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Bolivien: Revolution Reloaded?
von Stefan Probst, David Sagner

Nicht nur in der internationalen Linken, auch innerhalb der sozialen Bewegungen Boliviens gehen die Meinungen über Evo Morales auseinander. Während die einen im neuen Präsidenten Boliviens einen zweiten Chávez sehen und das Land am Weg zur Bolivarianischen Revolution Vol. II, warnen andere vor Illusionen in Morales’ „Andenkapitalismus“ und die „realpolitische“ Orientierung der MAS-Regierung. Die kontroversiellen Einschätzungen verweisen auf grundlegende strategische Debatten in den bolivianischen Bewegungen. David Sagner und Stefan Probst analysieren Herausforderungen und Perspektiven der Kämpfe und zeigen, dass die historischen Erfahrungen der bolivianischen Revolution 1952 auch für die aktuellen Debatten noch relevant sind.

Eine neue Bewegung

Morales wurde von den Bewegungen der letzten Jahre förmlich an die Macht getragen. Nach 15 Jahren neoliberaler Strukturanpassungsprogramme, einer Welle von Privatisierungen und Rückzugsgefechten der ArbeiterInnenbewegung markierten die Proteste gegen die Privatisierung der Wasserversorgung 2000 in Cochabamba den Wendepunkt und Startschuss einer neuen Periode sozialer Auseinandersetzungen. Nach jahrelangen getrennten Kämpfen von isolierten Teilen der Gesellschaft, formierte sich in Cochabamba eine Bewegung, deren Qualität in jeder Hinsicht neu war, nicht nur aufgrund der Einheit und Koordination der beteiligten Kräfte; die wachsende Politisierung fand größtenteils außerhalb der etablierten Organisationen, auch jenen der Linken, und den diskreditierten Institutionen des politischen Systems statt. Strategische Entscheidungen während der fünfmonatigen Mobilisierung wurden von den AktivistInnen gemeinsam in Nachbarschafts- und Stadtversammlungen getroffen. Politik war nicht mehr nur Sache professioneller Politiker, wie Oscar Olivera, Sprecher der Coordinadora de Defensa del Agua, betont: „Mehr als alles andere lernen wir uns politisch selbst zu repräsentieren, indem wir unsere eigenen Pläne entwickeln und umsetzen – indem wir uns gegenseitig ermutigen zu sagen, wie wir die Dinge haben wollen, und dann für diese Vision zu kämpfen.“1 Die Proteste in Cochabamba waren auch mehr als defensive Gefechte für die Rücknahme eines Privatisierungsgesetzes. Die Forderung nach Nationalisierung der Wasserversorgung zielte nicht einfach auf deren Wiederverstaatlichung. Olivera erklärt: “Das wirkliche Gegenteil der Privatisierung ist die Wiederaneignung des gesellschaftlichen Reichtums durch die Bevölkerung, selbst-organisiert in kommunalen Verwaltungsstrukturen, in Nachbarschaftsversammlungen, in Gewerkschaften, an der Basis.“2

