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Sei spontan, träum’ den Kommunismus!
von Benjamin Opratko

Benjamin Opratko über „Kofferträger, Türaufhalter, Unterschergen, Schwundverwalter, Stimmungshochalter, Subpächter, Unterschergen, Wachhundwächter, Liftboys, Schuhputzer, Untertanmädchen, Subunternutzer, Zugeherinnen, Wachhundhalter, Parkplatzwächter, Steigüberbügelhalter“*, Toni Negri und seine Multitude.

In dem Maße, in dem sich die Lebens- und Arbeitsverhältnisse immer mehr Menschen zu einer konsequent unsicheren, widerruflichen, flexiblen ständigen Gegenwart wandeln – d. h. prekarisiert werden – steigt das Bedürfnis, sich einen theoretischen Begriff davon zu machen, was uns hier widerfährt. Eine kritische Theorie der Prekarität sollte dabei zweierlei leisten: eine Analyse der aktuellen Formen und Mechanismen von Ausbeutung anbieten und die damit verknüpften Möglichkeiten für eine Überwindung dieser Verhältnisse ausloten. Den wahrscheinlich meist zelebrierten Versuch, diesen Ansprüchen gerecht zu werden, stellen die Thesen von Michael Hardt und Toni Negri dar, die mit ihrem 2000 erschienenen Buch „Empire“, dem 2004 als eine Art Fortsetzung und Präzisierung „Multitude“ folgte, einer breiten Öffentlichkeit vorgelegt wurden1. Dass „Empire“ ein außergewöhnliches Werk ist, kann schon aus den überschwänglichen Huldigungen geschlossen werden, die aus allen Ecken und Enden dieser Welt (geographisch wie weltanschaulich) ertönten. Als „Marx und Engels des Internet-Zeitalters“2 hätten Hardt und Negri nicht weniger als ein „‚Kommunistisches Manifest’ für unsere Zeit“3 vorgelegt.

Multitude als Befreiungshoffnung

Die provokanten und originellen Thesen von Hardt und Negri wurden alsbald nicht nur in Feuilletons und Seminarräumen debattiert, sondern dienen als politische Munition besonders jenen Teilen der sozialen Bewegungen, die sich der Interessen und Kämpfe der Prekarisierten annehmen. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Argumenten Hardt und Negris ist also keineswegs eine rein akademische Angelegenheit; so berufen sich etwa im deutschsprachigen Raum AktivistInnen des „Euromayday“ oder in Initiativen zum bedingungslosen Grundeinkommen auf das Konzept der „Multitude“. In diesem wird, wie wir sehen werden, versucht, die zwei Ansprüche an kritische Theorie – eine adäquate Analyse der ausbeuterischen Gegenwart und die Auslotung der Möglichkeiten der Befreiung von ihr – auf originelle Weise zu vereinen. Darin liegt die besondere Attraktivität des Begriffs: Als Gegenentwurf zum angestaubten „Proletariat“ und seiner Versinnbildlichung durch den weißen, männlichen Industriearbeiter komplett mit Helm und Blaumann, wird hier versucht, der neuen Unübersichtlichkeit der Arbeitswelt im Zeitalter der Prekarisierung die Befreiung von der flexiblen, netzwerkförmig organisierten „Vielheit“ der Multitude und ihrer Kämpfe entgegen zu stellen. Durch die Auflösung scheinbar obsolet gewordener Unterscheidungen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Positioniertheiten werden nun endlich (wir) alle zum Subjekt der Befreiung. So sympathisch dieser Ansatz – gerade im Gegensatz zu bornierten Varianten des Marxismus, die sich der Anerkennung realer Veränderungen schlicht verweigern – scheinen mag, so unhaltbar ist er letzten Endes in der von Hardt und Negri vorgeschlagenen Variante. Eine zutiefst problematische Geschichtsphilosophie und fehlerhafte politische Analysen machen die Theorie der Multitude, wie im Folgenden zu zeigen ist, zu einer theoretischen wie praktischen Sackgasse.

Immaterielle Arbeit und Biopolitik

Mit dem Begriff Multitude versuchen Hardt und Negri zunächst, die neuen Lebens- und Arbeitsverhältnisse auf einen Begriff zu bringen, die sich mit dem Niedergang der fordistischen, auf der industriellen Massenproduktion beruhenden Entwicklungsweise etabliert haben und eine wie sie meinen vollkommen neue Form der Herrschaft und der Gesellschaft produzieren. So schreiben sie: „In unserer Zeit wandelt sich das gesamte Szenario der Arbeit und der Produktion […] unter der Hegemonie der immateriellen Arbeit“.4 „Hegemonie“ hat hier nichts mit dem von Antonio Gramsci entwickelten Begriff zu tun5, sondern bezeichnet eine bestimmte Form der Arbeit, die als hegemoniale Figur6 „wie ein Strudel [wirkt], der nach und nach dazu führt, dass die anderen [Formen der Arbeit, Anm. B.O.] sich verändern und die Hauptmerkmale der vorherrschenden Form annehmen“.7 Das bedeutet nicht, dass eine hegemoniale Figur auch die quantitativ stärkste sein muss. Zu Marxens Zeiten stellte das Industrieproletariat eine vergleichsweise kleine soziale Klasse dar; er erkannte jedoch, so Hardt und Negri, eine Dynamik, die immer mehr „alte“ Formen der Arbeit der Logik des Industriekapitalismus unterwarf: „Als die Landwirtschaft im Sinne der Industrie modernisiert wurde, verwandelte sich die Farm oder der bäuerliche Hof oder das Landgut zunehmend in eine Fabrik mit allen Aspekten industrieller Produktion wie Fabrikdisziplin, Lohnverhältnis und technologischem Apparat“.8 Diese hegemoniale Stellung nimmt am Ende des 20. Jahrhunderts also eine Form von Arbeit ein, die als „immaterielle Arbeit“ bezeichnet wird und die das Paradigma der industriellen Produktion ablöst. Damit ist in einem Sinne die nicht sonderlich originelle Erkenntnis gemeint, dass sich (zumindest in den hochentwickelten kapitalistischen Staaten des Nordens) der Schwerpunkt der Produktion auf den so genannten tertiären, also Dienstleistungssektor konzentriert. Darüber hinaus identifizieren Hardt und Negri jedoch Charakteristika dieser neuen „hegemonialen“ Form der Arbeit, die weit über diese Feststellung hinausreichen und folgenschwere Konsequenzen haben. Denn immaterielle Arbeit ist vor allem jene, „die so genannte immaterielle Produkte schafft, also etwa Wissen, Information, Kommunikation, Beziehungen oder auch Gefühlsregungen“9. Dabei können in einem ersten Schritt zwei Arten immaterieller Arbeit unterschieden werden: Erstens, Formen von Arbeit die „vor allem intellektuell und sprachlich“ sind, „also etwa das Lösen von Problemen, der Umgang mit Symbolen, analytische Aufgaben und solche, die das sprachliche Ausdrucksvermögen fordern“. Die zweite Form produziert in erster Linie „Affekte wie Behagen, Befriedigung, Erregung oder Leidenschaft“ und wird daher „affektive Arbeit“ genannt.10 Dies betrifft in erster Linie Branchen der Dienstleistung, in denen „gute Manieren“, intelligente KundInnenbetreuung und „Service with a smile“ zentrale Job-anforderungen sind, aber auch Pflegeberufe, pädagogische Tätigkeiten oder die Kunstproduktion. Innerhalb der ersten Kategorie wird eine weiter Unterscheidung vorgenommen zwischen stärker kreativen und „intelligenten“ Tätigkeiten einer- und durch Routine (etwa bei der Dateneingabe) geprägten andererseits.11 Darüber hinaus überformt immaterielle Arbeit als hegemoniale Figur Tätigkeiten in anderen Sektoren, wodurch die Industrieproduktion zunehmend wie ein Dienstleistungsunternehmen gehandhabt wird und „heute alle Produktion, indem sie informatisiert wird, zur Produktion, die auf Dienstleistungen beruht“ tendiert.12 Diese Transformation birgt ungeahnte Konsequenzen. Denn was immaterielle und affektive Arbeit – im Gegensatz zur Fließbandarbeit des Fordismus – ausmacht, ist der zentrale Stellenwert, den Kommunikation, zwischenmenschliche Kontakte und Kooperation in ihr einnehmen. Daraus leiten Hardt und Negri ab, dass das, was hier eigentlich produziert wird, das gesellschaftliche Leben selbst ist: Wissen, Information, soziale Netzwerke, Formen der Zusammenarbeit, kommunikative Beziehungen ebenso wie unsere Subjektivitäten, unser Wohlbefinden und selbst unsere Körper. Das ist gemeint, wenn Hardt und Negri den Begriff der Biopolitik13 verwenden und vom biopolitischen Paradigma des Empire sprechen. Dieses „umfasst als seinen eigenen Gegenstand das Leben der Bevölkerungen, der Individuen und der Gruppen, also der Gesamtheit der Singularitäten, die die Multitude ausmachen, und zwar auf globaler Ebene. Das biopolitische Kommando hat die Weltbevölkerung zum Einsatz“.14 Die Begriffe „Arbeit“ und „Produktion“ bekommen hiermit eine gänzlich neue Bedeutung, wodurch eine ganze Reihe von Unterscheidungen für hinfällig erklärt werden kann: Produktion und Reproduktion, produktive und nicht-produktive Arbeit, Ökonomie, Politik und Kultur, instrumentelles Handeln und kommunikatives Handeln, ja Arbeit und Nicht-Arbeit fallen allesamt in Eins.15

