Stefan Probst über bürgerliche und sozialdemokratische Imaginationen großstädtischer Armut um 1900 zwischen Säuberung, Sozialreform und Solidarität.
Im November 1831 erläutert die Sanitär-Kommission des Pariser Jardin des Plantes in den Annales d’hygiène publique et de médecine légale die gesundheitspolitische Situation in einigen Vierteln der französischen Hauptstadt. Dort würden sich, heißt es im Bericht, Personen herumtreiben, die „in Lumpen gehüllt, ohne Hemd, ohne Strümpfe, ja oft sogar ohne Schuhe bei jedem Wetter durch die Straßen ziehen und häufig völlig durchnäßt nach Hause zurückkehren …, beladen mit allerhand Produkten, die sie in den Gossen der Hauptstadt gefunden haben und deren Gestank mit ihrer Person so eins ist, dass sie selbst wandelnden Misthaufen gleichen.“ Als Schlafstätte diene ihnen ein schmutziger, stinkender Strohsack, umgeben von widerwärtigen Abfällen.1
Auffällig an diesem Bericht der Sanitär-Kommission ist nicht allein das Interesse für die Lage der Pariser Obdachlosen, sondern die Tatsache, dass die soziale Frage hier in erster Linie als hygienisches, gesundheitspolitisches Problem gestellt wird. Explizit wird die Verbindung zwischen sozialem Elend und dem Gestank der Armen herausgestrichen, der ein Risiko für die öffentliche Gesundheit darstellen würde.
In der zeitgenössischen medizinischen Diskussion galt der üble Geruch der Elenden als potentielle Bedrohung, da die im Gestank nistenden Miasmen als Träger gefährlicher Krankheiten begriffen wurden. Besonders seit den 1830er Jahren, der Zeit der großen Choleraepidemien in den europäischen Großstädten, strukturierte die Angst der Bourgeoisie vor Ansteckung durch aus dem „sozialen Sumpf“ aufsteigende Miasmen den bürgerlichen Blick auf das Elend der Großstadt und verfestigte so Stereotypen der Armen als mit Schmutz und Krankheit assoziierter Subjekte.
Der Vorstellung eines Zusammenhangs von Gestank und Krankheit begegnen wir bereits im 18. Jahrhundert. Der in jener Zeit forcierte Ausbau des Kanalisationssystems, die Anlage breiter Straßen usw. können als architektonische und stadtplanerische Taktiken gelesen werden, die – eingebettet in eine umfassende hygienepolitische Strategie – auf Durchlüftung, Desinfektion und Desodorisierung der Großstadt zielten.
Ab der Wende zum 19. Jahrhundert trat jedoch zunehmend der Schrecken eines bedrohlichen Menschensumpfs an die Stelle der Angst vor Aas und Jauche, in denen es von tödlichen Keimen wimmelte. In der Hierarchie der Befürchtungen und Ängste vollzog sich eine Verschiebung vom Lebenden zum Sozialen – zum Gestank der Armut, zu den „Sekretionen des Elends“.
