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Aufstand in der Vorstadt: Wiens verborgene Klassenkämpfe um 1900
von Veronika Duma, Tobias Zortea, Katherina Kinzel und Fanny Müller-Uri

Veronika Duma, Tobias Zortea, Katherina Kinzel und Fanny Müller-Uri erzählen die verborgene Geschichte der Klassenkämpfe in den Randbezirken Wiens um 1900. Dabei zeigt sich, dass die Aufstände der im Elend lebenden ArbeiterInnen und des multiethnischen „Lumpenproletariats“ auch die Wiener Sozialdemokratie in Bedrängnis brachten.

Wien, im Jahre 1911. Die ersten Monate des Jahres sind geprägt von vielfältigen sozialfeindlichen Reformen seitens der Regierenden, beginnend bei einer Steigerung der Milch- und Fleischpreise über neue Mietgesetzregelungen bis hin zu damit einhergehenden Mieterhöhungen. Ende Juli 1911 konstatiert der Sozialdemokrat Franz Schuhmeier in einer Parlamentsrede: „Es ist beschämend, daß wegen jeder Tonne Fleisch Straßendemonstrationen stattfinden müssen und daß sich die Bevölkerung mit der Polizei herumraufen muß, die ja genau so billiges Fleisch braucht wie die Demonstranten.“1
Die Wohnungsnot zwingt viele Menschen dazu, zusammengepfercht auf engstem Raum zu leben, teilweise auch in Schlafsälen in ArbeiterInnenhäusern: „In einem dieser Säle“, so Victor Adler, „hatte erst vor kurzem eine Frau in der Gegenwart von ‚50 halbnackten, schmutzigen Männern‘ entbunden: ‚Sprechen wir nicht von Schamhaftigkeit, sie ist ein Luxus, den sich nur Besitzende leisten können.‘ (…)“2 Auch die sozialdemokratische Arbeiter Zeitung (AZ) thematisiert die Verelendung: „Die Lagerhalter unserer Konsumvereine erzählen, wie die Arbeiterfrauen sich immer mehr mit Surrogaten behelfen müssen, wie sie Suppenwürze kaufen statt des Fleisches und Erbswurst statt der Linsen. Die Pferdefleischhauer3 erzählen uns, daß die Frauen von Beamten der neunten und zehnten Rangklasse ihre Kunden geworden sind. (…) Und daß die Arbeiter heute schlechter wohnen als vor zehn Jahren, daß sie mehr und mehr mit Untermietern und Bettgehern den engen Wohnraum teilen müssen, weiß jedermann. Das ist Verelendung!“4
Im September desselben Jahres kommt es daher in vielen Wiener Außenbezirken, beispielsweise in Simmering, Ottakring und Hernals zu Protestversammlungen und vereinzelten, keinesfalls gewaltfrei verlaufenden Demonstrationen „gegen die Hungerpolitik“ der Regierung.5 Für den 17. September 1911 wird von der Sozialdemokratie zu einer Demonstration auf der Ringstraße aufgerufen: „Das hungernde Volk wird am Sonntag seine Stimme erheben, der Schrei der Empörung wird durch die Straßen Wiens erschallen.“6 Dieser Aufruf bleibt nicht ungehört: Hunderttausend Menschen versammeln sich an jenem Tag zwischen Rathaus und Burgtheater.7 Die Sozialdemokratie stellt keine „Ordnungskräfte“, wie es sonst üblich war.
Dies und die Erfahrungen mit den jüngsten Ausschreitungen veranlassen den Statthalter und ehemaligen Ministerpräsident Freiherr von Bienerth dazu, den DemonstantInnen ein unverhältnismäßig großes Polizei- und Militäraufgebot gegenüberzustellen.8 Das offizielle Ende der Demonstration wird von den sozialdemokratischen VertreterInnen gegen Mittag ausgerufen – in späteren Berichten sollten sie darauf bestehen, dass das, was in weiterer Folge geschah, kein Zeugnis der organisierten ArbeiterInnenschaft war.