Die MAS zwischen Radikalismus und Realpolitik

Der erfolgreiche Kampf der Cochabambinas gab in den folgenden Monaten auch anderen Bewegungen neues Selbstvertrauen: den cocaleros, die für die Legalisierung des Kokaanbaus kämpfen; den Organisationen der Aymara und Quechua, die für ihre Rechte als Indigenas protestierten; usw.; schließlich der Bewegung für die Nationalisierung des Erdgas, die all diese Kräfte zusammenführte.
Im Sog dieser Bewegungen wurde die MAS bei den Präsidentschaftswahlen 2002 beinahe an die Macht katapultiert. Mit 21 Prozent der Stimmen unterlag Morales nur um eineinhalb Prozent gegen Sánchez de Lozada, einen der Architekten der neoliberalen Schocktherapie Boliviens Mitte der 1980er.
Das Ergebnis kam selbst für die MAS überraschend. Erst 1999 als „politisches Instrument“ der Kokabauerngewerkschaften gegründet, besaß die Partei weder interne Strukturen noch landesweite Verankerung; vielmehr handelte es sich bei der MAS um „eine Koalition flexibler sozialer Bewegungen, die ihre Aktionen auf die Wahlebene ausgeweitet haben.”3
Der Überraschungserfolg von 2002 schien nun einen Sieg bei den nächsten Wahlen 2007 in greifbare Nähe zu rücken und ließ damit das Projekt einer „graduellen, institutionellen Transformation des bolivianischen Staates“ als realistische Perspektive erscheinen. Diesem Ziel hat Morales seither die Politik der MAS untergeordnet.
Nicht nur zur traditionellen Linken wurden engere Kontakte geknüpft, vor allem auch Intellektuelle und professionelle Politiker wurden für die Partei rekrutiert, die keine organische Verwurzelung in den sozialen Kämpfen hatten, aber der MAS helfen sollten, “die Mittelklassen und mit dem internen Markt verbundene Unternehmer anzuziehen”.4 Heute besteht die MAS – neben Morales selbst – im Kern aus dieser kleinen Gruppe Parteiintellektueller, die versucht einen Kurs zwischen den Forderungen der sozialen Bewegungen, der Oligarchie Boliviens, transnationalem Kapital, dem US-Imperialismus und separatistischen Tendenzen im Land zu manövrieren.
Dies hatte freilich eine zögerliche und oft widersprüchliche Politik zufolge.
So unterstützte die MAS im Oktober 2003, nachdem eine Massenbewegung gegen den Ausverkauf bolivianischen Erdgases Präsident Lozada gestürzt hatte, dessen ebenso neoliberalen Nachfolger Carlos Mesa, als dieser die Entscheidung über die Nationalisierung des Erdgas auf Juli 2004 (also neun Monate später!) vertagte und so die Bewegung demobilisieren konnte. Mitte 2005, als die indigenen Bewegungen, Gewerkschaften, die Organisationen der cocaleros und die MAS einen Einheitspakt zum Sturz Mesas beschlossen, zerbrach dieser rasch wieder, da sich die MAS mit einer 50-prozentigen Besteuerung des Erdgas zufrieden geben wollte, während die anderen Organisationen an der Forderung nach entschädigungsloser Nationalisierung festhielten. Und als im Juni 2005 die Bewegungen Mesa zu Fall brachten, die Ölfelder und Flughäfen des Landes besetzten, die Straßen blockierten und für kurze Zeit die politische Kontrolle der Gesellschaft nicht mehr in der Hand des bürgerlichen Staatsapparats sondern der Selbstverwaltungsstrukturen der Bewegungen lag, setzte die MAS alles daran, die revolutionäre Krise wieder in konstitutionelle Bahnen zu lenken. Morales einigte sich schließlich mit Interimspräsident Rodriguez auf Neuwahlen im Dezember.

Im Wahlkampf griff die MAS zwar viele der Forderungen der sozialen Bewegungen auf (Einberufung einer Konstituierenden Versammlung, Nationalisierung der Gasvorkommen, Legalisierung des Kokaanbaus), warb aber gleichzeitig für das Modell eines „Andenkapitalismus“, ein staatskapitalistisches Entwicklungsprojekt, dessen Architekt – der Soziologe und nunmehrige Vizepräsident Álvaro García Linera – offen seine Bewunderung für die europäische Sozialdemokratie erklärt. Der Balanceakt zwischen sozialer Bewegung und „Realpolitik“ führte zu so paradoxen Situationen, wie jene, als Morales gegen die ALCA demonstrierte während gleichzeitig García Linera verkündete, bilaterale Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten seien keineswegs ausgeschlossen. Unmittelbar nach den Wahlen gab Morales grünes Licht für die Privatisierung von Mutún, einem der größten Eisen- und Magnesiumvorkommen der Welt, die erst nach der Intervention der Gewerkschaften wieder auf Eis gelegt wurde.5 Und während die Sozialministerien in der neuen Regierung an AktivistInnen der Bewegung gingen, wurden die ökonomischen Schlüsselministerien mit Technokraten besetzt, die Verbindungen zur alten Ordnung unterhalten.6