Zunächst konzentrierte sich dieser Diskurs hauptsächlich auf den öffentlichen Raum, auf die Hospitäler, Gefängnisse und andere Orte, „wo Menschen unterschiedslos zusammengepfercht, wo die undifferenzierten Ausdünstungen der fauligen Masse zu vernehmen sind.“2 Die Choleraepidemien der 1830er lenkten die Aufmerksamkeit aber zunehmend auch auf die elenden Behausungen der Armen, auf ihre Latrinen, die bäuerlichen Misthaufen und den fettgetränkten, stinkenden Schweiß, den die Haut des Arbeiters absondere.3 Im Zuge der Seuchen hatten Ärzte und Soziologen entdeckt, dass „eine bestimmte Sorte Bevölkerung dem Ausbruch von Epidemien Vorschub leistet“, nämlich „all diejenigen, die im Gestank ihres eigenen Drecks verkommen.“4 Die Choleraepidemien schoben „die in den Jahrzehnten davor rasant angewachsenen Elendszonen der Großstädte blitzartig in den Blickwinkel einer – freilich sozial limitierten – öffentlichen Aufmerksamkeit.“5 Die zeitgenössischen Mediziner legten den Schwerpunkt ihrer Untersuchungen nun „mehr denn je auf die unheilvollen Wirkungen des menschlichen Gedränges und der von Exkrementen verseuchten Umgebung; vor allem aber wiesen sie den ‚Sekretionen des Elends’ von nun an eine entscheidende Bedeutung zu.“6
Die Angst des Bürgertums vor einem Übergreifen der Seuche aus den Elendsvierteln auf die eigenen Wohnviertel erzwang dabei auch eine taktische Verlagerung der gesundheitspolitischen Maßnahmen vom öffentlichen zum privaten Raum. In den Wohnräumen der Armen selbst müsse über die Gesundheit gewacht werden; die Mietshäuser der Elenden wurden „zum Ziel der Jagd auf Krankheitskeime“.7 Seit den 1830ern erschien in Folge eine Flut von Erörterungen über die Unterkünfte des gemeinen Volkes und die dort herrschende Atmosphäre. Die zwanghafte Angst vor den mit der Luft verbundenen Gefahren konzentrierte sich seither auf das Elendsquartier: nicht mehr allein die Kloaken des öffentlichen Raums, sondern der „Luftsumpf des Hauses“ beschäftigte die bürgerlichen Gelehrten. Es ging nicht mehr nur um die Desodorisierung des öffentlichen Raums, sondern um die „Entstänkerung“ der Elenden selbst. Denunziert wurde nicht mehr der Gestank überhaupt, sondern derjenige einiger besonders anrüchiger, mit dem Schmutz infizierter Kategorien – dem Proletariat.8
Wie sehr diese Typisierung der Armen in den folgenden Jahrzehnten wirksam blieb, zeigt ein Bericht eines französischen Arztes, der noch 1884 erklärte, dass die armen Einwohner von Lille „geringer sind als die reichen, und dies nicht wegen der Arbeit, die sie verrichten, sondern wegen ihres engen und schmutzigen Obdachs …, wegen der Unsauberkeit, die sie umgibt und sie durchdringt, wegen ihres dauernden Kontakts zu allerhand Unrat, den zu entfernen sie weder die Zeit noch die Mittel haben, ja den zu fürchten ihre Erziehung sie nicht einmal gelehrt hat.“ Haut und Kleidung der Armen würden den Gestank aufsaugen – und somit eine potentiell tödliche Bedrohung darstellen, die es einzudämmen und zu bekämpfen galt.9 Ziel der politischen Strategien waren die Keime und deren TrägerInnen zugleich: durch metaphorische Übertragung wurden die Armen selbst zur „sozialen Infektion“.10
Im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts nahmen die Versuche, Inspektionen in volkstümlichen Wohnungen vorzunehmen, rasant zu. Stadtteilkommissionen in französischen und englischen Städten sollten sämtliche Häuser in Augenschein nehmen, nach gesundheitsgefährdenden Missständen forschen und den Besitzern Auflagen im Sinne der Gesundheitspolizeivorschriften machen. Es galt, das „unbekannte Land“ der (proletarischen) Armenviertel zu erkunden und zu kartieren.
