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Revolution im “falschen Kommunismus”
von Maria Asenbaum

Das Jahr 1956 war ein besonderes Krisenjahr für die herrschenden Eliten der stalinistischen Diktaturen. In zwei Ländern manifestierten sich die Konflikte zwischen dem Staatsapparat und der Bevölkerung in besonderem Ausmaß, zuerst bei ArbeiterInnen-Aufständen in Polen und schließlich in Ungarn mit einer echten Revolution. Maria Asenbaum stellt die Ereignisse 1956 in die Tradition des Sozialismus von unten.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs und der imperialistischen Neuaufteilung Europas fiel Osteuropa unter russische Kontrolle. Der so genannte Kommunismus der sich in Ländern wie Polen, Tschechien, Rumänien, Bulgarien und Ungarn etablierte, war weder durch soziale noch politische Revolutionen von unten erkämpft, sondern von externen Kräften eingeführt worden. Die kommunistischen Parteien in diesen Ländern hatten bis dahin nicht zwangsläufig eine wichtige Rolle gespielt.1 Sie verbreiteten ihre Macht in den Nachkriegsjahren nicht durch politischen Zuspruch aus der Bevölkerung, sondern über den Aufbau eines bürokratischen Verwaltungs-Apparates, gestützt durch sowjetische Militär-Präsenz. Es entstand eine neue Klassenstruktur in Osteuropa. Die wirtschaftliche Umverteilung, die natürlich in erster Linie russischen Interessen diente, ermöglichte innerhalb der Länder eine gewisse soziale Mobilität. ArbeiterInnen und BäuerInnen konnten durch eine Mitgliedschaft in den wachsenden kommunistischen Parteien in privilegierte Stellungen aufsteigen. Die stalinistische Ideologie wurde überall verbreitet und wurde Teil des Alltagslebens der Menschen. Doch all das konnte die Tatsache nicht verschleiern, dass das wirtschaftliche und politische Schicksal dieser Länder von nun an von Moskau aus diktiert wurde, ein Umstand gegen den sich die betroffen Menschen mehr als ein Mal zur Wehr setzten.

Polen – Widerstand und Repression

Die polnische Bevölkerung litt in den 50er Jahren schwer unter der sowjetischen Ausbeutungspolitik. Der Lebensstandard der polnischen ArbeiterInnen fiel zwischen 1949 und 1955 um zehn Prozent. Vierzig Prozent der nationalen Produktion wurde für die Großindustrie verwendet, anstatt den Bedürfnissen der Bevölkerung zu dienen. Auch der strategische Kurswechsel der sowjetischen Eliten im Jahr 1953 bedeutete für die Menschen keine tatsächliche Verbesserung ihrer Lebenssituation.
Das Jahr 1953 war ein Wendepunkt für die Kommunistische Partei Russlands. Unter dem Druck der Revolten in Ostdeutschland und ermöglicht durch den Tod Stalins wurde in vielen der so genannten „Volksdemokratien“ eine liberalere Politik eingeführt. In Polen waren die wirtschaftlichen Zugeständnisse eher halbherzig und oft erst erreicht, wenn die ArbeiterInnen selbst dafür eintraten. So gab es gegen die sinkenden Löhne und die steigende Arbeitszeit immer wieder kleinere Streiks, wie in Danzig und Warschau. Politisch wurden allerdings durch die Lockerung der Zensur neue Spielräume für kritische Auseinandersetzung mit der Regierungspolitik eröffnet. Mitte der 50er traten Studierende, JournalistInnen und sozialistische AutorInnen2 eine Welle der Kritik am Regime los. Im Zentrum der kritischen Debatten stand eine Gruppe, die sich als „Oktober Linke“ bezeichnete. Die studentische marxistische Wochenzeitschrift Po Prostu, die bis zu 90.000 LeserInnen erreichte, wurde in Polen zum wichtigsten Medium der Kritik gegen das Regime. Viele Artikel behandelten den chaotischen Zustand der Industrie und die Probleme, die offiziell nicht existierten (z.B. 300.000 Arbeitslose), aber sie portraitierten auch die unglaublichen Privilegien der herrschenden Bürokraten-Klasse und kontrastierten diese mit der Lebenssituation der ArbeiterInnen.
Auch in den Betrieben wurden die Unmutsäußerungen immer lauter. Die Arbeitsbedingungen hatten sich zunehmend verschlechtert. Am 28. Juni 1956 entlud sich die angestaute Wut der ArbeiterInnen in Posen. 16.000 FabriksarbeiterInnen mit selbst angefertigten Bannern zogen durch die Straßen und skandierten “Wir wollen Brot!”, “Wir wollen niedrigere Preise und höhere Löhne!”. Leute aus den umliegenden Fabriksgebäuden und Geschäften schlossen sich der Demonstration an. Bald hatte sich ein Drittel der gesamten Stadtbevölkerung vor dem Rathaus versammelt und forderte: “Wir wollen Freiheit!”, “Nieder mit dem falschen Kommunismus!”, “Nieder mit den Russen!”.
Die spontane Massendemonstration entwickelte immer mehr Dynamik. Ein Teil der Demonstration marschierte weiter zum Stadtgefängnis, um dort politische Gefangene zu befreien, die Waffen der Wärter wurden konfisziert. Ein anderer Teil der Menge übernahm die Radiostation. Die gesamte Machtstruktur wurde plötzlich herausgefordert.
Die Regierung in Warschau antwortete mit Spezialeinheiten der Armee. Bis zum Abend übernahmen diese mit ihrer überlegenen Bewaffnung wieder die Kontrolle über die Stadt. Der Aufstand, auch wenn teilweise am nächsten Tag noch weiter gekämpft wurde, war in den späten Stunden niedergerungen. Am nächsten Tag erst konnte der Rest der polnischen Bevölkerung direkt aus der offiziellen Parteizeitung erfahren was geschehen war:
“Feindliche Agenten haben erfolgreich Unruhen provoziert. Die Geschehnisse gingen so weit, dass öffentliche Gebäude attackiert wurden, Todesopfer waren die Folge … Die Organisatoren dieser Aktion, eine breit und sorgfältig vorbereitete Provokation, werden die volle Härte der Gesetze zu spüren bekommen. … Die Provokation in Posen war von Feinden unseres Vaterlandes organisiert.”3