Aufstand der Vorstadt
Als die Menschen in Richtung Innere Stadt marschieren, provoziert die Staatsmacht die sich auflockernde Menschenmenge: Polizisten, Kavallerie und Infanterie ziehen zwischen Hofburg und Burgtheater auf, um die übrig gebliebenen DemonstrantInnen vom Platz zu verweisen. Mit gezogenen Säbeln und geschwungenen Stöcken reiten Polizisten und Militär durch die abziehenden Menschenmassen.9 Sie werden über den Ring getrieben und brutal niedergestoßen, bis schließlich vor dem Sitz des Verwaltungsgerichtshofs am Judenplatz und in der Burggasse erste Schüsse fallen.10 Noch ist unklar, von wem diese abgefeuert wurden, doch die Wut der bereits durch das massige Aufgebot von Militär und Polizei provozierten Menschen wird dadurch noch größer. Steine, Ziegel und Stöcke werden geworfen, Fensterscheiben zerbrechen; die ersten Menschen werden festgenommen, darunter auch Frauen und Jugendliche.
Die DemonstrantInnen aus der Vorstadt ziehen weiter über die Burggasse und die Lerchenfelderstraße zum Gürtel in Richtung Ottakring. Die Proteste dauern bis in den späten Abend. Kaum eine Auslage, kaum eine Straßenlaterne bleibt heil; eine Wachstube in der Panikengasse wird gänzlich demoliert. „Gartengeschirre, Bierkrügel und Steine“11 werden aus den Fenstern der Zinskasernen auf Polizei und Militär geschleudert. Schulen werden gestürmt und mit brennenden Einrichtungsgegenständen verbarrikadiert, Schulhefte und Dokumente zerrissen und verbrannt; Wurfgeschosse werden gesammelt. Immer wieder wird seitens der Ordnungskräfte Feuerbefehl gegeben und „über die Köpfe der Menge geschossen“.12 Bald gibt es die ersten Toten. „Erst gegen zehn Uhr abends, als Ottakring in völliger Dunkelheit lag, brachten Polizei und Militär die Lage unter Kontrolle.“13
In der AZ vom darauf folgenden Tag distanziert sich die Sozialdemokratie von diesen Vorfällen, indem sie konstatiert, dass der Großteil der ArbeiterInnenschaft bereits vor Beginn der Eskalation abgezogen sei und danach „junge Burschen“14 aus der Vorstadt die Geschehnisse dominiert hätten. „Ein Polizeibericht kommt zum Schluß, daß unter diesen jugendlichen Demonstranten Halbwüchsige aus Ottakring in einem überproportionalen hohen Ausmaß vertreten waren und daß dieser Gemeindebezirk offenbar der ‚Hauptsitz der Exzendenten‘ ist.“15 „Zur Seite traten der Straßenjugend die Frauen und Mütter, zu denen, wie die Arbeiter-Zeitung beklagte, ‚die Aufklärung so schwer kommen kann‘ und die dort, ‚wo es ihre Pflicht wäre, klar und hart zu denken‘, sich vom Schauspiel der Zerstörung mitreißen ließen und in ihren Schürzen den Jungen die Steine zutrugen – jenen Jungen, die, wie aus dem Boden gestampft, nun plötzlich alle Gassen und Plätze bevölkerten.“16
Im Folgenden wollen wir einen Blick auf die gesellschaftliche Situation „hinter“ diesen Unruhen werfen und untersuchen, wie die „anarchischen“ Vorstädte mit ihren ArbeiterInnen und dem sogenannten „Lumpenproletariat“ entstanden, wie sie als Projektionsfläche bürgerlicher Zuschreibungen dienten und welche Bedeutung sie für die sich formierende Sozialdemokratie hatten.