Bei einigen Organisationen der sozialen Bewegungen hält sich das Vertrauen auf Morales und die MAS deshalb verständlicherweise in Grenzen. Der Dachverband der Stadtteilkomitees (FEJUVE) von El Alto bspw. hat der MAS eine 90-Tage-Frist gesetzt, die Nationalisierung des Erdgases umzusetzen. Auch Felipe Quispe (MIP), Jaime Solares (COB) und Oscar Olivera (Coordinadora) bleiben auf kritischer Distanz. Die Einschätzung innerhalb dieser Organisationen ist jedoch selbst gespalten. Die Mehrheit der sozialen Bewegungen hat sich für die strategische Unterstützung der MAS-Regierung entschlossen. Viele zentrale AktivistInnen sind nun selbst Mitglieder der Regierung – wie etwa Abel Mamani von der FEJUVE –, was die Mobilisierungsfähigkeit dieser Kräfte zur Zeit entscheidend einschränkt.

Die Kernfrage der strategischen Debatten innerhalb der bolivianischen Linken ist die um das Verhältnis der Bewegungen zu bürgerlichem Staat und politischer Macht. Die Diskussion bewegt sich dabei zwischen zwei (idealisierten) Extrempolen: Transformation der Institutionen des bürgerlichen Staats, oder Aufbau von Selbstverwaltungsorganen als politische Machtstrukturen jenseits bürgerlicher Staatlichkeit. Solche Fragen stellen sich in der bolivianischen Geschichte nicht zum ersten Mal: in vielerlei Hinsicht sind die historischen Erfahrungen der Revolution von 1952 ein zentraler Bezugspunkt für die aktuellen Debatten.

The Fire Last Time

Im Zentrum und an der Spitze der sozialen Bewegungen im Bolivien der 1930er und 1940er Jahre waren die Minenarbeiter, die mineros, gestanden.

Der Zinnbergbau war seit der Wende zum 20. Jahrhundert zum bedeutendsten Sektor der bolivianischen Wirtschaft aufgestiegen – mehr als ein Viertel des BIP wurde in den Zinnminen erwirtschaftet – und bis in die 1920er schuf das stabile Wachstum der Zinnindustrie die materielle Basis für eine Periode außergewöhnlicher politischer Stabilität. Nicht nur der politische und ökonomische Einfluss der wenigen Unternehmen, die den Zinnbergbau monopolisierten (die rosca), sondern auch deren ideologische Hegemonie in der Gesellschaft war relativ unumkämpft.