Die hygienepolitischen Maßnahmen waren dabei eng mit moralisierenden Absichten, sicherheitspolitischen Zielen und Bestrebungen zur Disziplinierung der ArbeiterInnenschaft verzahnt: Belüftung und Überwachung, Sauberkeit und Ordnung waren untrennbar miteinander verknüpft. Die Strategien der Hygienepolitik zeichneten sich, wie Alain Corbin schreibt, durch eine symbolische Gleichsetzung von Desinfektion und Unterwerfung aus: es ging um die Beseitigung der „dumpfige[n] Luft der sozialen Katastrophen“ (Victor Hugo), womit Epidemien gleichermaßen wie sozialer Aufruhr gemeint waren. Durch die „Desodorisierung“ des Proletariers sollte dieser auch „zu Disziplin und Arbeit“ gezwungen werden.11 Schon 1821 erläuterte der Berichterstatter des Pariser Gesundheitsrats, Moléon, dass die Hygiene ein unübertreffliches Mittel „gegen die Laster der Seele [sei] …; ein auf Sauberkeit bedachtes Volk ist bald ein Freund der Ordnung und Disziplin“.12 Zwanzig Jahre später erklärten Monfalcon und Polinière, dass der Arbeiter dadurch, dass er „in ausreichender Menge gesunde Luft atmet und über viel Wasser für seine täglichen Bedürfnisse verfügt“, auch „mehr Achtung für Sauberkeit und die Gesetze“ hat und „mehr auf die Erfüllung seiner Pflichten“ hält.13 Zudem verhindere der in den Elendsquartieren herrschende Luftmangel auch eine Entfaltung der Arbeitskraft. Was oft als Faulheit gesehen würde, sei in Wirklichkeit fast immer eine Schwächung durch die verdorbene Atmosphäre ungesunder Wohnungen. Ventilation und Desodorisierung seien deshalb nicht allein gesundheitspolitische sondern auch ökonomische Notwendigkeiten.
Obwohl die Elendsquartiere der Großstädte von der Bourgeoisie in erster Linie als Bedrohung wahrgenommen wurden, so übte die Unterseite der prosperierenden Metropolen doch auch eine faszinierende Anziehungskraft auf die bürgerliche Öffentlichkeit aus. Als Erzählstoff gingen die missbilligenden Beschreibungen übelriechender Unterkünfte in den Sozialenquetes in die volkstümlichen Romane ein, deren Autoren sich häufig von den Berichten der Sozialforscher inspirieren ließen.14 Die Spannung zwischen Faszination und Ekel bestimmte sowohl die Haltung der Hygieniker und Sozialforscher als auch der Literaten und Journalisten sowie der breiteren bürgerlichen Öffentlichkeit. Die Elendsquartiere stellten ein enormes „Reservoir von Geschichten, Bildern und moralischen Impulsen“ bereit, „das in den bislang dem Blick abgewandten Zonen der Großstädte entdeckt wurde“15 und in der realistischen Literatur, in Kolportage- und Fortsetzungsromanen, in Lichtbildvorträgen, in der Fotografie und schließlich auch im Film verarbeitet wurde.
Um die stinkenden Unterkünfte der Armen zu erreichen, musste man sich auf eine quasi unterirdische Forschungsreise in den „menschlichen Abgrund“ begeben. Ein symbolischer Graben mußte überwunden werden, um in die räumlich segregierten Armenviertel vorzudringen – der „unbekannte Kontinent“ eines „Afrika at home“16 als Faszinosum und Projektionsraum bürgerlicher Fantasien und Ängste. Als „soziale Entdeckungsreisende“ drangen seit den 1830er-Jahren Literaten, Journalisten, Maler, Zeichner und später Fotografen „in ein großstädtisches Leben vor, das sie voller unbekannter Phänomene, starker Kontraste und schockierender Erfahrungen vorfanden. Sie bedienten das Publikum der neuen (großstädtischen) Medien mit Sensationen, ermittelten Fakten, deckten Missstände auf, klagten an oder bekämpften direkt die herrschende Ordnung.“17 Die Faszination des „Anderen“ der Großstadt – die Kehrseite der „Wunder der Civilisation“ (Engels) – finden wir in Charles Dickens’, ursprünglich als Fortsetzungsroman veröffentlichtem, Oliver Twist ebenso wie bei Jack London, aber auch bei den Pionieren der Stadtforschung wie Henry Mayhew und Charles Booth oder den sozialdokumentarischen Berichten des Polizeireporters der New York Tribune Jacob A. Riis. Parallel zu den Reiseberichten der kolonialen Expeditionen, die die Imagination des Exotischen im bürgerlichen Europa bedienten, erfreuten sich Geschichten über die „Wilden“, die „in unserer Mitte leben“, reißenden Absatzes. Das ethnographische Interesse galt ebenso dem „Fremden im Eigenen“ wie den militärischen Abenteuern und wissenschaftlichen Entdeckungen in Übersee.