Doch ein wachsender Teil der herrschenden Klasse sah in Posen eine Warnung. Weitere Aufstände wären sicher nicht wieder so einfach niederzuschlagen. Der reformistische Flügel innerhalb der Regierung wurde durch den Aufstand in Posen gestärkt. Der Widerspruch jedoch zwischen Reformern und jenen, die Reformen verabscheuten, spitzte sich immer weiter zu – bis im Oktober 1956 sogar ein Bürgerkrieg drohte. Doch am 18. Oktober rollten russische Panzer in Polen ein um genau diesen zu verhindern und die Macht der Anti-Reformer zu stärken.

Ungarn – die Revolution bricht aus

Während die Unzufriedenheit in Polen 1956 dahinbrodelte, kochte sie in Ungarn über. Um die Situation in Ungarn 1956 zu erklären, müssen erst die zuvor liegenden, von Moskau gelenkten, Regierungsmanöver betrachtet werden, die letztendlich zu einer Fraktionierung der politisch herrschenden Klasse Ungarns führten. Bis 1953 wurde der 5-Jahresplan Stalins in Ungarn unbarmherzig umgesetzt. Die Schwerindustrie wuchs um 210%, während der Lebensstandard der Bevölkerung kontinuierlich sank. Exekutiert wurde diese harte Wirtschaftspolitik bis zum Jahr 1953 durch die Regierung um Mátyás Rákosi4. Dann leitete Chruschtschow auch in Ungarn einen Kurswechsel ein. Die neue politische Leitfigur war Imre Nágy mit seiner Idee des „nationalen und menschlichen Sozialismus“. Er sollte Unruhen vorbeugen und so kam es zu einigen Reformen, im Sinne der arbeitenden Bevölkerung: ArbeiterInnen sollten höhere Bezüge erhalten und die Wirtschaftspläne weniger überspannt werden, den Bauern wurden die Strafen für nicht-vollbrachte Zwangsablieferungen gestrichen und Partei und Staatsapparat sollten stärker getrennt werden. Ungarn erlebte 1953 den Beginn einer neuen Epoche – eine Epoche des „Neuen Kurs“. Die Gruppe um Imre Nágy setzte diese Reformen jedoch nicht ohne Widerstand aus der eigenen Partei um. Rákosi lehnte diese strikt ab. Auch das Zentralkomitee der KPdSU in Moskau war alles andere als ein homogener Block. Nicht einmal zwei Jahre nach der Einführung dieser Reformen schwang das ZK der KPdSU nach einem Besuch Rákosis in Moskau um und Rákosi wurde der Rücken gestärkt.5
Mitte 1956 konzentrierte sich die Diskussion in ganz Ungarn auf die Politik der Diktatur der KP. Das Zentrum der Kritik stellte der so genannte Petöfi-Kreis6 dar. Das war vorerst ein studentischer Diskussionszirkel, der sich mit Fragen marxistischer Philosophie und Realpolitik beschäftigte. Bald wurden aber immer größere Veranstaltungen organisiert und die Themen wurden immer brisanter: der wirtschaftspolitische Kurs Ungarns, Demokratie, Pressefreiheit, uvm. Die TeilnehmerInnen waren RegierungskritikerInnen, vor allem aus privilegierten Milieus, wie Universität, Verwaltungsapparat oder Armee. Mit diesem Zirkel formierte sich ein zweites politisches Zentrum in Ungarn, welches die Politik des Zentralkomitees der MDP (kommunistische Partei Ungarns) herausforderte.