Als jedoch mit der Weltwirtschaftskrise 1929 Nachfrage und Preise für Zinn am Weltmarkt rasant fielen, brach dieses Setup rasch zusammen. Heftige Kämpfe in den 1930ern waren die Folge, die von den Regierungen mit wachsender Brutalität niedergeschlagen wurden.
Auch im Mittelstand formierte sich in den 1930ern, als sich die Illusion, die Profite aus dem Zinnexport würden die Mittel für die ökonomische und politische Modernisierung des Landes bereitstellen, zusehends in Luft auflösten7, eine Bewegung, die ihre Inspiration u.a. aus den kleinbürgerlich-nationalistischen Strategien der APRA8 in Peru zog. Als Zusammenschluss dieser Kräfte wurde 1941 die MNR gegründet.
Der MNR gelang es in den 1940ern, schrittweise auch unter ArbeiterInnen eine solide Verankerung aufzubauen. Die bislang hegemoniale Kraft in der Gewerkschaftsbewegung, die stalinistische PIR, verweigerte den Kämpfen die Unterstützung, schließlich hatte die KomIntern als oberste Maxime die Unterstützung der Alliierten und der Sowjetunion im Krieg ausgegeben, und das hieß, v.a. billigen Zinnexport zu garantieren. In das ideologische Vakuum, das der Bankrott der PIR hinterließ, konnte die MNR vorstoßen. Nur in einigen radikaleren Minen konnte zu dieser Zeit auch die trotzkistische POR Fuß fassen.
Die politische Strategie der MNR orientierte allerdings nicht auf Massenbewegungen von unten. Vielmehr knüpfte die MNR Kontakte zu einer Fraktion nationalistischer Armeeoffiziere um General Villarroel. Als sich dieser im Dezember 1943 an die Macht putschte trat die MNR in die Regierung ein.
Die Koalition MNR/Villarroel stand von Beginn an sowohl von außen (US-Imperialismus) als auch von innen (rosca) unter Druck. Die korporatistische Integration der Gewerkschaften in den Staat wurde deshalb entscheidend für das Überleben des Regimes. So wurde dann auch 1944 die erste nationale Gewerkschaft der Minenarbeiter (FSTMB) auf maßgebliche Initiative der MNR gegründet.
Das Bündnis mit der ArbeiterInnenbewegung war jedoch keineswegs permanent und stabil. Die Durchsetzung des ökonomischen Programms der Regierung, eines staatskapitalistischen Entwicklungsmodells in Anlehnung an „militärsozialistische“ Experimente der 1930er9, musste früher oder später auf eine Konfrontation mit den ArbeiterInnen hinauslaufen. Die Spannungen brachen schließlich aus, als der neue Finanzminister Paz Estenssoro ein restriktives Programm zur Stabilisierung der Währung ankündigte, das nur mit harter Repression durchgesetzt werden konnte. Auf ihrem dritten Kongress im März 1946 entzog die FSTMB der Villarroel-Regierung die Unterstützung und bereitete sich auf die unausweichlich scheinende Konfrontation vor.
Juan Lechín, Gewerkschaftsführer der FSTMB und Mitglied der MNR, versuchte unterdessen, den wachsenden Einfluss radikalerer Kräfte wie der trotzkistischen POR unter den mineros und die Kontrolle der MNR über die Bewegung gegeneinander auszubalancieren. Lechín, selbst Mitglied der Partei, die in Regierungsverantwortung die Angriffe organisierte, ging es darum, die Gewerkschaftsbewegung als Hebel zu nutzen, um dem Regime Reformen abzutrotzen. Zwar war er dafür bereit, die Forderungen der POR teilweise zu unterstützen und die Regierung samt MNR-Ministern unter Druck zu setzen; vor einer echten Offensive schreckte Lechín aber zurück.
Auch nachdem Villarroel im Juli 1946 von einer unheiligen Allianz aus Militärs und Stalinisten gestürzt worden war, wurde dieser Kurs im Wesentlichen beibehalten. Zwar beschloss die FSTMB auf ihrem außerordentlichen Kongress im November 1946 mit den „Thesen von Pulacayo“10 ein Programm, das zurecht als eines der radikalsten Dokumente der bolivianischen ArbeiterInnenbewegung bezeichnet worden ist: darin wurden nicht nur Lohnerhöhungen und die Gründung einer nationalen Gewerkschaftsföderation gefordert, sondern auch die Strategie einer grundlegenden Transformation der bolivianischen Gesellschaft entworfen. Pläne zur Besetzung der Minen wurden vorbereitet, eine Taktik, die in der Übernahme der politischen Macht gipfeln sollte. Das Problem war nur, dass die mineros zur Implementierung der Thesen auf die Gewerkschaftsführung um Lechín vertrauten – und diese zögerte.
