende Lichterstädte“ aus „Glas- und Stahlkonstruktionen“ vor, getrieben durch die Verbindung aus „Kunst und Technologie“ – Zentren für Kultur, Wissenschaft und Wohlstand. Die Realität, beschreibt Mike Davis, sieht am Anfang des 21. Jahrhunderts anders aus. Statt Glas und Stahlgebilden lebt die Mehrzahl der städtischen Bevölkerung in Gebäuden aus „grobem Backstein, Stroh, recyceltem Plastik, Zementböden und Abfallholz“ „inmitten von Umweltverschmutzung, Exkrementen und Abfall“.
Als Planet der Slums 2006 erschien, war die Welt an einem Wendepunkt angelangt. Erstmals in der Geschichte der Menschheit lebten mehr Menschen in Städten als in ländlichen Gebieten. Für Mike Davis ist diese grundlegende Veränderung vergleichbar mit dem neolithischen Übergang oder der industriellen Revolution. „Es leben [heute] mehr Menschen in den Städten – 3,2 Milliarden – als 1960, in dem Jahr als John F. Kennedy Präsident wurde, auf der Welt gelebt haben.“ Der Großteil der in die Städte gezogenen Massen endete in Slums, sei es an der Peripherie oder inmitten von Metropolen. Mike Davis, Soziologe und marxistischer Politaktivist, stützt sich in seiner Beschreibung der Städte und Slums vor allem auf den Bericht The Challenge of Slums, der 2003 von U.N. HABITAT veröffentlicht wurde. Ein Bericht, den er als „so bahnbrechend, wie die großen Forschungen, die Engels, Mayhew, Charles Booth oder – in den USA – Jacob Riis im 19. Jahrhundert zu städtischer Armut gemacht haben“, beschreibt. Zwei Fragen stehen dabei für Mike Davis im Vordergrund. Wie ist diese enorme Urbanisierung abgelaufen und wie kam es dazu, dass mehr und mehr Menschen in die Städte strömten und in Slums endeten?
Im Vergleich zur Urbanisierung des viktorianischen Europas des 19. Jahrhunderts im Zuge der industriellen Revolution schreitet diese Entwicklung heute mit ungekannter Geschwindigkeit voran. Während es „1950 weltweit 86 Städte mit einer Bevölkerung von über einer Million [gab]“, ist diese Zahl heute auf 400 angewachsen und bis 2015 werden es mindestens 550 sein. „Seit 1950 haben die Städte fast zwei Drittel der weltweiten Bevölkerungsexplosion absorbiert und wachsen gegenwärtig jede Woche um eine Million Neugeborene und Zuwanderer.“ Dieser Zuwachs an städtischer Bevölkerung führte zur Entstehung von Megastädten mit mehr als acht Millionen EinwohnerInnen, also ca. der aktuellen Bevölkerungszahl Österreichs. In extremen Fällen entwickelten sich sogar Hyperstädte, die mit mehr als 20 Millionen ungefähr die Weltbevölkerung zur Zeit der französischen Revolution beherbergen. Mumbai wird sogar ein Bevölkerungsanstieg auf 33 Millionen Menschen in den nächsten Jahrzehnten prognostiziert, wobei niemand vorhersagen kann, ob eine solche Stadt überhaupt ökologisch lebensfähig wäre. Die ständig wachsenden urbanen Gebiete der Entwicklungsländer umfassen dabei oft nicht nur eine große Metropole, sondern schließen viele mittelgroße bis kleinere Städte mit ein, deren Grenzen mit der Zeit verschwimmen und die „völlig neue urbane Netzwerke, Korridore und Hierarchien [bilden]“, so genannte peri-urbanen Räume.
Mit seiner bildreichen Sprache beschreibt Mike Davis, wie „die riesige Amöbe Mexiko-Stadt, die sich schon die Stadt Toluca einverleibt hat, ihre Pseudopodien ausstreckt, um sich letztendlich fast ganz Zentralmexiko mit den Städten Cuernavaca, Puebla, Cuautla, Pachuca und Querétaro einzuverleiben – zu einer einzigen Megalopolis, die bis in die Mitte des 21. Jhdt ungefähr 50 Millionen Menschen zählen wird – nahezu 40 Prozent der mexikanischen Gesamtbevölkerung.“ Diese Einverleibung bleibt nicht ohne Folgen für die umliegende Bevölkerung. Der Journalist Jermey Seabrock beschreibt die Situation malaysischer Fischer aus Penang, die „von der Urbanisierung verschlungen wurden, ohne dass sie migriert wären, und deren Leben völlig umgekrempelt wurde, obwohl sie an dem Ort blieben, an dem sie geboren wurden.“ „Nachdem ihnen der Zugang zum Meer durch die Schnellstraße abgeschnitten, ihre Fischgründe durch städtischen Müll vergiftet und die benachbarten Berghänge für den Bau neuer Wohnungen abgeholzt worden waren“, blieb den Fischern, ihrer Existenzgrundlage beraubt, nichts anderes übrig, als Arbeit in Niedriglohnfabriken oder in Teilzeitjobs zu suchen.