Im Juli 1956 musste Rákosi aufgrund der immer stärkeren Opposition, nicht zuletzt bedroht durch die Entwicklungen in Polen, zurücktreten. Der ehemalige Chef der Staatsschutzbehörde (AVH) und Mitstreiter Rákosis Ernö Gerö nahm seinen Posten ein. Doch die kritischen Stimmen wurden immer lauter, auch in den Betrieben begannen die ArbeiterInnen nach und nach Fragen zu stellen. Die Stimmung unter den Intellektuellen und unter den ArbeiterInnen heizte sich auf.

Massenaufstand in Budapest

Am 22. Oktober riefen einige StudentInnengruppen zu einer Demonstration in der Hauptstadt auf, um ihre Solidarität mit “unseren polnischen Brüdern” auszudrücken. Vielleicht wäre es auch bei einem friedlichen Zeichen der Solidarität geblieben, wären die Menschen nicht gleich mit der Willkür ihrer eigenen herrschenden Klasse konfrontiert worden, die die Demonstration zunächst erlaubte und diese Erlaubnis kurz danach wieder entzog. Trotzdem, oder gerade deswegen, versammelten sich 100.000 Menschen am Platz vor der Statue von Josef Bem7. In flammenden Reden wurden Reformen gefordert. Reformen, wie eine eigene, von Russland unabhängige Politik, auf Basis sozialistischer Prinzipien. Betriebe sollten von ArbeiterInnen selbst geführt werden. Gewerkschaften sollten zur echten Repräsentantin der Interessen der ungarischen ArbeiterInnenklasse werden. Und natürlich die Forderung nach freien Wahlen.
Der Protestmarsch schien schon vorüber zu sein. Die Kundgebungen gehalten. Doch die Menschen wollten sicher gehen, dass ihre Forderungen tatsächlich erfüllt werden. Langsam bewegte sich die Menge weg vom Platz der Bem-Statue hin Richtung Parlament. Die Demonstration radikalisierte sich. “Raus mit den Russen!”, “Nieder mit Rákosi!”, “Freie und geheime Wahlen!”, “Nágy an die Macht!”. Die Demonstration schwoll immer mehr an. Über Radio sprach Gerö zu den Menschen. Seine Rede machte klar, dass die Gruppe um ihn keinen Politikwechsel vorhatte.
Zum Gefühl der Solidarität und Stärke kam nun auch das Gefühl der Bitterkeit, der Wut. Ein großer Teil der Demonstration marschierte im Anschluss weiter zur Radiostation, um Gerö zu antworten. Ein anderer Teil marschierte zum Stadtpark und riss die Stalin-Statue nieder. Ein weiteres verhasstes Symbol der Diktatur stellte sich den Menschen bei der Radiostation entgegen. 500 Soldaten der Staatsschutzbehörde AVH bewachten sie. Es kam zu erbitterten Straßenschlachten zwischen der Polizei und den sich spontan bewaffnenden DemonstrantInnen. In diesem Moment begann in Ungarn die Revolution. Entgegen den Beteuerungen der Propaganda waren nicht einzelne Individuen am Werk, sondern ein großer Teil der Budapester Bevölkerung.
Ein Reporter aus Jugoslawien beschreibt die Situation folgendermaßen:
„Tausende Menschen eigneten sich Waffen an, indem sie Soldaten entwaffneten. Einige dieser Soldaten solidarisierten sich mit den erbittert kämpfenden Massen. Es wird berichtet, dass sie in Baracken eingebrochen und die Waffenfabrik Budapests eingenommen haben. Auf den Straßen tauchten Maschinengewehre und sogar leichte Infanterie auf. Gemäß den Augenzeugenberichten sind die Behörden handlungsunfähig, es ist ihnen nicht möglich die blutigen Auseinandersetzungen zu beenden.“8