Es verwundert deshalb kaum, dass auch der Umsturz im April 1952 zunächst ohne aktive Beteiligung der ArbeiterInnen geplant wurde. Die MNR hatte den Kommandeur der paramilitärischen Polizei Seleme für einen Putschversuch gewonnen; wie 1943 sollte das Militär den coup d’etat organisieren, während die MNR die Unterstützung der Massen sicherstellen würde.
Die Aktion begann am 9. April: MNR-Kommandos und Einheiten der paramilitärischen Polizei übernahmen die wichtigsten Gebäude der Hauptstadt. Entgegen der Erwartungen blieb die Armee jedoch loyal zum Regime; am Abend des ersten Tages schien die Situation aussichtslos und Seleme flüchtete aus dem Land, nachdem er zuvor in einer Radioansprache die Führung des Aufstandes an die Zivilbevölkerung übergeben hatte. Die Initiative ging so auf die mineros über – und mit deren Mobilisierung wendete sich das Blatt. Bewaffnete ArbeiterInnen besetzten die Bahnhöfe, beschlagnahmten Munitionszüge und schnitten den Nachschub der Truppen nach La Paz ab – was als traditioneller coup d’etat begann wurde so in einen Massenaufstand transformiert. Am 11. April, nach drei Tagen heftiger Kämpfe, gab sich die Armee geschlagen. ArbeiterInnenmilizen kontrollierten die Straßen; die Macht lag effektiv in den Händen des Proletariats.
Die neue Regierung sah sich nun mit einer Situation konfrontiert, die so nicht vorgesehen war: statt in einer Koalition mit den Militärs fand sich die MNR in einem Bündnis mit den mineros wieder, wobei das Kräfteverhältnis in den ersten Wochen nach dem April-Umsturz eindeutig auf Seiten der ArbeiterInnenbewegung lag. Der am 17. April gegründete erste nationale Gewerkschaftsdachverband COB war für einige Zeit das einzige relevante Machtzentrum im Land, denn „im gesellschaftlichen Zusammenbruch und Chaos nach dem 9. April war die COB der Fokus, um den sich ArbeiterInnen organisieren konnten. Sie war die einzige Kraft mit der Stärke und Geschlossenheit, Entscheidungen nicht nur zu diskutieren, sondern auch umzusetzen.“11
Nicht zuletzt, weil mit Lechín, Butron und Angel Cromez auch drei prominente Gewerkschaftsführer in der neuen Regierung saßen, konnten in den Monaten nach dem April 1952 weitreichende Reformen durchgesetzt werden: ein allgemeines Wahlrecht wurde eingeführt, die Zinnbergwerke wurden nationalisiert und die FSTMB erhielt zwei von sieben Sitzen in der staatlichen Bergbaugesellschaft COMIBOL. In den Minen wurde die Betriebsleitung von Delegierten der ArbeiterInnen beaufsichtigt. Am Land eigneten sich die Bauern und Bäuerinnen das Eigentum der Großgrundbesitzer an – was mit der im August 1953 verabschiedeten Landreform rechtlich legitimiert wurde. Die Revolution hatte also zu einer dramatischen und permanenten Restrukturierung der bolivianischen Gesellschaft geführt: die kleine Elite, die Jahrhunderte lang an der Macht gewesen war, war gestürzt.
Die Möglichkeit, diese Reformen durchzusetzen, war maßgeblich vom Druck von der Straße abhängig. Die Führung der COB, allen voran Lechín, beschränkte sich jedoch darauf, möglichst großen Einfluss innerhalb der Institutionen des bürgerlichen Staats zu sichern, statt den Prozess der revolutionären Transformation der Gesellschaft weiterzutreiben, die begonnene Entwicklung in Richtung einer genuin sozialen Revolution, d.h. der Übernahme der politischen und ökonomischen Kontrolle der gesamten Gesellschaft durch Selbstverwaltungsstrukturen der ArbeiterInnen, auszuweiten und zu vertiefen. So sollte sich die ArbeiterInnenkontrolle in den Betrieben auf die Überwachung der Betriebsleitung beschränken und am Land „sollten nur unproduktive haciendas enteignet werden und Grundbesitzer, die dem Reformprogramm zustimmten, würden Arbeitsverträge für Landarbeiter erhalten“.12
Auch die POR saß der Illusion auf, dass die dominante Position der COB in der Regierung die revolutionäre Entwicklung von selbst garantieren würde und verzichtete auf weitere Mobilisierung. Dies sollte sich als fatal erweisen: sobald die Bewegung demobilisiert war und das Regime fest im Sattel saß, wurden die Zugeständnisse sukzessive entschärft oder zurückgenommen, während die POR mittels bürokratischer Manöver aus der COB verdrängt wurde. Lechín diente der Regierung dabei nur als linkes Feigenblatt, bis sich die Situation wieder beruhigt hatte. 1956 fühlte sich das MNR-Regime schließlich stark genug, zur Durchsetzung der ökonomischer „Modernisierungspolitik“ auch ihre ehemaligen Partner in den Gewerkschaften frontal anzugreifen.