Das Böse ist immer und überall

Wenn Produktion zunehmend immateriell wird, ist sie auch nicht mehr derart an Raum und Zeit gebunden, wie es noch im Paradigma des Industriekapitalismus der Fall war. Das Lösen von Problemen und analytischen Aufgaben findet nicht notgedrungen in einem Büro oder gar in einer Fabrik statt. „Eine Idee oder ein Bild entsteht […] auch unter der Dusche oder in den Träumen“;16 und die persönlich-beruflichen Skills, die affektive Arbeit voraussetzt, werden nicht an einem Fabrikstor abgegeben, sondern sind Teil der lebenden Körper, wo sie sich auch wann befinden mögen. Das bedeutet, dass der Ort der Ausbeutung, den Marx am Arbeitsplatz identifiziert hat, nicht mehr greifbar wird; und auch die Zeit der Ausbeutung lässt sich nicht mehr in Wochenstunden bemessen: „Die spezifischen Eigenschaften der Arbeitskraft […] lassen sich nicht mehr festmachen, und in ähnlicher Weise lässt sich die Ausbeutung nicht mehr lokalisieren und quantifizieren“.17 Der Ort der Ausbeutung ist überall und damit nirgendwo – er wird zum „Nicht-Ort“ – und auch die Arbeitszeit tendiert dazu, „sich über die gesamte Lebenszeit auszudehnen“.18 Aus dieser Vorstellung von immaterieller Arbeit als „gemeinsames Substrat“19 des Kapitalismus in der Epoche des Empire ziehen Hardt und Negri zwei wichtige Konsequenzen. Wenn produktive Arbeit nicht mehr an Zeit und Ort gebunden ist, sich unendlich über den Globus spannt und Ausbeutung selbst im Schlaf passiert, dann kann der Wert einer Ware auch nicht mehr im Marxschen Sinne an der gesellschaftlich zu ihrer Produktion notwendigen Arbeitszeit gemessen werden. „Die Einheit Arbeitszeit als Grundmaß des Werts“, heißt es dementsprechend, „macht heutzutage keinen Sinn mehr“.20 Der Wert, der durch die Kooperation der zur Vielheit vereinten Singularitäten produziert wird, ist ebenso maßlos wie die Multitude selbst, ist „Legion“.21 Mit der Preisgabe der Marxschen Werttheorie wird de facto die gesamte Erklärung der Dynamik des Kapitalismus, wie sie Marx im „Kapital“ entwickelt hat, ad acta gelegt. Ausbeutung im Sinne der Abschöpfung von Mehrwert durch die BesitzerInnen der Produktionsmittel findet bei Hardt und Negri nicht mehr statt, denn um die in den Mehrwert geflossene Mehrarbeit zu bestimmen, müssten sie ja die Existenz einer durchschnittlich gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit anerkennen. Stattdessen wird „Ausbeutung“ als rein politische, räuberische Aneignung umgedeutet. Hardt und Negri behaupten, dass Arbeit, die im Empire ja substanziell Kooperation ist, heute auf das Kapital gar nicht mehr angewiesen ist. Marx analysierte einen Kapitalismus, in dem die Klasse der Bourgeoisie die Produktionsmittel (die sie sich ursprünglich räuberisch angeeignet hat) zur Verfügung stellt, um den profitablen Kreislauf der Akkumulation anzuwerfen. Hardt und Negri analysieren einen Kapitalismus, in dem sich die Produktionsmittel tendenziell bereits in Besitz der Arbeitenden selbst befinden, insofern es sich dabei um Sprache, Ideen, Kooperation etc. handelt: „Die Hirne und Körper brauchen auch weiterhin die anderen, um Wert zu produzieren, doch die anderen, die sie brauchen, stellen nicht mehr notwendigerweise das Kapital und seine Fähigkeit, die Produktion zu orchestrieren“.22 Das Kapital ist also nicht mehr Teil eines dialektisch gedachten Produktionsverhältnisses, sondern schöpft bloß Wert von der aus sich selbst heraus kraft „Selbstverwertung“ produktiven Arbeit ab. „Mit anderen Worten: Der Mehrwert hat seinen Ort im Gemeinsamen. Ausbeutung ist die private Aneignung eines Teils oder der Gesamtheit des Werts, der als Gemeinsames geschaffen wurde“.23 Es ist also gar nicht mehr notwendig, die Produktionsverhältnisse zu revolutionieren, sondern das Kapital muss als parasitärer, vampirischer „Beuteapparat“24 bloß abgeschüttelt werden: „Im Zeitalter imperialer Souveränität und biopolitischer Produktion hat sich das Gleichgewicht dahingehend verschoben, dass die Beherrschten weitgehend die ausschließlichen Produzenten sozialer Organisation geworden sind“, was bedeutet, „dass die Herrschenden immer parasitärer werden und die Souveränität zunehmend entbehrlich wird. Entsprechend werden die Beherrschten immer autonomer und können die Gesellschaft immer stärker nach ihrem Vorbild gestalten“.25 In den Netzwerken der Multitude steht somit schon heute „das Potenzial für eine Art des spontanen und elementaren Kommunismus bereit“.26