Der ungarische Staatsapparat drohte völlig zusammenzubrechen. Am 23. und 24. Oktober geriet die Budapester Führung dermaßen in Panik, dass einige in die Untergrundbunker flohen, die für die ArbeiterInnen nicht zugänglich waren. Die reguläre Polizei war machtlos und in Budapest liefen 1.200 Offiziere angeführt vom Polizeichef Sandor Kopasci zu den DemonstrantInnen über.

Doppelherrschaft

Die Herrschenden mussten reagieren. Am nächsten Morgen verkündete Gerö die Bildung einer neuen Regierung mit Imre Nágy als Ministerpräsident, was einer Forderung der Aufständischen entsprach. Die Auseinandersetzungen gingen jedoch auch unter der neuen Regierung weiter.
Am dritten Tag der Kämpfe, am 26. Oktober, begannen die Menschen Strukturen zu schaffen, um ihrer neuen Macht Ausdruck zu verleihen und effizienter zu agieren. Sie formierten “Revolutionäre Räte” in den Städten und Stadtvierteln, in den Dörfern, in Zeitungsbüros und in Schulen, auf Bauernhöfen und in den Fabriken. Die Räte organisierten die Revolution und das Alltagsleben. Sie waren die Koordinationspunkte um Kampfstrategien weiterzuentwickeln, aber sie organisierten auch die Arbeit in den Fabriken und die Verteilung von Lebensmitteln und anderen Gütern. Sie waren der Ausdruck von Demokratie und Selbstverwaltung in dieser revolutionären Phase, sie zeigten das Potenzial der ArbeiterInnenklasse, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Die Räte machten klar, dass es den Menschen in der ungarischen Revolution um eine tatsächliche Umstrukturierung der gesellschaftlichen Verhältnisse ging, mit dem zentralen Punkt der Kontrolle der ArbeiterInnen über die Produktion. So wurde bei einer Versammlung von 24 Räten aus Budapest eine Resolution verabschiedet, die unter anderem folgende Punkte enthielt:
- Die Fabriken sind Eigentum der ArbeiterInnen.
- Die Kontrolle über ein Unternehmen wird von dem demokratisch gewählten ArbeiterInnenrat ausgeübt.
- Die Rechte der ArbeiterInnenräte werden folgendermaßen definiert:
o Die Zustimmung und Ratifizierung aller Projekte, die das Unternehmen betreffen
o Die Festlegung des Lohnniveaus
o Die Entscheidungsbefugnis über alle Verträge im Export-Bereich
o Finanzierungsentscheidungen
o Einstellungs- und Entlassungspolitik
o Die Ernennung eines Leiters des Unternehmens, der dem Rat gegenüber                                 verantwortlich ist.9

Das Netz der Rätestrukturen wurde immer größer und ihre Forderungen radikaler. In solch einer Situation konnte die Regierung auf zwei Arten reagieren: Entweder sie versuchte, den Aufstand und die daraus entstandenen Strukturen blutig niederzuschlagen, oder durch große Zugeständnisse auf die Forderungen der Masse einzugehen und damit die revolutionäre Krise zu entschärfen. Die Regierung entschied sich für zweiteres. Am 30. Oktober verkündete Nágy: “Das Kabinett wird das Ein-Parteiensystem abschaffen und die Regierung auf die Basis demokratischer Kooperation der Parteien von 1945 stellen.”10 Die ArbeiterInnenräte, so wurde versprochen, sollten offiziell eingebunden werden. Bis Anfang November wurden immer mehr der populären Figuren der Revolution in die Regierung integriert. In den Räten selbst stellte sich nun die Frage, ob man dieser neuen Regierung vertrauen, oder eine eigene, in Form eines zentralen ArbeiterInnenrats, gründen sollte. Während in den Revolutionären Räten noch diskutiert wurde, wurde von Moskau aus bereits die Konter-Revolution vorbereitet.