Das städtische Wachstum findet dabei weltweit, mit den wenigen Ausnahmen China, Korea und Taiwan, ohne industrielle Entwicklung und wirtschaftliches Wachstum statt. Die Hoffnungen und Versprechen, die früher (zumindest für einen Teil der in die Stadt Gezogenen) an städtisches Wachstum geknüpft waren, Arbeitsplätze, Kultur, Chancen für persönliche und soziale Entwicklung, sind nicht mehr existent. Das Besondere am Phänomen der „Überurbanisierung“, schreibt Mike Davis, ist, dass die treibende Kraft der Land-Stadt-Migration nicht die Aussicht auf Jobs ist, sondern eher die Reproduktion von Armut. Wie die Afrikanistin Deborah Bryceson schreibt: „Des Rätsels Lösung liegt zum Teil an den durch IWF und Weltbank aufgezwungenen Maßnahmen zur landwirtschaftlichen Deregulierung und Sparpolitik, die den Exodus überschüssiger landwirtschaftlicher Arbeitskräfte in die urbanen Slums selbst dann noch vorantrieben, als die Städte längst aufgehört hatten als Jobmaschinen zu wirken.“ Die durch diese „Push-Faktoren“ in die Stadt Gedrängten landen meist in den Slums der Metropolen. In Kenia zum Beispiel wurden zwischen 1989 und 1999 85 Prozent des Bevölkerungswachstums „von den übel riechenden, dicht bevölkerten Slums Nairobis und Mombasas aufgesogen“. Mit einer Bevölkerungszahl zwischen 10 und 12 Millionen ist Mumbai die „globale Hauptstadt der Slums“ und es wird erwartet, dass die weltweite Zahl der SlumbewohnerInnen 2030 oder 2040 zwei Milliarden Menschen erreichen wird. Sie leben in überfüllten, ärmlichen bzw. informellen Unterkünften, meist ohne angemessenen Trinkwasseranschluss oder sanitäre Anlagen und mit einer „ungesicherten Verfügungsgewalt über Grund und Boden“. Weil sie an einer „Schnittstelle zwischen Unterentwicklung und Industrialisierung“ leben, leiden sie an für beide Seiten typischen Krankheitsbildern. Sowohl an durch Verschmutzung hervorgerufene Infektionen, als auch an chronischen und sozial bedingten Krankheiten.
Eine Ursache für die Überurbanisierung und die schlechte Situation der SlumbewohnerInnen ist der Verrat des Staates. So schreibt Davis, dass „die Idee eines interventionistischen Staates, der sich dem sozialen Wohnungsbau ernsthaft verpflichtet fühlt … entweder eine Wahnvorstellung oder ein schlechter Scherz [ist].“ Der Staat hat längst aufgegeben grundsätzliche Verbesserungen, wie Wasserversorgung, Kanalisation, Straßen, oder gar Schulen und Krankenhäuser, für die marginalisierte Masse in den Slums einzuführen. Ganz im Gegenteil: der Staat schien immer schon schneller in der Beseitigung von Slums als im Bereitstellen von Grundversorgung.
Die Schlüsselrolle fällt aber der Politik des IWF und der Weltbank zu. „Die minimalistische Rolle, die nationale Regierungen beim Wohnungsbau spielen, wurde und wird durch die von IWF und Weltbank bestimmte neoliberale Wirtschaftsdoktrin noch weiter reduziert.“
Für Davis sind die so genannten „Strukturanpassungsprogramme“ (SAPs) des IWF hauptverantwortlich, sowohl für den Exodus der ländlichen Bevölkerung in die Städte als auch den extremen Anstieg an städtischer Armut. Er zitiert den nigerianischen Autor Fildelis Balogun, der „die Ankunft des vom IWF angeordneten SAP“ in seiner Heimat in den 80ern beschreibt: „Die verquere Logik dieses Wirtschaftsprogramms schien darin zu liegen, der sterbenden Wirtschaft neues Leben einzuhauchen, indem aus der unterprivilegierten Mehrheit der Bürger zunächst aller Lebenssaft ausgepresst wurde. Die Mittelklasse verschwand schnell und die Abfallhaufen der reicher werdenden Minderheit wurden die Tafel der immer größer werdenden Menge der hoffnungslos Verarmten. Der Braindrain in die reichen arabischen Ölstaaten und die westliche Welt schwoll gewaltig an.“
Die vom IWF geforderten Ausgabenkürzungen im Gesundheits- und Sozialbereich, die Privatisierungen öffentlicher Güter, Streichung von Agrarunterstützungen und eine generelle Öffnung und Liberalisierung des Marktes, führten laut Davis zur gleichen Zeit zur Zerstörung ländlicher Ökonomie und zur Verringerung der Aufnahmefähigkeit der Städte. Wie zynisch diese Privatisierungen ablaufen, zeigt die Umwandlung von öffentlichen Toiletten in gebührenpflichtige. Während die SlumbewohnerInnen „in der Scheiße leben“, muss eine Familie in Kumsai für eine Stuhlentleerung etwa zehn Prozent ihres Grundlohns ausgeben.