Sieg durch Niederlage

Wie ist diese neue Form des Lebens und Arbeitens in die Welt getreten? Für Hardt und Negri ist der postfordistische Kapitalismus, die Durchsetzung immaterieller Arbeit und der Multitude das Ergebnis der Kämpfe der ArbeiterInnen selbst. Die politischen, ökonomischen und kulturellen Revolten der 1960er und 1970er Jahre sind nur vordergründig gescheitert, tatsächlich fanden die darin ausgedrückten Wünsche und Hoffnungen auf ein selbstbestimmtes, freies und autonomes Leben Eingang in das Herz der kapitalistischen Produktionsweise. Dieses Argument findet sich in den letzten Jahren vielerorts in unterschiedlichen Varianten – zuletzt haben etwa Luc Boltanski und Ève Chiapello27 damit große Aufmerksamkeit erregt. Der Clou bei Hardt und Negri ist jedoch, dass sie die Transformation hin zum Postfordismus nicht im Sinne einer „passiven Revolution“, in der die Forderungen der sozialen Bewegungen geschluckt, halbverdaut und als neue bürgerliche Machttechniken wieder ausgespieen werden, begreifen, sondern in ihr tatsächlich (wenn auch über verworrene Wege) die Durchsetzung der Begehren zum Ausdruck gekommen sehen. So können Hardt und Negri sich daran erfreuen, dass „die Sache, für die sie [die ArbeiterInnen, B.O.] kämpften, sich trotz ihrer Niederlage durchsetzte“.28 Mit dieser These verbunden sind die grundsätzlichen Axiome der Theorie Hardts und Negris überhaupt. Negri stammt aus der italienischen Theorietradition des Operaismus, einer ursprünglich erfrischend undogmatischen marxistischen Strömung, die in den 1960er und 1970er Jahren eine radikal auf die Kämpfe der ArbeiterInnenklasse ausgerichtete Theorie und Praxis entwickelte.29 Die Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise wurde von ihr als angetrieben von den Kämpfen der ArbeiterInnen begriffen; die andere Seite des Verhältnisses, das Kapital, ist gleichsam eine nachgeordnete Instanz, deren Bewegungen letztlich als Reaktionen auf die Aktionen der lebendigen Arbeit erklärbar sind. Diese Vorstellung wird in den Arbeiten Hardts und Negris auf die Spitze getrieben, wo sich eine lebendige, aktive Vielheit einer souveränen Macht gegenüber wähnt, die als „die absurden und abgewrackten Maschinerien eines bereits abgestorbenen Zusammenhangs“ analysiert wird.30

Die Generäle des Intellekts

Diese Radikalisierung der operaistischen Ausgangsthese entstand aus einer eigenwilligen Lesart zweier bis in die 1950er Jahre weithin unbekannten Texte von Marx. Die „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“31 und die „Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses“32 entwickeln zwei Begriffe, die zu Angelpunkten des Konzepts der Multitude wurden: „Formelle/Reelle Subsumption der Arbeit unter das Kapital“ und der „General Intellect“. Unter der formellen Subsumption verstand Marx, dass in der Frühphase des Kapitalismus nicht- bzw. vorkapitalistische Produktionsweisen in die kapitalistische integriert werden, (etwa indem vormals leibeigene Bauern/Bäuerinnen zu LohnarbeiterInnen gemacht werden), jedoch: „Der Arbeitsprozess, technologisch betrachtet, geht grad vor sich wie früher, nur jetzt als dem Kapital untergeordneter Arbeitsprozess“.33 In der Phase der reellen Subsumption beschränkt sich die Rolle des Kapitals nun nicht mehr darauf, ein bloßes Geldverhältnis herzustellen, sondern organisiert den Arbeitsprozess selbst. „Das Kapital ist nun nicht mehr nur Dirigent, sondern Organisator der Arbeit, das Verhältnis zwischen Kapitalisten und ProletarierInnen nicht allein durch das Geld, sondern durch die direkte Anordnung der Produktion in der Fabrik vermittelt“.34 Während Marx mit diesen Begriffen den historischen Übergang zum Industriekapitalismus zu fassen versuchte, setzen Hardt und Negri den entscheidenden Bruch in den Kämpfen der 1960er und 1970er Jahre an. Im daraus entstehenden postfordistischen, postmodernen Kapitalismus zeigt sich die reelle Subsumption nicht nur der Arbeit, sondern der Gesellschaft selbst unter das Kapital. Aus operaistischer Perspektive sind die organisatorischen und technischen Innovationen, die die „reelle Subsumption“ charakterisieren, tatsächlich Reaktionen auf die Kämpfe der ArbeiterInnen gegen das Kapital.35 Mit dieser These verknüpft ist der Begriff des General Intellect, von Marx im so genannten „Maschinenfragment“ der Grundrisse verwendet. Hier geht es darum, das gesellschaftliche Wissen (alle „Mächte der Wissenschaft und der Natur wie der gesellschaftlichen Kombination und des gesellschaftlichen Verkehrs“36) als wichtige Produktivkraft im kapitalistischen Akkumulationsprozess zu begreifen. Werkzeuge und Maschinen, Kommunikations- und Transportmittel sind „von der menschlichen Hand geschaffne Organe des menschlichen Hirns; vergegenständlichte Wissenskraft. Die Entwicklung des capital fixe zeigt an, bis zu welchem Grade das allgemeine gesellschaftliche Wissen, knowledge, zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist, und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Kontrolle des general intellect gekommen, und ihm gemäß umgeschaffen sind“37. Auch hier kommt der gleiche (post-)operaistische Kniff zur Anwendung: verortet Marx das allgemeine gesellschaftliche Wissen als Produktivkraft auf Seiten des Kapitals, stellen Hardt und Negri das Bild auf den Kopf und sehen nun den General Intellect als „Attribut der lebendigen Arbeit“, „formale und informale Kenntnisse, Einbildungskraft, ethische Haltungen, Mentalitäten, ‚Sprachspiele’“ umfassend.38 Durch die Verwissenschaftlichung des Produktionsprozesses „[erschöpft sich die] Verkettung von Wissen und Technik […] nicht im fixen Kapital, sondern verweist auch über die technische Maschine und das in ihr objektivierte Wissen hinaus auf soziale Kooperation und Kommunikation“.39 Die oben beschriebene Transformation der Produktion hin zur immateriellen, auf Kommunikation, Kooperation und Netzwerken des Wissens beruhenden Arbeit, entspricht demnach dem Durchbruch des General Intellect zur „unmittelbaren Produktivkraft“; nicht als Teil des fixen Kapitals, sondern der Körper der Kooperierenden: „Der General Intellect braucht Fleisch und Blut, um ihn mit der Multitude verbinden zu können“.40