Migration nach Wien
Wien erlebte im Laufe des 19. Jahrhunderts einen enormen Bevölkerungsanstieg. Um 1900 lebten schließlich mehr als zwei Millionen Menschen in der Stadt.17 Die Wachstumsrate war dabei jedoch keineswegs regelmäßig über die Stadt verteilt – einen überproportional starken Bevölkerungszuwachs wiesen die Vorortgemeinden auf. Dies ist auf zwei, etwa zeitgleich verlaufende Entwicklungen zurückzuführen: einerseits auf die massive Immigration nach Wien, der Hauptstadt des Habsburgerreiches, sowie andererseits auf die sukzessive räumliche Verdrängung der unteren sozialen Schichten aus dem Stadtzentrum in die peripheren Gebiete Wiens.18
Der Grund für die zunehmenden Migrationsbewegungen nach Wien liegt in den tiefgreifenden politischen und ökonomischen Veränderungen des 19. Jahrhunderts. Im Zuge der – in Österreich verspätet einsetzenden – Industrialisierung büßten ländliche Gegenden ihre zentrale Rolle im Produktionsprozess gegenüber den neuen, städtischen Industriezonen ein.19 Die Revolution von 1848 brachte die Aufhebung der Grunduntertänigkeit mit sich – die Bauern waren jetzt Staatsbürger und (potentielle) Eigentümer des Bodens – und schuf so die Voraussetzung für eine zunehmende Kapitalisierung des Bodens wie für eine Mobilisierung der Menschen.20 Darüber hinaus zog die vom „Wiener Börsenkrach“21 ausgehende ökonomische Depression krisenhafte Tendenzen in der Landwirtschaft nach sich, die von einer Reihe an Missernten und dem immer stärker werdenden Preisdruck durch billiges Getreide aus Amerika begleitet wurden.22 Massive Pauperisierungsprozesse, Dorfarmut und eine faktische Entvölkerung einzelner ländlicher Gebiete waren die Folge und ein Mitgrund für die großen Migrationsströme in die Stadt. Zudem kam diese Binnenwanderung dem steigenden Bedarf an Arbeitskräften entgegen, der in Wien als einem expandierenden urbanen und industriellen Zentrum herrschte. Wien wirkte damit – mehr als irgendeine andere Stadt in der Habsburgermonarchie – wie ein Magnet auf die ehemaligen BäuerInnen oder LandarbeiterInnen. Diese kamen zumeist als un- oder wenig qualifizierte Arbeitskräfte in die Stadt, um in Industrie, Gewerbe oder in privaten Haushalten zum Beispiel als Dienstmädchen zu arbeiten.23 Die zugezogenen Menschen stammten nicht nur aus der ländlichen Umgebung Wiens, sondern wanderten aus den verschiedenen Kronländern der Monarchie ein. Die meisten MigrantInnen kamen aus Böhmen, Mähren und Schlesien.24 Vor allem die südlichen Regionen dieser Länder waren kaum industrialisiert und fungierten daher als agrarisches Hinterland der Reichshauptstadt. Entsprechend der Arbeitsmöglichkeiten siedelten sich die von den ländlichen Gebieten in die Stadt ziehenden Menschen vor allem in den Vororten und industriellen ArbeiterInnenvorstädten an.