Vor allem bei AutorInnen aus dem Umfeld philanthropischer und karitativer Vereinigungen verband sich dieser kolonial-ethnographische Blick meist mit der Absicht, soziale Missstände aufzudecken und zu korrigieren, als Teil einer „breit angelegten Therapie, die dem Pathologischen in der Gesellschaft entgegenwirken“ sollte.18 In der (religiösen) Erbauungsliteratur wurde in pädagogischer Absicht der unmoralische Lebenswandel der Elenden angeprangert, der für deren Situation zumindest mitverantwortlich sei. Bildern verwahrloster Straßenkinder wurden Fotografien gegenübergestellt, die den zivilisierenden – und disziplinierenden – Effekt der Einrichtungen der Armenfürsorge (Armenschule, Kinderheime, Arbeitshäuser usw.) verdeutlichen sollten. „Vorher/Nachher“-Aufnahmen sollten die verwandelnde Wirkung der Mildtätigkeit der Philanthropen (Anständigkeit, Eignung als Arbeitskraft, „Zähmung“ des „Wilden“) veranschaulichen.19 Die enge Verbindung zwischen Stadtforschung mit Programmen der zivilisatorischen „Hebung“ der unteren Klassen wird auch hier als „Wechselspiel zwischen Erkundungstätigkeit und Kolonisierungsarbeit deutlich.“20
Zu den aufsehenerregendsten Bildern des „Spektakels der Armut“ zur Wende zum 20. Jahrhundert gehört sicherlich der sozialdokumentarische Lichtbildervortrag des Wiener Amateurfotografen Hermann Drawe, der gemeinsam mit dem Journalisten Emil Kläger als einer der Ersten das großstädtische Elend in Wien dokumentierte. Drawe und Kläger inszenierten ihre Arbeit als Expedition in die unterirdischen „Quartiere des Elends und des Verbrechens“ des Wiener Kanalisationssystems, in das sie, gekleidet ins „Kostüm“ des Obdachlosen, vordrangen und das „unglaubliche“, „grauenhafte“ Dasein der Elenden festhielten. Schon der Titel des Vortrages (die Assoziation von Elend und Verbrechen) verdeutlicht freilich, dass es Drawe und Kläger – unter dem Deckmantel der Sozialdokumentation – viel eher darum ging, dem bürgerlichen Publikum „die Lebensbedingungen der Obdachlosen als ein schauriges Schauspiel“ vorzuführen, das genau deren klischeegeladene Vorstellungswelt bediente, zugleich aber mit dem Verweis auf die scheinbare Objektivität der Fotografien authentifiziert wurde. Verstärkt wurde die Schockwirkung der Bilder noch durch die räumliche Nähe zwischen dem verborgenen, unterirdischen Wien und dem „normalen“ Wien der Oberfläche, die die Bilder nahe legten: eine bedrohliche Parallelwelt, eine „Unterwelt“, nagte am Fundament der bürgerlichen Gesellschaft. „Tatsächlich dürfte nicht zuletzt durch die räumliche Metaphorik das Entsetzen der Bürger nicht darauf beruht haben, die Notlage des Proletariats vor Augen geführt zu bekommen“, sondern es als Zeichen für die „Brüchigkeit der eigenen Existenz zu nehmen.“21
Es überrascht daher nicht, dass die sozialdemokratische Arbeiter-Zeitung gegen den Einsatz der Bilder und Geschichten bei Drawe/Kläger, aber auch in der zeitgenössischen illustrierten Massenpresse, polemisierte. Die Kritik lautete, dass die Bilder der bürgerlichen Öffentlichkeit Gelegenheit gaben, das „alltägliche“ Elend der ArbeiterInnen zu verschleiern oder sie in die Nähe der – ohnehin bereits verlorenen – „Jammerexistenzen“ zu rücken, und damit in die Nähe von Verruchtheit und Verbrechen. Zugleich hatte die Sozialdemokratie auch ein grundlegendes Problem mit isolierten Bildern, die sich einem analytischen Zugriff verweigerten. In der Tradition der „antivisuellen Rhetorik“ der Aufklärung waren „nackte Bilder“ in der ArbeiterInnenbewegung verpönt, da sie weder die Schuldigen benannten, noch Lösungen