Verrat und Konterrevolution

Am 4. November rückten russische Panzer in Budapest ein. Die ungarische Regierung wollte sich den Invasoren nicht kampflos ergeben. Imre Nágy verkündete:
“Heute im Morgengrauen haben sowjetische Kräfte begonnen unsere Hauptstadt anzugreifen, um offensichtlich die legale, demokratische ungarische Regierung zu stürzen. Unsere Truppen kämpfen. Die Regierung ist im Amt.“11

Aber wenige Stunden später hatte die russische Armee alle strategisch wichtigen Punkte in der Stadt eingenommen. Nágy und die anderen Minister mussten fliehen. Doch in ganz Ungarn griffen die ArbeiterInnen zu den Waffen und stellten sich der einrückenden russischen Offensive entgegen. In Csepel, Újpest, in Pécs, in Miskolc und in Dunapentele – überall strömten Menschen auf die Straßen um die Revolution zu verteidigen.
Die russische Armee setzte ihren Angriff ohne Gnade fort. In ihrer Verzweiflung baten die Aufständischen den Westen um Hilfe. Doch sie hatten keine Unterstützung zu erwarten. Der westlichen herrschenden Klasse war klar, dass diese Revolution, auch wenn gegen ihren Feind den Stalinismus gerichtet, nicht in ihrem Interesse war. Außerdem hätten sie damit eine Eskalation des Konflikts zwischen den großen imperialistischen Blöcken riskiert.
Als Russland die Kontrolle nach schweren Kämpfen und mehr als 20.000 Toten wieder erlangte, übergaben sie sie an die neue ungarische Regierung unter Ministerpräsident János Kádár. Trotzdem war der Widerstand noch nicht gebrochen. Die Industrieproduktion war gestoppt, es gab keine Elektrizität, die Nahrungsvorräte neigten sich dem Ende zu und das Telefonnetz und die Post funktionierten nur dann, wenn die ArbeiterInnen es wollten. Auch wenn sie militärisch geschlagen waren, ihre mächtigste Waffe gaben die ArbeiterInnen Ungarns nicht so schnell aus der Hand. Sie organisierten einen Generalstreik. Die Organisation des Streiks war weitaus schwieriger in dieser Situation. Viele der ArbeiterInnen hatten die Hoffnung auf einen Sieg längst aufgegeben. Nun war es wichtig die Kräfte zu bündeln, wenn doch noch etwas erreicht werden sollte. Am 8. November fand ein Koordinationstreffen der Budapester ArbeiterInnenräte statt und ein Zentraler ArbeiterInnenrat wurde gegründet. Man einigte sich auf die folgenden Forderungen: Die Betriebe sollten Eigentum der ArbeiterInnen unter der Kontrolle der Räte werden, die Macht der Räte sich auch auf die wirtschaftlich, soziale und kulturelle Sphäre ausweiten, eine eigene Miliz sollte geschaffen werden und ein Mehr-Parteien System auf sozialistischer Basis etabliert werden.12 Allerdings war zu diesem Zeitpunkt bereits klar, dass diese Forderungen nicht zur Gänze umgesetzt werden könnten. Das Kräfteverhältnis hatte sich aufgrund ihrer militärische Überlegenheit schon weit zugunsten der herrschenden Klasse verschoben. So begannen nun die Verhandlungen zwischen der Kádár-Regierung und VertreterInnen des Zentralen ArbeiterInnenrates. Rückblickend erscheint das Verhalten der ehemaligen RevolutionsführerInnen etwas naiv. Denn während noch über die formale Annerkennung der Räte verhandelt wurde, wurden mehr und mehr ihrer Mitglieder verhaftet, verschleppt und wie sich später herausstellte, exekutiert. Die Regierung wollte und konnte die Macht der Räte niemals akzeptieren. So wurde am 11. Dezember 1956 – 30 Tage seit seinem Bestehen – der Zentrale ArbeiterInnenrat von Großbudapest zur Gänze verhaftet. Am 15. Dezember wurde die Todesstrafe für wilde Streiks eingeführt. Die ehemaligen Anführer der Räte, wie Janoz Soltezs oder Josef Dudas wurden verhaftet und ermordet. Gleichzeitig wurden Lohnerhöhungen für die Mehrheit der ArbeiterInnen eingeführt. Es wurde alles daran gesetzt den Arbeitsalltag wieder herzustellen. Am 6. Jänner löste sich der letzte ArbeiterInnenrat selbst auf.