Die Stadt als Zwiebel
Durch diese Entwicklung wurden sozialräumliche Verteilungsmuster verfestigt, die parallel dazu durch stadtpolitische Entwicklungen auf anderen Gebieten entstanden waren.25 Wien erfuhr in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine entscheidende, bauliche Umgestaltung. Im Zuge der Ringstraßenverbauung und der damit verbundenen Transformation der alten Gewerbevorstädte zu Mittelschichtsquartieren fand eine räumliche Verdrängung der sozialen „Unterschichten“ in die Gebiete jenseits des ehemaligen Linienwalls – dem heutigen Gürtel – statt.26 Die neu gebaute Ringstraße markierte nicht nur eine räumliche, sondern auch eine soziale Grenze. Würde eine grobe Skizze der räumlichen Aufteilung der sozialen Klassen und Schichten in Wien entworfen, hätte sie die Form einer Zwiebel: während es sich der Adel und das (Groß-)Bürgertum in der Innenstadt gemütlich machten, waren in den inneren Vorstädten (außerhalb des Rings) zum Großteil KleinbürgerInnen und Beamten angesiedelt. Rund um den Linienwall befand sich das Reich der IndustrieproletarierInnen und der sozialen „Unterschichten“. „Bis zur Jahrhundertwende war ein stabiler Ring von dicht bebauten Arbeitervorstädten um die Innergürtelbezirke und die Innenstadt gezogen“.27 Nur der 13., 18. und 19. Bezirk beherbergten mit ihren Villen und Cottagevierteln die Ober- und höhere Mittelschicht. Am höchsten war die Dichte von ArbeiterInnen und dem so genannten „Lumpenproletariat“ in Bezirken wie Simmering, Favoriten, Brigittenau, Floridsdorf oder Ottakring. Das Bild dieser Vorstädte war von der zunehmenden Industrialisierung geprägt, von rauchenden Fabriken sowie von rasanter Stadterweiterung, meist in Form von Zinskasernenbauten. Die ProletarierInnen siedelten in ArbeiterInnenwohnquartieren in der Nähe ihrer Arbeitsstätten; ob des Fehlens von leistungsfähigen Verkehrsmitteln war es notwendig, dass die Wohnorte nicht zu weit von der Fabrik entfernt lagen. Die Mieten für die Unterkünfte in den Vorstädten waren exorbitant hoch, die Wohnverhältnisse katastrophal. Jeden Abend wurden unzählige Obdachlose von der Polizei aus dem Inneren der Stadt in die Vororte außerhalb des Linienwalls gebracht.28

terra incognita
Die Wiener Außenbezirke sowie die dortigen, miserablen Lebensverhältnisse um 1900 waren also das Resultat sozialer und städtebaulicher Exklusion. Die Vorstadt diente dabei auch als Projektionsfläche herrschaftlicher Zuschreibungen und Phantasien: In den Berichten von Großstadtreportern, Sozialforschern, schreibenden Ärzten und Polizisten wurde das Elend der Vorstadt – zum Teil aus sozialreformerischer Intention – ausführlich portraitiert. Die Absicht, die Wohn- und Lebensbedingungen in der Vorstadt und den Industrievierteln zu dokumentieren und ins öffentliche Bewusstsein zu rücken, wurde dabei von Bildern der Unordnung, des Elends und der Kriminalität überformt. Der Ruf der Vorstadt als einer finsteren und lasterhaften Gegend, in der EinwanderInnen, DienstbotInnen, ProletarierInnen, Kriminelle, Prostituierte und Arbeitslose „ihr Unwesen treiben“, wurde in diesen Bildern verfestigt.
Die Viertel der Armen verkörperten aus bürgerlicher Sicht eine „terra incognita (…), die es zu erkunden und kartieren gilt“29. Dementsprechend wurden die Sozialreportagen jener Zeit als „Entdeckungsreisen“ in die Dunkelheit menschlicher Abgründe inszeniert. Emil Kläger „entdeckte“ auf seiner Expedition in die „Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens“ (1908) die „Kanalmenschen“, ähnlich wie die kolonialen Entdeckungsreisenden „Wilde“ und „Pygmäen“ „entdeckt“ hatten. Und auch wenn der sozialdemokratische Publizist Max Winter größere Sympathien für die Objekte seiner Reportagen zeigte – „seine“ Unterwelt war von „anpassungsfähigen“, gewitzten Figuren bevölkert, die sich trotz widriger Umstände durchs Leben schlugen –, partizipierte die von ihm eingesetzte Rhetorik des Entdecker- und Abenteurertums dennoch an der Ambivalenz „zwischen sozialem Appell und Exotismus“30.