Die unablässige Gegenwart der Vielen

Wer die Multitude als Subjekt des „postfordistischen“ Kapitalismus erkannt hat, wird sich leicht von Passagen verwirren lassen, in denen die Multitude plötzlich im englischen Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts auftaucht41, in der Demokratietheorie Rousseaus42 oder in den Revolutionen in Russland und Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts43. Diese und andere Ausführungen weisen auf eine Dimension des Konzepts hin, die als „ontologische Multitude“ bezeichnet werden kann und die geschichtsphilosophische Grundlage der „postmodernen Multitude“ bildet.44 Dahinter steht die Überzeugung, dass die Geschichte der Menschheit als Geschichte von Kämpfen zwischen einer lebendigen, kreativen und „vermögenden“ (im Sinne von: Potential besitzenden) Vielheit einerseits, und der „souveränen Macht“, die diese lebendige Kraft zu bändigen, zu disziplinieren oder zu kontrollieren sucht, andrerseits, ist. In diesem Verhältnis herrscht ein strukturelles Ungleichgewicht: die souveräne Macht bewegt sich in Grenzen und Hindernissen. „Im Gegensatz dazu steht das Vermögen der Multitude, also der arbeitenden, agierenden und vor allem widerständigen und sich nicht unterordnenden Singularitäten, das in der Lage wäre, das Souveränitätsverhältnis zu beseitigen“.45 Geschichtliche Entwicklung und menschlicher Fortschritt werden so als Ergebnisse der Kämpfe der produktiven Vielheit – der ontologischen Multitude – gefasst. Geschichte wird gemacht, und zwar in Ausbrüchen der „potentia“, des Vermögens der Multitude gegen die Souveränität, in Form von singulären, schlagenden Ereignissen. Hardt und Negri wählen dafür den griechischen Begriff „Kairòs“, im Gegensatz zur „lineare[n] Anhäufung des Chronos“.46 Wir sehen nun, dass die Bedingungen für das Entstehen und Entwickeln der Multitude über die konkreten Formen des gegenwärtigen Kapitalismus hinaus- oder besser dahinter zurückgeht. Die ontologische Multitude als aus sich selbst heraus schöpferische Kraft ist „schon latent und implizit in unserem sozialen Sein vorhanden“; wäre sie das nicht, „könnten wir sie uns gar nicht als politisches Projekt vorstellen; und zugleich können wir nur deshalb hoffen, sie heute zu verwirklichen, weil sie bereits als reale Möglichkeit existiert.“47

Politik der Zwischenräume

Damit können wir uns einer dritten Dimension des Begriffes Multitude nähern: jener des politischen Projekts. Die ontologische Dimension erklärt die abstrakten Bedingungen der Möglichkeit, die postmoderne die aktuellen Bedingungen einer Formierung der Multitude. Was Hardt und Negri darüber hinaus versuchen, ist, die Multitude als Gegen-Subjektivität, als Trägerin einer neuen Revolution gegen das Empire zu konzipieren. Um es vorweg zu nehmen: Nicht zufällig ist dieser Abschnitt der kürzeste. Zwar wird immer wieder betont, dass die Multitude „nicht spontan als politische Gestalt“ entsteht und „eines politischen Projekts“ bedarf.48 Die von ihnen selbst gestellte Frage, „welche Art von politischem Projekt die Multitude ins Leben rufen kann“, können sie allerdings nicht beantworten. Entscheidend ist dabei, dass, wie oben dargelegt, für Hardt und Negri die Arbeit selbst in gewisser Weise bereits „befreit“ ist. Die Produktion des „Gemeinsamen“ im Paradigma immaterieller Arbeit ermöglicht die Schaffung und Ausweitung „befreiter Zwischenräume“, und „[m]it der Zeit wird die Multitude, hat sie erst einmal ihre produktive, auf dem Gemeinsamen beruhende Gestalt entwickelt, in der Lage sein, durch das Empire hindurchzugehen und auf der anderen Seite herauszukommen, sich selbstständig auszudrücken und zu regieren“.49