Zusätzlich führten die SAPs zu einem enormen Anstieg informeller Beschäftigung und einer „generellen Umstrukturierung von formeller Arbeit in prekäre Beschäftigungsverhältnisse“. So auch die Schlussfolgerung von The Challenge of Slums: „Statt sich zu einem Zentrum für Wachstum und Wohlstand zu entwickeln, sind die Städte zum Müllabladeplatz für eine überschüssige Bevölkerung ungelernter, unterbezahlter und entgarantierter Arbeitskräfte … geworden … Der Aufschwung [dieses] informellen Sektors ist eine direkte Folge der Liberalisierung.“
Ein besonderes Augenmerk legt Davis auf die „Lösungsstrategien“ des neoliberalen Theoretikers Hernando de Soto. De Soto spricht von den Slums nicht als Problem, sondern als Lösung der städtischen Armut: die Städte der Dritten Welt leiden nicht so sehr unter fehlenden Investitionen und Arbeitsplätzen, sondern an einer künstlichen Verknappung von Besitzrechten. Die Armen sind seiner Argumentation nach eigentlich reich, sie haben nur keinen Zugang zu ihrem Reichtum (Immobilien im informellen Sektor) oder können ihn nicht in flüssiges Kapital verwandeln, weil sie keine Grundbucheintragungen oder Besitztitel vorweisen können. Besitztitel würden sofort sehr viel Eigenkapital schaffen und das zu geringen oder gar keinen Kosten für die Regierung. Doch sind es gerade die Mechanismen des Immobilienmarktes und der Immobilienspekulation, die eine große Mehrheit noch weiter in die Armut führen. Zusätzlich führt die Aufteilung der SlumbewohnerInnen in GrundstücksbesitzerInnen und MieterInnen dazu, dass jegliche Solidarität zwischen den SlumbewohnerInnen abhanden geht. Individualisiert, jede/r, ein/e einzelne/r MikrounternehmerIn, (obwohl die meisten „Selbstständigen“ als DienstbotInnen oder VerkäuferInnen eher als Angestellte betrachtet werden müssten), kämpft für sich, wobei niemand wirklich aus dem Sumpf des Slums emporsteigen kann. Im stärker werdenden Konkurrenzkampf wird nur die Armut anders verteilt. „Im Gegensatz zu den Mietshausbewohnern des 20. Jahrhunderts in Berlin oder New York, die zusammenhielten und sich gegen ihre Hausbesitzer, die Slumlords, solidarisierten, fehlt den heutigen Mietern in Slums bezeichnenderweise die Macht, Mieterorganisationen aufzubauen oder Mietstreiks zu organisieren.“
Planet der Slums ist ein düsteres Buch, das kaum Möglichkeiten für Lösungen aufzeigt. Davis gelingt es sehr gut, die Verknüpfung der Situation in und dem ständigen Anwachsen der Slums mit der internationalen und lokalen Politik im Zuge des Neoliberalismus darzustellen. Die Frage, wie diese „vereinzelte Masse“ sich gegen diese Zustände auflehnen kann, bleibt offen. Davis gibt nur selten Hinweise auf Hungerstreiks oder „Widerstand durch Verweigerung“. Auch wäre es interessant, mehr über die innere Struktur und Politik der Slums selber zu erfahren. Mike Davis selbst hat in einem Interview 2006 angemerkt, dass er eigentlich ein viel längeres Buch schreiben wollte, in dem er auch auf diese Punkte eingegangen wäre. Das soll jetzt in Kollaboration mit Forrest Hylton, Aktivist in Kolumbien und Bolivien, folgen. Hoffentlich wird es ein ebenso aufschlussreiches und interessantes Buch wie Planet der Slums.
(Philipp Probst)





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