Sozialismus von unten

Es stellt sich die Frage, warum ein System, das sich „Kommunismus“ oder „ArbeiterInnenstaat“ nennt, von ArbeiterInnen derart herausgefordert werden kann. In dieser Geschichte wird deutlich, dass der “real existierende Sozialismus” seit dem Stalinismus nichts mit Sozialismus zu tun hatte. Es wurden weder Produktion noch Verteilung unter der demokratischen Kontrolle von ArbeiterInnen organisiert. Die Kontrolle wurde durch einen repressiven bürokratischen Staatsapparat ausgeübt.
Worin liegt dann in diesem Zusammenhang die Bedeutung der ArbeiterInnenräte: Die Tatsache, dass sie gegen einen so genannten sozialistischen ArbeiterInnenstaat aufgebaut und von demselben wieder zerstört wurden, zeigt, dass Ungarn weder vor noch nach 1956 in irgendeiner Weise sozialistisch war. Dass die Räte die Kontrolle über die Produktionsmittel übernahmen, zeigt auch, dass das Problem nicht die politische Degeneration an der Spitze war, sondern ein System, das ArbeiterInnen politisch und ökonomisch unterdrückt. „Die Kommunisten verstaatlichten alle Fabriken und ähnliche Unternehmen mit dem Slogan: Das sind eure Fabriken – ihr arbeitet für euch selbst. Aber das genaue Gegenteil war der Fall“, betonte ein Arbeiter aus Csepel.

Aus diesem Grund wird der “real existierende Sozialismus” von uns als „bürokratischer Staatskapitalismus“ analysiert. Was die ArbeiterInnenräte dagegen geschaffen haben, nämlich der Ansatz einer demokratischen selbstverwalteten Gesellschaft, steht für uns in der Tradition des “Sozialismus von unten”.
„Der Kern der Vorstellung von einem Sozialismus von unten ist, dass der Sozialismus nur durch die Selbstbefreiung der in Bewegung geratenen Massen verwirklicht werden kann, die die Freiheit mit eigenen Händen ergreifen, die sich “von unten” in einen Kampf werfen, um die Kontrolle über ihr Schicksal zu übernehmen, als Handelnde (nicht nur Unterworfene) auf der Bühne der Geschichte.“13

Anmerkungen

1 In Ungarn, Polen und Rumänien waren die kommunistischen Parteien vor und während dem Krieg verschwindend klein nur in Tschechien hatten sie etwas mehr Bedeutung mit 240.00 Mitgliedern.
2 Z. B. Adam Wazyk, der bereits vor dem Krieg Anhänger der Kommunistischen Partei war und dann bekannter Vertreter „sozialistischen Realismus“ wurde
3 zit. nach Harman, Chris: Class Struggles in Eastern Europe 1945-1983. London: Bookmarks 1988. p98.
4 Mátyás Rákosi war bereits vor dem 2. Weltkrieg, den er großteils im russischen Exil verbrachte, Mitglied der Kommunistischen Partei. Ihm wird die „Sowjetisierung“ Ungarns zugeschrieben, er baute die AVH auf und bezeichnete sich selbst als „Stalins bester Schüler“.
5 Vgl. Varga, György T.: Zur Vorgeschichte der ungarischen Revolution 1956. p73.
6 Die Petöfi-Zirkeln entstanden aus einer Untergruppe der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei Ungarns.
Benannt wurden sie nach dem Dichter und Held des ungarischen Freiheitskampfs 1848 Sándor Petöfi.
7 Josef Bem, ursprünglich aus Polen stammenden Helden im ungarischen Aufstand von 1848.
8 Zit. n. Harman: Class Struggles in Eastern Europe. p131.
9 Nagy, Balász: Budapest 1956: The Central Workers Council. http://www.marxists.de/statecap/nagy/budapest.htm
10 Zit. n. Harman: Class Struggles in Eastern Europe. p138.
11 Zit. n. ebd.: p159.
12 Nagy, Balász: Budapest 1956: The Central Workers Council.
13 Draper, Hal: Die zwei Seelen des Sozialismus. http://www.anu.edu.au/polsci/marx/intros/2seelen.htm





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