Reality Check

Inwiefern hilft uns das Konzept der Multitude, eine kritische Theorie der Prekarität zu formulieren? Zweifellos lenken Hardt und Negri Aufmerksamkeiten auf die Wandlung hin zu prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen: die „Globalisierung der Verunsicherung“50, die Integration neuer Technologien in den Arbeitsalltag, die Verschiebung großer Sektoren der Produktion in den Bereich der Dienstleistungen und neue Formen der Organisation am Arbeitsplatz. Doch sie tun noch viel mehr als das, wie die vorangegangene Darstellung erahnen lässt. Die wichtigste These Hardts und Negris betrifft die theoretische und politische Neubestimmung der Arbeit und, daraus abgeleitet, die Definition der Multitude als neue revolutionäre Klassenformation. Sie argumentieren, dass eine Form der Arbeit „hegemonial“ geworden ist (oder im Begriff ist, es zu werden), deren bestimmende Eigenschaft die gemeinsame Produktion von immateriellen Produkten ist und der „Kooperativität […] vollkommen immanent“ ist.51 Schon hier ist ein erster Einwand nötig – ist es tatsächlich so, dass eine allgemeine Tendenz hin zur Produktion immaterieller Produkte auf Kosten „materieller“ oder „industrieller“ Produktion existiert? Hardt und Negri halten sich in „Empire“ nicht weiter damit auf, ihre Behauptungen mit empirischen Daten zu unterfüttern, sondern ziehen sich auf die rhetorische Strategie des „wie allgemein bekannt…“ zurück.52 Auch in „Multitude“ beschränken die Autoren sich auf verstreute Verweise auf Zahlen des US-Statistikbüros, die den Aufstieg des Dienstleistungssektors beschreiben. „Nennt mich altmodisch“, meint dazu Steve Wright, Autor des wichtigsten Buches zur Geschichte des Operaismus, in einem kritischen Kommentar, „aber in einem 400-Seiten-Buch, das dem Verständnis ihrer Behauptungen zur jüngsten Manifestation des Proletariats als revolutionäres Subjekt gewidmet ist, ist schon etwas mehr notwendig“53. Die unkritische Übernahme von tausendmal geäußerten Gemeinplätzen über die „Dienstleistungsgesellschaft“ verstellt schließlich den Blick auf Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen in der Entwicklung der Weltwirtschaft. Mag das Argument für Europa, Nordamerika und Japan noch stimmen, fällt die Entwicklung gigantischer Industriezonen etwa in Süd- und Ostasien dadurch komplett aus dem Bild; auch unsere I-Pods wollen zusammengeschraubt und affektiv aufgeladene Hippster-Mode genäht werden. Auf Weltebene geht die Expansion von „High-Tech-Arbeit“ (wie stark verwissenschaftlichter „immaterieller“ Arbeit) oft nicht auf Kosten von, sondern im Gleichschritt mit „Low-Tech-Arbeit“54. Doch selbst im globalen Nordwesten ist die Sache nicht so klar, wie es scheint. Der britische Marxist Chris Harman weist in einer Polemik gegen Hardt und Negri darauf hin, dass die Klasse der traditionellen IndustriearbeiterInnen keineswegs ausstirbt, sondern im Gegenteil zumindest in absoluten Zahlen anwächst. Selbst in den am weitesten entwickelten Regionen der Welt kann von „Deindustrialisierung“ kaum gesprochen werden: im Zeitraum von 1971 bis 1998 ist die Zahl der IndustriearbeiterInnen etwa in den USA und in Japan um 20 bzw. 13 Prozent gestiegen.55 Und schließlich kehrt Hardt und Negris Darstellung auch unter den Teppich, „dass so manche Verschiebung vom industriellen zum Dienstleistungssektor lediglich eine neue Namensgebung für im Wesentlichen ähnliche Tätigkeiten darstellt“.56

Intelligent und affektiv?

Dem könnte entgegengehalten werden, dass die entscheidende Neuerung nicht das quantitative Anwachsen immaterieller (Dienstleistungs-)Arbeit ist, sondern die qualitative Wandlung der gesamten „Szenerie der Arbeit und der Produktion (…) unter der Hegemonie der immateriellen Arbeit“57, geprägt durch Kommunikation und Affekt. Doch auch hier wird eine Behauptung nicht wahrer, wenn sie nur oft genug wiederholt wird (und das wird sie zur Genüge). Richtig ist, dass Kommunikation in sehr vielen Bereichen der Produktion in den letzten Jahrzehnten enorm an Bedeutung gewonnen hat (wiewohl auch hier ein eurozentristischer Blick nicht von der Hand zu weisen ist). Doch wird dadurch Arbeit auch, wie Hardt und Negri behaupten, „intelligent“58? Statt der Durchsetzung des General Intellect als Attribut der ArbeiterInnen geht die Tendenz doch eher dahin, Formen des Wissens zu privatisieren (durch Patentrechte oder die Sicherung „intellektuellen Eigentums“59) und Bildungssysteme stärker zu hierarchisieren. Hardt und Negri verallgemeinern hier eine vergleichsweise – und vor allem im globalen Maßstab – kleine, privilegierte soziale Fraktion etwa von JournalistInnen, IT-Fachleuten, KünstlerInnen oder WissenschafterInnen, deren gesellschaftliche Reproduktion einer relativ langen und kostspieligen Ausbildung bedarf. „Intelligente“ Arbeit bleibt eher einer schmalen Elite vorbehalten, als in breite Teile der Bevölkerung zu diffundieren60.
Wie ist es darum bestellt, dass Arbeit zunehmend „affektiv“, also zu „Arbeit am körperlichen Befinden“61 wird? Richtig ist wohl, dass „soziale Kompetenzen“ etc. in einer Gesellschaft, in der der Kampf um Arbeitsplätze immer härter wird, von ArbeitgeberInnenseite in den Rang von Schlüsselqualifikationen gehoben werden. Auch ist wohl wahr, dass im Feld des Kulturellen aktuell besonders perfide Modi der Machtausübung bedeutsam werden, die von Untergebenen fordern, ihre eigene Unterwerfung als Akt des freien Willens zu deklarieren.62 Doch erstens trifft auch dies nur auf einen relativ kleinen Teil der Arbeitsverhältnisse zu; und zweitens geben Hardt und Negri ihrem Argument einen höchst problematischen Twist, wenn sie affektive Arbeit vor allem als kreativen Akt und „schöpferisches Vermögen“ darstellen, in dem die Multitude „ihre eigenen schöpferischen Energien ausdrückt“63. Viel eher bringt die Hamburger Band Die Goldenen Zitronen die Sache auf den Punkt, die zwar nicht die Theorie, aber zumindest den Soundtrack zur Prekarität bietet. Sie singen über „die, denen sie das Lächeln auf harten Wartebänken in Serviceagenturen in Gesichtszüge renken“ und entzaubern die Affekthascherei als „Training in Unterwerfungskompetenz“64. Was von Hardt und Negri als affektive Arbeit idealisiert wird, ist die Unterwerfung unseres Daseins unter die Verwertungslogik des Kapitals, keine Passage zum postmodernen Kommunismus.

Leben ist Arbeit?

Blickt man hinter die „Schwammbegriffe“65 in „Empire“ und „Multitude“, entpuppt sich so manch großer Wurf als Mixtur aus „nicht aufschlussreicher Beobachtung, dem ungenauen Aufbauschen realer Veränderungen in der Welt bezahlter Arbeit und unerhörten Fehlinterpretationen“66. Dies gilt auch für die Behauptung, Arbeit würde sich zeitlich und räumlich derart ausdehnen, dass sie in keiner Weise mehr messbar wäre und die Unterscheidung von Arbeit und Nicht-Arbeit gegenstandslos mache. Die richtige Beobachtung ist, dass im Leben vieler Prekarisierter die Lohnarbeit nicht aufhört, wenn die Bürotür hinter ihnen geschlossen wird. Projekte und die damit verbundenen Probleme die es zu lösen und Deadlines die es einzuhalten gilt, bereiten nicht wenigen von uns schlaflose Nächte. „Die Arbeit sickert in dein Leben“, wie es eine interviewte Kulturproduzentin im Rahmen einer Untersuchung von Prekarisierung formulierte.67 Das „ungenaue Aufbauschen“ dieser Tendenz findet statt, wenn diese Erfahrungen holzschnittartig auf alle Arbeitsverhältnisse verallgemeinert und alle Widersprüchlichkeiten totgeschwiegen werden. Und schließlich wird (fehl-) interpretiert, dass Arbeit und Leben letztlich gleichzusetzen sind – womit der Arbeitsbegriff als „biopolitische Arbeit“ so umfassend definiert wird, dass damit letztlich gar nichts mehr gesagt wird. Ein entscheidendes Problem der Multitude als theoretischer Begriff ist dementsprechend, dass er im Versuch, sich von „Volk“, „Masse“ oder auch „ArbeiterInnenklasse“ abzusetzen, ein „inkludierendes Konzept“ schafft, das „all jene, die unter der Herrschaft des Kapitals arbeiten und produzieren“68 umfasst – was im Rahmen einer Konzeption, die Unterschiede zwischen „arbeiten“, „produzieren“ und „leben“ für illegitim erklärt, eine tatsächlich sehr umfassende Definition darstellt. Die realen Bemühungen des Kapitals, Arbeitszeiten (auf Kosten von Nicht-Arbeit) stetig zu verlängern und den Zugriff auf Arbeitskräfte „just in time“ zu organisieren („Flexpoitation“), verschwinden hinter einer begrifflichen Nebelwand.