aufzeigten. Darüber reflektierte z.B. der marxistische Fotograf Bruno Frei, der das Elend der jüdischen Flüchtlinge des Ersten Weltkriegs in Wien dokumentierte. Nach Frei könnten die Bilder zwar die erschreckenden Ausmaße und Formen des Elends aufzeigen, nicht aber dessen Grund, den Kapitalismus, benennen. Erst mit den – vom frühen Sowjetkino der 1920er inspirierten – Montagetechniken konnte „das Bild als Teil einer eindeutig an Text und Theorie orientierten Komposition zum Bestandteil sozialistischer Aufklärung und Propaganda“ werden.22
Diese Kritik verschleiert dennoch, dass sich auch die sozialdemokratische Massenpresse durch Boulevardmedien, Fotografie und neue Darstellungstechniken herausgefordert sah – und auch darauf reagierte. Am deutlichsten wird das in den Sozialreportagen des Redakteurs der Arbeiter-Zeitung (seit 1902) und Armenpfleger im Verein gegen Verarmung und Bettelei in Wien Max Winter, der seine Unternehmungen genauso im Vokabular des Entdecker- und Abenteurertums beschrieb. „Seine Figuren entstiegen ebenfalls einer Unterwelt, aber anders als bei Drawe und Kläger nicht einer, aus der sich die bürgerlichen Bedrohungsbilder speisten, sondern vielmehr direkt aus der Tradition der Wiener Volksschauspiele und Typen, jener also, die ihrer misslichen Lage zum Trotz dennoch Lebensklugheit, Witz und Widerständigkeit bewahren.“23 Winter inszenierte seine Reportagen als „Entdeckungsreise in eine von der Moderne verdrängte und bald zum Verschwinden gebrachte Kultur und Tradition“ – ein „romantisch-ethnographischer Zugang“ auf der Suche nach den letzten „echten Wienern“.24 Gezielt streute er Begrifflichkeiten der „Gaunersprache“ in seine Texte ein, was seinen „Reiseberichten“ nicht nur höhere Authentizität verleihen sollte, sondern auch „die Assoziation von Elendsmilieu und Verbrechen“ bediente, „die den Texten eine moralische Ambivalenz zwischen sozialem Appell und Exotismus“ verlieh.25 Der Effekt der Spektakularisierung und Ästhetisierung der Armut bei Max Winter war somit deren gleichzeitige Dramatisierung und Romantisierung, weniger in seinen immer noch lesenswerten Industriereportagen, sehr wohl aber in den „Expeditionsberichten“ aus dem Wiener Kanal.
Gemein war den Repräsentationen großstädtischen Elends jedenfalls eine meist objektivierende und passivierende Darstellungsform. Nicht allein Ursachen und Lösungen des sozialen Elends blieben unbenannt; auch für konkretere sozialpolitische Maßnahmen ist kaum belegt, ob die Elendsbilder jemals dabei halfen, soziale Missstände zu mindern. „In jedem Fall aber wirkten sie regelmäßig auf jene zurück, die entdeckt oder deren Lebensbedingungen aufgedeckt wurden, indem sie zu Objekten von Mitleid, Anklage oder politischem Kalkül wurden.“26
Als kämpfende, handlungsfähige Subjekte werden die Armen der Großstadt nicht wahrgenommen. Sie kommen nicht selbst (oder allenfalls als Typen) zu Wort, man spricht über sie und mobilisiert sie für die jeweils eigenen Ziele. Und auch für Max Winter sind die „krankhaft veranlagten unter ihnen“ ohnehin bereits „rettungslos verloren“.27
Die für die Politik der Armenfürsorge charakteristischen Hierarchien zwischen barmherzigen GeberInnen und demütigen EmpfängerInnenn, zwischen „Entdeckern“ und „Entdeckten“ – in der bürgerlichen Philanthropie und Charity ebenso wie in der christlichen Caritas –, schrieben sich somit auch in die Narrative der sozialdemokratischen Sozialreportage ein. Das Subproletariat der Großstadt wird zur Projektionsfläche; die sozialkritische Dimension der Sozialreportage tritt in den Hintergrund.