Der sozialen und städtebaulichen Exklusion der ArbeiterInnenklasse und der „Unterschichten“ entsprach also ein Diskurs, der die Vorstadt als das „Andere“ der bürgerlichen Gesellschaft konstruierte und sie sowohl mit Ekel, als auch mit Faszination besetzte31. Das soziale Elend wurde pathologisiert, die Vorstadt erschien gleichermaßen als Ort der Krankheit, der Kriminalität, der Unmoral, sowie der ethnischen Durchmischung. Sie war „Brutstätte des Lasters und wie sittlich, so auch sanitär verseucht“32. Die Ambivalenz zwischen Abwertung und Begehren zeigt sich besonders deutlich an den sexualisierten Bildern des Elends. Die Gestalt der Dirne stand in klarem Gegensatz zur männlich-bürgerlichen Sexualmoral und fungierte zugleich als deren Projektionsfläche. Indem sie das Niedere und Rohe sexueller Ausschweifungen symbolisierte, stellte sie gleichzeitig ein „‚groteskes‘ Objekt der Lust“33 dar, wie sie auch die Angst vor dem Verlust der Distanz zwischen innerer und äußerer Stadt verkörperte.
Gleichzeitig trug die Schaffung einer kulturellen Distanz zwischen Zentrum und Peripherie auch zur Selbstkonstitution der bürgerlichen Klasse bei. Durch die Abwertung der popularen Volkskultur „reinigte“ sich die Bourgeoisie symbolisch von der sozialen Kontingenz ihrer eigenen Herkunft.34 Das durch diese Distanzierung erzeugte „Andere“ der Zivilisation stellte sich nun aber auch als deren Bedrohung dar: „An die Stelle der realen Lebenswelt der Vorstadt, an die Stelle des Fabrikarbeiters, des Handwerkers, des Ladenmädchens und der Heimarbeiterin treten Stereotype von prototypischen Unruhestiftern, potentiellen Revolutionären, Vagabunden, Kriminellen und ein ambivalent besetzter Kosmos weiblicher Sexualität mit leichtfertigen Mädchen und professionellen Prostituierten.“35 Die Bedrohungen, die von den als amorph, unberechenbar und anarchisch imaginierten Massen der Vorstadt auszugehen schienen, waren gleichzeitig sittlicher und politischer Natur. Die Angst vor der Erschütterung bürgerlicher Moral und die Angst vor politischen Unruhen und Revolten gingen Hand in Hand.

Das „Lumpenproletariat“ und die Sozialdemokratie
Vor diesem Hintergrund versuchte die sich Ende des 19. Jahrhunderts formierende Sozialdemokratie die „anarchischen“ Zustände in den Vorstädten politisch zu regulieren. Ihre Position blieb dabei lange widersprüchlich, da ihre politische Ausrichtung während des Gründungsprozesses noch nicht völlig festgelegt war: In den 1870er und 1880er Jahren rangen die „Radikalen“, die den revolutionären Bruch mit dem kapitalistischen System propagierten, und die „Gemäßigte“ die für eine streng legalistische Überwindung des Kapitalismus mit Hilfe des Staatsapparates eintraten36, um die Dominanz in der ArbeiterInnenbewegung. Mit den unterschiedlichen Positionen waren auch divergierende Vorstellungen vom zu organisierenden Proletariat als dem revolutionären Subjekt verbunden. Die „Radikalen“ rechneten auch das „Lumpenproletariat“, die Arbeitslosen und Tagelöhner zur ArbeiterInnenklasse und wollten diese politisch mobilisieren. In den Augen der „Gemäßigten“ galt es demgegenüber, die IndustriearbeiterInnen zu organisieren sowie zu disziplinieren und infolge das „Volk“ und die „großen Massen des Mittelstandes“ für den Sozialismus zu gewinnen.37
Bis zur Gründung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) auf dem Hainfelder Parteitag 1889 hatte sich in der Sozialdemokratie die Position der Gemäßigten durchgesetzt. So schwor sich die SDAP dort auf einen „gesetzlichen Weg“38 zur Überwindung des Kapitalismus und der rückständigen Staatsordnung der k. u. k. Monarchie ein. Die Grundlage dafür sollte die Mobilisierung und Organisierung der (industriellen) ArbeiterInnenschaft bilden, die „mit dem Bewusstsein ihrer Lage und Aufgaben erfüllt, geistig und physisch kampffähig gemacht und erhalten“ werden sollte. Dabei schrieb sich die SDAP selbst die zentrale Rolle zu.39 Nicht der unmittelbare oder gar gewaltsame Kampf um die politische Macht stand im Vordergrund, sondern die Konstituierung des Proletariats als politisch bewusste Klasse wurde als erste Aufgabe der Sozialdemokratie gesehen.40 In der politischen Praxis orientierte man sich dementsprechend an der Ausweitung rechtlicher Handlungsspielräume und an der Modernisierung der Gesellschaft des Habsburgerreiches.41
Allerdings waren die staatlich-institutionellen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt: Die SDAP fand oft keine Bündnispartner und konnte ihre Politik wenig bis gar nicht durchsetzen. „Stagnation und Defensive ließen sie auf ihr traditionelles Instrumentarium der Politik der Straße zurückgreifen“42. So setzte die Sozialdemokratie auch 1911, als sie sich im Parlament nicht durchsetzen konnte, im Kampf gegen die massiven Teuerungen der Lebensmittel auf die Massenmobilisierung der Vorstädte im Rahmen einer Großdemonstration.