Die Anti-Strategie

Wie haben eingangs erwähnt, dass eine kritische Theorie der Prekarität nicht nur die Ödnis der Gegenwart ausmessen können muss, sondern auch die Möglichkeiten ihrer Überwindung aufzeigen soll. Doch leidet die Multitude-These unter so vielen problematischen Vorannahmen, theoretischen Inkonsistenzen und dem Unwillen, sich auf empirische Untersuchungen einzulassen, dass auch Zweiteres nicht erfüllt wird. Dabei ist der grundsätzliche Anspruch ebenso sympathisch wie richtig: Eine freie Gesellschaft muss von den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen her gedacht werden. Die enorme Entwicklung der Produktivkräfte, die neuen Mittel der Kommunikation, Computerisierung und Informatisierung der Produktion haben den Kapitalismus ein Stadium erreichen lassen, das eine wahrhaft demokratische, effiziente und nachhaltige Gesellschaft auf einem Niveau möglich macht, wie es noch vor wenigen Jahrzehnten denkunmöglich schien. Doch die mythische Überhöhung der Multitude bei Hardt und Negri macht den Weg dorthin zur „Nicht-Strategie, die die Ansammlung verschiedener autonomer Aktivitäten als ‚Multitude’ umtaufen möchte“69. Das „Fleisch der Multitude“ ist demnach „reines Potenzial, eine noch ungeformte Lebenskraft“ und eine „elementare Kraft“, die sich gleich den Elementen Wind, Meer oder Erde „immer dem Zugriff entziehen“ kann. Indem neue Formen der Lohnarbeit, die dem Kapital im Zeitalter des Neoliberalismus eine Erhöhung der Profitrate ermöglichen, zum Ausdruck der Schaffenskraft der Multitude umgedeutet werden, bleibt völlig unklar, gegen was denn dann eigentlich noch rebelliert werden soll. Das Beharren auf dem operaistischen Dogma vom Kampf der ArbeiterInnen als alleinigen Motor der Geschichte macht es Hardt und Negri unmöglich, die Entwicklungsprozesse auf Seiten des Kapitals als komplexes Zusammenspiel des Zwangs zur Ausbeutung der produktiven Arbeit sowie der Konkurrenz zwischen einzelnen Kapitalien zu begreifen. Alle Überlegungen zur Marxschen Werttheorie, zum Verhältnis von konstantem und variablem Kapital, von Kapitaleigentum und Kapitalfunktion, werden mit einer einzigen ausladenden Geste beiseite gewischt. Ausbeutung, die Abpressung von Mehrwert, findet nur noch als Zugriff von Außen, seitens des parasitären Empires, statt und ist nicht mehr in die kapitalistischen Produktionsverhältnisse eingeschrieben. Die Multitude kann sich, so Hardt und Negri, kraft ihrer Fähigkeit zur Kooperation selbst verwerten, was schließlich zu folgender Behauptung führt: „Privateigentum an Produktionsmitteln ist heute, im Zeitalter der Hegemonie kooperativer und immaterieller Arbeit, nur noch eine längst verfaulte und tyrannische Sache von gestern“70. Guenther Sandleben antwortet darauf, dass die Kooperation in geistiger wie körperlicher Arbeit seit jeher Teil kapitalistischer Produktionsweise ist. „Kooperation und die Entstehung des modernen, privatrechtlichen Eigentums gingen damals [zur Zeit der Entstehung des Kapitalismus, B.O.] Hand in Hand. Weshalb sollte das ‚kooperative Vermögen der Arbeit’ das moderne Privateigentum nun plötzlich wegzaubern?“71 Tatsächlich können Hardt und Negri keine angemessene Antwort auf diesen Einwand geben. Die „Verwandlung“ der Arbeit im Kapitalismus in eine kreative, sich selbst verwertende Macht wird so letztlich zu einem Hindernis für linke Politik: Die Klassenherrschaft erhält einen überirdischen Charakter; die herrschende Klasse entschwindet ins Metaphysische, ist unangreifbar gemacht für diejenigen, die sich von ihr befreien wollen.72 Diese theoretischen Unzulänglichkeiten können zu strategischer Ratlosigkeit führen. In einem Interview antwortete Negri auf die Frage, was zu tun sei, um die Multitude als konstituierende Subjektivität ins Leben rufen zu können: „Abwarten und Geduld haben“, und Hardt meinte schlicht „Folgt eurem Begehren!“73. Tatsächlich sind die Bücher „Empire“ und „Multitude“ geprägt von einer eigenartigen Gleichzeitigkeit von Determinismus und Voluntarismus. Einerseits scheint es nur noch eine Frage der Zeit (oder des sich quasi-naturgesetzlich durchsetzenden General Intellect) zu sein, bis die Multitude sich der faulenden Hülle des Kapitals entledigt. Die immer wieder kehrenden Verweise auf die Kämpfe der lebendigen Arbeit als Ursache dieser Entwicklung reduzieren sich dabei oft auf Lippenbekenntnisse. Chantal Mouffe, selbst über jeden Verdacht des revolutionären Marxismus erhaben, weist zu Recht darauf hin, dass der Glaube an die Multitude bei Hardt und Negri geradezu messianische Züge annimmt.74 Gleichzeitig jedoch kann „Empire“ als „voluntaristisches Manifest“ gelesen werden: „Für radikale Metropolenlinke hört es sich scheinbar verheißungsvoll an: Jenseits von Widersprüchen, politischen Erfahrungs- und Organisierungsprozessen wird sie programmatisch ins Zentrum emanzipativer Kämpfe gespült“.75

Den Kommunismus einklatschen?