Je mehr seit der Jahrhundertwende die staatlichen Versicherungssysteme gegen Unfälle, Krankheit, Arbeitslosigkeit usw. durchgesetzt werden konnten – „im Tausch gegen ein berechenbares Verhalten“ des Proletariats28 –, desto stärker gewannen die „verlorenen Seelen“ der sozial Marginalisierten, der von der sozialstaatlichen Risikogemeinschaft Ausgeschlossenen an Faszination: als Objekte von Ekel und Neugier, Mitleid und Barmherzigkeit, jedenfalls aber nicht als kämpfende Subjekte politischer Veränderung.
Dies ist umso tragischer, als sich gerade der zentrale Kampfbegriff der ArbeiterInnenbewegung, die Solidarität, in expliziter Abgrenzung zu hierarchisierenden Vorstellungen der Armenfürsorge entwickelt hat: als „Herstellung einer Kampfgemeinschaft im Wissen um die gleichartige Betroffenheit durch die soziale Konfiguration des Industriekapitalismus.“29 Selbstgestellte Aufgabe der ArbeiterInnenbewegung ist demnach die Formierung von dem, was Antonio Gramsci als „historischen Block“ bezeichnet hat, d.h. von politischen Kollektiven, die – unter Führung des Proletariats – auch die anderen Fraktionen der Subalternen im Kampf miteinbeziehen. Dabei steht nicht so sehr im Vordergrund, welches Gewicht die Marginalisierten und Deklassierten, in der marxistischen Diskussion oft abschätzig als „Lumpenproletariat“ Bezeichneten, in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen spielen können, sondern sie als potentielle MitstreiterInnen ernstzunehmen und auf deren spezifische Interessenslagen einzugehen.
1 Corbin, Alain: Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs, Berlin 2005, S. 194f.
2 Ebd., S. 189
3 Ebd., S. 300
4 Ebd., S. 191
5 Schwarz, Werner M./ Szeless, Margarethe/ Wögenstein, Lisa: Bilder des Elends in der Großstadt (1830-1930), in: dies. (Hg.): Ganz unten. Die Entdeckung des Elends, Wien 2007, S. 9-17, hier S. 12
6 Corbin: a.a.O., S. 191
7 Ebd., S. 189
8 Ebd., S. 196
9 Ebd., S. 197f
10 Vgl. zur politischen Metaphorik der entstehenden Bakteriologie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts z.B. Sarasin, Philip: „Anthrax“. Bioterror als Phantasma, Frankfurt/M. 2004, S. 137ff.
11 Ebd., S. 191
12 Ebd., S. 209
13 Ebd., S. 209
14 Ebd., S. 201
15 Schwarz et al.: a.a.O., S. 12
16 Lindner, Rolf: Ganz unten. Ein Kapitel aus der Geschichte der Stadtforschung, in: Schwarz et al. (Hg.): a.a.O., S. 19-25, hier S. 20
17 Schwarz et al.: a.a.O., S. 12
18 Corbin: a.a.O., S. 209
19 Koven, Seth: Gustave Doré und Dr. Barnardo. Zur Darstellung der Armut im viktorianischen London, in: Schwarz et al. (Hg.): a.a.O., S. 35-39, hier S. 38
20 Lindner: a.a.O., S. 21
21 Schwarz et al.: a.a.O., S. 10
22 Ebd., S. 16
23 Ebd., S. 10
24 Ebd., S. 10
25 Mattl, Siegfried: Das wirkliche Leben. Elend als Stimulationskraft der Sicherheitsgesellschaft. Überlegungen zu den Werken Max Winters und Emil Klägers, in: Schwarz et al. (Hg.): a.a.O., S. 111-117, hier S. 113
26 Schwarz et al.: a.a.O., S. 17
27 Zit. n. Mattl: a.a.O., S. 114
28 Ebd., S. 116
29 Tenfelde, Klaus: Arbeiterschaft, Solidarität und Arbeiterbewegung, in: Bayertz, Kurt (Hg.): Solidarität. Begriff und Problem, Frankfurt/M. 1998, S. 195-201, hier S. 197