Das war deshalb möglich, weil die Organisationsstruktur und Macht der SDAP in Wien auf den Vorstädten basierte. Diese waren zum einen lange von den „Radikalen“ dominiert und wiesen zum anderen eine hohe Durchmischung und Verschmelzung von IndustriearbeiterInnen und „Lumpenproletariat“ auf. Daher waren sie die Grundlage der sozialdemokratischen Organisation – allein die Ottakringer Parteiorganisation trug doppelt soviel zur Parteikasse bei wie ganz Böhmen.43 Dass die SDAP in Wien nicht bloß eine Partei der regulären IndustriearbeiterInnen war, sondern auch auf der Organisation der Vorstadt als einem „Terrain der Politik“ beruhte, lässt sich auch an sozialdemokratischen Biographien festmachen; etwa jener des Ottakringer Volkstribuns Franz Schuhmeiers, der als Sohn eines Arbeitslosen vom Hilfsarbeiter zum Parlamentarier aufstieg.44

Widersprüchliche Reaktionen
Die aus den Widersprüchen zwischen Selbstverständnis, politischer Strategie und realer Situation in den Vorstädten erwachsenden Ambivalenzen zeigten sich in den Reaktionen der Sozialdemokratie auf die Hungerrevolte von 1911. Anders als z. B. die Freie Presse konnte es sich die SDAP nicht leisten, den Aufstand der Vorstadt „feindlichen“ Elementen des „Lumpenproletariats“ zuzuschreiben; es war ein Aufstand der Vorstadt und damit der sozialdemokratischen Massenbasis. So schreib etwa die AZ, das Sprachrohr der SDAP: „Die blutigen Ereignisse vom Sonntag waren ein Produkt der Verzweiflung, und wenn man sie ausschließlich auf das Sündenkonto des ‚Mobs‘ oder des großstädtischen Lumpenproletariat zu schreiben sucht, so hat dies eine nur sehr bedingte Berechtigung.“45 Denn es sei offensichtlich, „dass auch ruhige Arbeiter und Arbeiterinnen, durch Verzweiflung übermannt, sich zu Handlungen hinreißen ließen, die sie bei ruhiger Überlegung unterlassen hätten“.46 Doch ebenso wird in der AZ deutlich, dass der Aufstand der Vorstadt nicht der Politik und strategischen Ausrichtung der SDAP entsprach: „Gewerkschaften und Partei hatten die ‚Kontrolle‘ über die Arbeiter verloren – ein grundlegendes Dilemma der Parteitaktik wurde offenbar: die Mittel außerparlamentarischer Konfliktsymbolisation erwiesen sich als unzureichendes Druckmittel zur Belebung der parlamentarischen Tätigkeit, sie drohten vielmehr in direkte Konfrontation mit einer zum Einsatz aller Gewaltmittel entschlossenen Staatsgewalt zu münden“.47 Auch die Reaktion der AZ am Tag nach den Unruhen wies darauf hin, dass die offene Konfrontation mit der Staatsgewalt auf der Straße eher vermieden werden sollte: „Sozialdemokraten“ und „Arbeiter“ wurden aufgefordert „jede weitere Demonstration zu unterlassen“ und sich auf die Partei zu verlassen; die Vertrauensleute der Partei wurden angehalten, für Ruhe zu sorgen, und die „Eltern Ottakrings“ sollten ihre Kinder nicht auf die Straße lassen.48

Zwischen „Anarchie“ und Organisation