Revolution Reloaded?

Sowohl der gesellschaftliche Kontext als auch die politischen AkteurInnen haben sich seit 1952 stark verändert. In gewissem Sinn wurde die politische Kontinuität in Bolivien mit der neoliberalen Wende Mitte der 1980er gebrochen. Als die Minen privatisiert und auf einen Schlag 30.000 mineros entlassen wurden, wurde damit auch das politische Gewicht der Gewerkschaften massiv geschwächt. Auch in den ländlichen Gebieten Chapares und im altiplano hat die zunehmende Kapitalisierung der Landwirtschaft viele Bauern und Bäuerinnen in prekäre Arbeitsverhältnisse in die Städte gezwungen. Heute arbeiten 68 Prozent der 3,5 Mio. Lohnabhängigen im „informellen Sektor“13, nur ein Fünftel sind gewerkschaftlich organisierte Vollzeitbeschäftigte.14 El Alto ist Ausdruck dieser strukturellen Veränderungen in der bolivianischen Gesellschaft: 1950 noch ein Dorf mit wenigen tausend EinwohnerInnen ist El Alto heute ein Vorstadt-Slum von La Paz, in dem mehr als einer Million Menschen lebt, die meisten von ihnen schlagen sich mit prekären Jobs in der Hauptstadt durch.
Die Zerschlagung der Gewerkschaftsbewegung und die damit einhergehende soziale Atomisierung bedeuteten auch veränderte Formen politischen Bewusstseins. Traditionen von Klassensolidarität, die ihre Wurzeln in den Minen hatten, wurden seit den 1980ern ausgehöhlt und ein diffuser indigener Nationalismus sowie kommunalistische Widerstandsformen konnten in den 1980ern und 90ern stark an Einfluss gewinnen. Das soll nicht bedeuten, dass die Organisationen der ArbeiterInnen in den Kämpfen der letzten Jahre bedeutungslos waren, geschweige denn, dass sie in den kommenden Auseinandersetzungen keine Rolle spielen werden müssen. Die Konföderation der FabriksarbeiterInnen in Cochabamba war hauptsächliche Impulsgeberin der Proteste 2000; die Regionalgewerkschaften COR, die vor allem die prekär Beschäftigten organisieren, sind insbesondere in El Alto eine wichtige Kraft der Kämpfe; und für die Zukunft wird die Organisierung der GasarbeiterInnen im Osten des Landes, wo die Bewegung seit 2000 am wenigsten verwurzelt ist, eine zentrale Herausforderung sein. Trotzdem fehlt der Bewegung heute eine koordinierende und zentralisierende Kraft, wie sie die COB bis in die 1980er darstellen konnte.
Politische Strategien in Bolivien müssen dieser veränderten Situation Rechnung tragen. Die historischen Erfahrungen der Revolution 1952 sind deshalb nicht direkt und unmittelbar auf die heutige Situation übertragbar. Dennoch ist ein Verständnis des letztlichen Scheiterns der Revolution auch für die aktuellen Debatten relevant:
1. Das politische Programm der MAS ist ein Kompromissprojekt, das es sowohl den sozialen Bewegungen als auch dem urbanen Mittelstand, der nationalen Bourgeoisie und selbst internationalem Kapital gleichzeitig recht machen will.15 Nicht allein aufgrund der Tatsache, dass der parlamentarische Spielraum der MAS selbst begrenzt ist (die MAS hält zwar die Mehrheit in der Abgeordnetenkammer, nicht aber im Senat, und kontrolliert außerdem nur drei von neun Regionalregierungen), ist die Durchsetzung radikaler Forderungen deshalb weiterhin vom Druck von der Straße abhängig, um Morales so an seine Versprechen zu binden. Wie fatal das Vertrauen in einen geschichtlichen Automatismus und eine Abwartehaltung gegenüber linken Regierungen enden kann, haben die Ereignisse nach April 1952 deutlich gezeigt. Weil die COB auf weitere Aktionen von unten verzichtete konnte sich letztlich die Politik des „rechten“ Flügels der MNR durchsetzen.