Die hier formulierte Kritik an den Theorien Hardts und Negris soll nicht als Frontalangriff auf all jene missverstanden werden, die sich in ihrer politischen Arbeit mehr oder weniger stark auf den Begriff der Multitude berufen. So ist etwa im Rahmen des „Euromayday“ der Hinweis darauf, dass „Prekarisierung zugleich Subjektivierung und mehrfache Unterwerfung bedeutet“ und Prekarisierte nicht bloß Opfer, sondern handelnde Subjekte sind, eine wichtige Intervention.76 Doch muss auf die Gefahr hingewiesen werden, dass über dem falschen Abfeiern der eigenen „kreativen“ Existenz die weiterhin zentralen Fragen linker Politik vergessen oder für hinterwäldlerisch erklärt werden. In den Debatten zum bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) wird von mancher Seite etwa ein sanftes Übergleiten in den Kommunismus per BGE herbeifantasiert, in dem die Frage des Eigentums an den gesellschaftlichen Produktionsmitteln zur Nebensächlichkeit wird (schließlich sind diese ja eigentlich schon ins „unserer“ Hand). Einer richtigen und wichtigen Forderung wird so der argumentative Boden unter den Füßen weggezogen.77 Um Ausbeutung in prekären Zeiten verstehen und ihr politische Positionen entgegensetzen zu können, werden wir nicht darum herum kommen, uns auf die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der aktuellen Kämpfe, die Möglichkeiten und Einschränkungen der aktuellen Formen der Arbeit für eine revolutionäre Perspektive einzulassen. Den unvermeidlichen Triumph der allumfassenden Multitude schon jetzt einzuklatschen, wird dabei jedoch keine große Hilfe sein.

Anmerkungen

Vielen Dank an Felix Wiegand für die Mitarbeit am Artikel!