Die Betrachtung der Wiener Vorstädte um 1900 relativiert das stereotype Bild der Stadt zur Jahrhundertwende – das bürgerliche Idealbild der Weltstadt Wien als kulturellem und künstlerischem Zentrum, als Stadt von Jugendstil-Architekten, Malern und Kaffeehausliteraten. Wie in anderen industriellen Zentren, etwa London oder Paris, bildete auch in Wien die steigende Zahl der ArbeiterInnen und des „Lumpenproletariats“ einen wesentlichen Teil der Stadtbevölkerung. Wohnungsnot, Hunger und Ausbeutung kennzeichneten den Alltag. Die Vorstädte Wiens wuchsen durch die Verdrängung der sozialen „Unterschichten“ aus der Inneren Stadt in die Außenbezirke sowie durch die Zuwanderung aus verschiedenen Gebieten der Habsburgermonarchie massiv an. Im bürgerlichen Diskurs Faszination und Ekel bzw. potentielle Bedrohung zugleich darstellend, bildeten die Vorstädte die Basis für die Formierung der Sozialdemokratie, die später mit dem Projekt des Roten Wien für eine neue Stadtpolitik stand. Dabei wirkte die neue Partei nicht nur organisierend, sondern tendierte ebenso zu Regulierung und Kontrolle des „Wilden Proletariats“ in den Vorstädten. Die Sozialdemokratie spielte somit eine ambivalente Rolle, die sich zwischen Organisierung und Aktivierung einerseits, und Regulierung der „anarchischen Zustände“ in den Vorstädten andererseits bewegte.

Anmerkungen
1Arbeiter Zeitung (AZ), Nr. 205, 28. Juli 1911 (XXIII. Jahrgang)
2 Maderthaner, Wolfgang/Musner, Lutz: In dieser Gegend scheint nie die himmlische Sonne. Wiener Vorstädte um 1900, in: Schwarz, Werner Michael (Hg.): Ganz unten. Die Entdeckung des Elends. Wien, Berlin, London, Paris, New York. Wien Museum Karlsplatz, 14. Juni bis 28. Oktober 2007, Wien 2007, S.83-89
3 Pferdefleischkonsum war und ist nicht nur besonders umstritten, sondern galt vor allem auch als minderwertig und Armeleuteessen.
4 AZ, Nr. 247, 8. September 1911, Morgenblatt (XXIII. Jahrgang)
5 vgl. AZ, Nr. 250, 11. September 1911, Mittagsblatt (XXIII. Jahrgang)
6 AZ, Nr. 251, 12. September 1911, Morgenblatt (XXIII. Jahrgang)
7 vgl. AZ, Nr. 257, 18. September 1911, Mittagsblatt (XXIII. Jahrgang)
8 vgl. Maderthaner, Wolfgang/ Musner, Lutz: Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt/Main 2000, S.23
9 vgl. AZ, Nr. 257, 18. September 1911, Mittagsblatt (XXIII. Jahrgang)
10 vgl. ebenda
11 ebenda
12 Maderthaner, Wolfgang/ Musner, Lutz 2000, a.a.O, S.31
13 ebenda, S.33
14 AZ, Nr. 257, 18. September 1911, Mittagsblatt (XXIII. Jahrgang)
15 Maderthaner, Wolfgang/ Musner, Lutz 2000, a.a.O, S.25
16 ebenda, S.32
17 vgl. Fassmann, Heinz/Hatz, Gerhard/ Patrouch, F. Joseph: Understanding Vienna, Wien 2006, S. 161
18 vgl. Maderthaner, Wolfgang/ Musner, Lutz 2000, a.a.O, S.66
19 vgl. Bruckmüller, Ernst: Sozialgeschichte Österreichs, Wien 2001, S. 211
20 vgl. ebenda, S. 266 und Komlosy, Andrea: Empowering and Control. Conflicting Central and Regional Interests in Migration Within the Habsburg Monarchy, in: Fahrmeir, Andreas u.a.: Migration Control in the North Atlantic World, UK 2003, S. 155f.