* Die Goldenen Zitronen: “Lied der Stimmungshochhalter”, erschienen am exzellenten Album „Lenin“ (Buback Tonträger 2006)
1 Hardt, Michael/Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/Main, 2003 (2000); dies.: Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt/Main, 2004
2 La Nouvel Observateur, zit. nach Thompson, Paul: Foundation and Empire: A critique of Hardt and Negri, in: Capital & Class, Nr. 86 (2006): 73-98: 73
3 Slavoj Zizek, zit. nach Buckel, Sonja/Jens Wissel: Age of Empire?, http://www.links-netz.de/K_texte/K_wissel_empire.html, 2001
4 Hardt/Negri: Multitude, a.a.O.: 83
5 Vgl. den Artikel „Herrschaft durch Konsens. Macht und Politik bei Antonio Gramsci“ in Perspektiven Nr. 0, 34-37
6 Das Denken in idealtypischen „ArbeiterInnenfiguren“ ist ein Überbleibsel der operaistischen Tradition, aus der Negri ursprünglich stammt. Demnach wäre mit dem Aufstieg des Fordismus der „professionelle Arbeiter“ (operaio professionale) durch den „Massenarbeiter“ (operaio massa) und dieser in den 1970ern durch den „gesellschaftlichen Arbeiter“ (operaio sociale) als hegemoniale Figur abgelöst worden. Vgl. Birkner, Martin/Robert Foltin: (Post-) Operaismus. Von der Arbeiterautonomie zur Multitude. Geschichte und Gegenwart, Theorie und Praxis, Stuttgart 2006
7 Hardt/Negri: Multitude, a.a.O.: 125
8 Hardt, Michael: Affektive Arbeit, in: Atzert, Thomas, Jost Müller (Hg.): Immaterielle Arbeit und imperiale Souveränität. Analysen und Diskussionen zu Empire, Münster 2004, 175-188: 176
9 Hardt/Negri: Multitude, a.a.O.: 126
10 ebd.
11 Hardt/Negri: Empire, a.a.O.: 305
12 Hardt, Michael: Affektive Arbeit, a.a.O.: 178; Hardt/Negri: Empire, a.a.O.: 297
13 Der Begriff wird bei Michel Foucault entlehnt, wenn auch dessen Konzept von „Biomacht“ nur mehr wenig mit dem „biopolitischen Paradigma“ bei Hardt und Negri zu tun hat. Vgl. zu ihrem Verhältnis zu Foucault Hardt, Michael: Affektive Arbeit, a.a.O.:184 ff, Negri, Antonio: Foucault between Past and Future, in: ephemera, Vol. 6, Nr. 1 (2006): 75-82, sowie kritisch Lemke, Thomas: Biopolitik im Empire. Die Immanenz des Kapitalismus bei Michael Hardt und Antonio Negri, PROKLA 129, 2002: 619-631
14 Negri, Antonio: Empire und die konstituierende Macht der Multitude. Interview: Thomas Atzert und Jost Müller, in: Atzert, Thomas, Jost Müller (Hg.): Kritik der Weltordnung. Globalisierung, Imperialismus, Empire, Berlin 2003, 49-62: 50
15 Demirovic, Alex: Vermittlung und Hegemonie, in: Atzert/Müller (Hg.): Immaterielle Arbeit und imperiale Souveränität, a.a.O.: 245ff.
16 Hardt/Negri: Multitude, a.a.O.: 130
17 Hardt/Negri: Empire, a.a.O.: 221
18 Hardt/Negri: Multitude, a.a.O.: 130
19 Hardt, Michael: Im Zwielicht der bäuerlichen Welt. Zur Klassenanalyse im Empire, in: Atzert/Müller: Kritik der Weltordnung, a.a.O., ??-??: 83)
20 Hardt/Negri: Multitude, a.a.O.: 166
21 ebd.: 159
22 Hardt/Negri: Empire, a.a.O.: 305
23 Hardt/Negri: Multitude, a.a.O.: 171
24 Hardt/Negri: Empire, a.a.O.: 75; schon in einem 1994 erschienenen Buch, das wesentliche Argumente in „Empire“ und „Multitude“ vorweg nimmt, schreiben Hardt und Negri: „Mehr denn je scheinen die angemessenen Metaphern für die Herrschaft des Kapitals aus dem Reich der Vampire zu kommen“, Negri, Antonio/Michael Hardt: Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne, Berlin 1997: 27
25 Hardt/Negri: Multitude, a.a.O.: 371
26 Hardt/Negri: Empire, a.a.O.: 305
27 Boltanski, Luc/Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2006
28 Hardt/Negri: Empire, a.a.O.: 63f. Nicht von allen sich auf Hardt und Negri berufenden AutorInnen wird dieser Argumentation in ihrer Radikalität gefolgt. Wenn Klaus Neundlinger und Gerald Raunig schreiben, „Das Streben nach ‚Freiheit’, nach ‚Autonomie’ und ‚Authentizität’ wird von der kapitalistischen Produktion übercodiert und in die Arbeitsprozesse integriert“, klingt das schon wesentlich anders und nachvollziehbarer (wenn auch weniger „innovativ“) als der Triumphalismus, der von Hardt und Negri mancherorts verbreitet wird (Neundlinger, Klaus/Gerald Raunig: Einleitung oder: Die Sprachen der Revolution – Öffentlichkeit, Intellekt und Arbeit als Lebensformen, in: Virno, Paolo: Grammatik der Multitude. Mit einem Anhang: Die Engel und der General Intellect. Mit einer Einleitung von Klaus Neundlinger und Gerald Raunig, Wien 2005, 3-22: 13).
29 Vgl. zu Geschichte und Weiterentwicklung des Operaismus: Wright, Steve: Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus, Berlin 2005 sowie Birkner/Foltin: (Post-) Operaismus, a.a.O.
30 Negri/Hardt: Die Arbeit des Dionysos, a.a.O.: 28
31 Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953 (= MEW 42)
32 Marx, Karl: Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Frankfurt/Main 1969
33 Marx: Resultate, a.a.O.: 50, Herv. i. O.
34 Birkner/Foltin: (Post-) Operaismus, a.a.O.: 89
35 Bowring, Finn: From the mass worker to the multitude: A theoretical contextualization of Hardt und Negri’s Empire, in: Capital & Class, Nr. 83 (2003), 101-132: 104
36 Marx: Grundrisse, a.a.O.: 602
37 ebd.
38 Virno, Paolo: Grammatik der Multitude, a.a.O.: 151
39 Raunig, Gerald: Einige Fragmente über Maschinen, in: grundrisse, Nr 17 (2006), 41-49: 43
40 Negri, Antonio: Politische Subjekte. Multitude und konstituierende Macht, in: Atzert/Müller: Immaterielle Arbeit und imperiale Souveränität, a.a.O. 14-28: 19
41 Hardt/Negri: Multitude, a.a.O.: 266
42 ebd.: 267
43 ebd.: 279
44 ebd.: 248
45 Negri, Antonio: Eine ontologische Definiton der Multitude, in: Atzert/Müller: Kritik der Weltordnung, a.a.O.: 120
46 Hardt/Negri: Multitude, a.a.O.: 393
47 ebd.: 248
48 ebd.: 238f.
49 ebd.: 119
50 Mahnkopf, Birgit: Unsicherheit für alle? Informalisierung und Prekarisierung von Arbeit als Ausdrucksformen der Globalisierung von Unsicherheit, in: Kulturrisse 2/2005
51 Hardt/Negri: Empire, a.a.O.: 305
52 Eine andere Strategie in den Debatten zu immaterieller Arbeit ist, auf die tendenzielle Natur des beschriebenen zu pochen. Wann immer KritikerInnen bemängeln, dass zentrale Thesen in „Empire“ und „Multitude“ im Widerspruch zu realen Entwicklungen stehen, wird erwidert, dass wir uns eben erst auf dem Weg hin zum Empire und noch nicht im Empire selbst befänden (vgl. Trott, Ben: Immaterial Labour and World Order: An Evaluation of a Thesis, in: ephemera, Vol. 7, Nr. 1 (2007), 203-232: 207). Theorie wird somit von Hardt, Negri und ihren AnhängerInnen empirieabweisend imprägniert.
53 Wright, Steve: Reality Check: Are We Living In An Immaterial World?, in: Mute Vol. 2, Nr. 1 (2006), online unter http://www.metamute.org/en/html2pdf/view/5594
54 Henninger, Max: Doing the Math: Reflections on the Alleged Obsolescence of the Law of Value under Post-Fordism, in: ephemera, Vol. 7, Nr. 1 (2007), 158-177: 163
55 Harman, Chris: Die ArbeiterInnenklasse im 21. Jahrhundert, Frankfurt am Main, 2003: 5
56 ebd.: 6. Ähnlich argumentieren etwa Ursula Huws (The Making of a Cybertariat: Virtual Work in a Real World, New York and Merlin: 130), David Camfield (The Multitude and the Kangaroo: A critique of Hardt and Negri’s theory of immaterial labour, in: Historical Materialism, Vol. 15 , Nr. 2 (2007), 21-52: 40f.) und auch ein ehemaliger Mitstreiter Negris, Sergio Bologna (vgl. Wright: Reality Check, a.a.O.: 3).
57 Hardt/Negri: Multitude, a.a.O.: 83
58 ebd.: 128
59 Dieser Trend ist natürlich keine Einbahnstraße; zu den Kämpfen um Eigentum an und Aneignung von intellektuellen Ressourcen siehe z.B. Brand, Ulrich: Gegen-Hegemonie. Perspektiven globalisierungskritischer Strategien, Hamburg 2005: 80-89.
60 Diese Sichtweise kann sich auch auf empirische Untersuchungen stützen; vgl. Camfield,: The Multitude and the Kangaroo, a.a.O.: 42f.
61 Hardt: Affektive Arbeit, a.a.O.: 182
62 Slavoj Zizek hat das in einer treffenden Anekdote zusammengefasst, in der ein altmodischer Vater sein Kind zwingt, die langweilige Großmutter zu besuchen, während der „postmoderne“ Vater sagt: „Geh nur hin, wenn du es wirklich willst!“ – und der Subtext ist: „Du musst nicht nur hingehen, du musst es auch noch mögen!“
63 Hardt/Negri: Empire, a.a.O.: 305
64 Die Goldenen Zitronen: „Lied der Stimmungshochhalter“
65 Brand, Ulrich: Die Revolution der globalisierungsfreundlichen Multitude. „Empire“ als voluntaristisches Manifest, in: Das Argument, Nr. 245 (2002), 209-220
66 Camfield: The Multitude and the Kangaroo, a.a.O.: 43
67 kpD: Prekarisierung von KulturproduzentInnen und das ausbleibende „gute Leben“, in: Arranca!, Nr. 32 (2005): 23-25: 25
68 Hardt/Negri: Multitude, a.a.O.: 125
69 Harman, Chris: Spontaneity, Strategy and Politics, in: International Socialism, Nr. 104 (2004), 3-48: 9
70 Hardt/Negri: Empire, a.a.O.: 417
71 Sandleben, Guenter: Die befreite Herrschaft. Die Verwandlungen der Arbeit durch Michael Hardt und Antonio Negri, in: Bischoff, Joachim/Christoph Lieber/Guenther Sandleben: Klassenformation Multitude? Kritik zur Zeitdiagnose von Antonio Negri und Michael Hardt, Supplement der Zeitschrift Sozialismus 12/2004, 1-17: 11
72 ebd.: 14
73 Zit. nach Mouffe, Chantal: Exodus und Stellungskrieg. Die Zukunft radikaler Politik. Mit einer Einleitung von Oliver Marchart, Wien 2005: 33
74 ebd.: 34
75 Brand: Die Revolution der globalisierungsfreundlichen Multitude, a.a.O..: 217
76 Raunig, Gerald: Monster Prekariat, in: grundrisse, Nr 21 (2007), 42-48: 43
77 Wie das BGE gefordert werden kann, ohne die Multitude bemühen zu müssen, zeigt z.B. Probst, Stefan: Es geht auch anders!, in: Perspektiven, Nr. 1 (2006): 14-18





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