21 1873 stürzten die Aktienkurse an der Wiener Börse aufgrund einer Überhitzung der Konjunktur ins Bodenlose. Der „Wiener Börsenkrach“ läutete das Ende der Gründerzeit ein, die auf ihn folgende Depressionsphase wird oft als „Gründerkrise“ bezeichnet.
22 vgl. Maderthaner, Wolfgang/ Musner, Lutz 2000, a.a.O, S.39
23 vgl. Komlosy, Andrea 2003, a.a.O. S. 155ff.
24 vgl. ebenda, S.155ff.
25 vgl. Maderthaner, Wolfgang/ Musner, Lutz 2000, a.a.O, S.39, S.41f.
26 vgl. Banik-Schweitzer, Renate: Zur sozialräumlichen Gliederung Wiens, Wien 1982, S.15ff.
27 Maderthaner, Wolfgang/ Musner, Lutz 2000, a.a.O, S.54 und S.51f
28 vgl. ebenda, S.54 und S.51f.
29 Lindner, Rolf: Ganz unten. Ein Kapitel aus der Geschichte der Stadtforschung, in: Schwarz, Werner Michael (Hg.) 2007, a.a.O., S.19
30 Mattl, Siegfried: Das wirkliche Leben. Elend als Stimulationskraft der Sicherheitsgesellschaft. Überlegungen zu den Werken Max Winters und Emil Klägers, in: Schwarz, Werner Michael (Hg.) 2007, a.a.O., S.113
31 vgl. Probst, Stefan: Faszination Elend, in: Perspektiven. Magazin für linke Theorie und Praxis, Nr. 3, 2007, S.40-43
32 Eichhorn, Rudolf: Ein Nachtrag zur materiellen Lage des Arbeiterstandes in Österreich. Floridsdorf und Umgebung, ein sociales Bild, in: Österreichische Monatsschrift für Christliche Socialreform, Bd.6, 1884, S.483
33 vgl. Maderthaner, Wolfgang/ Musner, Lutz 2000, a.a.O, S.96
34 vgl. ebenda, S.89
35 ebenda, S.87
36 vgl. Staudacher, Anna: Sozialrevolutionäre und Anarchisten. Die andere Arbeiterbewegung vor Hainfeld, Wien 1988, S. 80ff. und S.117
37 ebenda, S.5 und S.81
38 ebenda, S.80
39 vgl. Maderthaner, Wolfgang/ Müller Wolfgang C.: Die Organisation der österreichischen Sozialdemokratie 1889-1995, Wien 1996, S. 31f.
40 vgl. Ardelt, Rudolf G.: Vom Kampf um Bürgerrechte zum „Burgfrieden“, Wien 1994, S.11
41 vgl. ebenda, S.39
42 Maderthaner, Wolfgang/ Musner, Lutz 2000, a.a.O, S.96
43 vgl. Maderthaner, Wolfgang/ Müller Wolfgang C.1996, a.a.O., S.65
44 vgl. Maderthaner, Wolfgang/ Musner, Lutz 2000, a.a.O, S.199
45 AZ, Nr. 258, 19. September 1911 (XXIII. Jahrgang)
46 ebenda
47 Ardelt, Rudolf G.,1994, a.a.O., S. 45
48 vgl. AZ, Nr. 257, 18. September 1911, Mittagsblatt (XXIII. Jahrgang)





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