2. Im Prozess der Mobilisierung gilt es, den Aufbau selbstverwalteter politischer Machtstrukturen jenseits und als Alternative zum bürgerlichen Staat auszuweiten und zu vertiefen. Eine solche Orientierung zeigten im Ansatz die Asamblea Nacional in El Alto und die Revolutionäre Volksversammlung in Cochabamba im Juni 2005. Gleichzeitig jedoch existierte in der revolutionären Krise letzten Sommer eine andere Dynamik, die auf die Wahlen und die Macht im Staat orientierte – es war letztere, die sich vorerst durchsetzen konnte. Derselbe Konflikt verbirgt sich heute unter dem Label der für Juli 2006 angesetzten Konstituierenden Versammlung, deren Funktion von den politischen AkteurInnen sehr unterschiedlich definiert wird. Sie könnte sich auf der einen Seite als reiner Trick erweisen, deren einziges Ziel die Konsolidierung der Macht der MAS im Staat ist.16 Auf der anderen Seite könnte die Konstituierende Versammlung aber auch Startschuss für einen Prozess demokratischer Selbstorganisierung sein, als Koordinationsstruktur eines Netzwerks von Basisstrukturen.
1952 wurde der Staat radikal umgebaut, aber kapitalistische Produktionsverhältnisse und der bürgerliche Staatsapparat selbst blieben intakt. Die COB hielt in den Wochen nach dem April-Umsturz die politische Macht in der Hand; die Durchsetzung echter ArbeiterInnenkontrolle über Produktion und Distribution wäre möglich gewesen; stattdessen optierte die Führung der COB für eine Koalitionsregierung mit der MNR und beschränkte sich auf zwei Sitze in der frisch verstaatlichten Bergbaugesellschaft. Dieses Arrangement mit den herrschenden Verhältnissen sollte ihr letztlich selbst auf den Kopf fallen.
Heute ziehen einige Organisationen der Bewegungen radikalere Schlüsse aus den Erfahrungen der Kämpfe der letzten Jahre. Die Coordinadora in Cochabamba schrieb über die revolutionäre Krise im Juni 2005:
„In dieser Mobilisierung haben wir zwei Dinge gesehen. Auf der einen Seite, dass wir, die verschiedenen sozialen Bewegungen, das gesamte Land lahmlegen und die Manöver der Unternehmer und Politiker zurückschlagen können. Auf der anderen Seite haben wir es nicht geschafft, unsere eigenen Entscheidungen und Ziele durchzusetzen… Basierend auf diesen zwei Überlegungen haben wir in allen Nachbarschaften und Communities in Cochabamba und im ganzen Land eine breite Debatte über die Notwendigkeit eröffnet, Schritt für Schritt unsere eigenen Selbstverwaltungsstrukturen aufzubauen und dafür in den nächsten Mobilisierungen zu kämpfen. Wir haben die Stärke und Kreativität, unsere Beschlüsse jenseits der offiziellen Institutionen und traditionellen politischen Parteien umzusetzen… Dieses Mal haben wir die Öltürme, die Gasfelder und die Raffinerien besetzt. In Zukunft müssen wir auch in der Lage sein, sie in unserem Eigeninteresse einzusetzen.“17

Anmerkungen

1 Olivera, Oscar: ¡Cochabamba! Water War in Bolivia. Cambridge/MA: South End Press 2004. 21.
2 Ebd. 156f.
3 Exclusive Interview with MAS’ Vice-Presidential Candidate; online unter: http://americas.irc-online.org/am/2987.
4 García Linera, Álvaro: State Crisis and Popular Power; in: New Left Review 37 (2006). 73-85; hier: 85.
5 Vgl. Petras, James: Evo Morales/Bolivia: Populist gestures and neo-liberal substance; online unter: http://www.rebelion.org/noticia.php?id=25142 und ders.: New Winds from the Left or Hot Air from a New Right; online unter: http://www.rebelion.org/noticia.php?id=28333.
6 Vgl. Petras, James: A Bizarre Beginning in Bolivia. Inside Morales’s Cabinet; online unter: http://www.counterpunch.org/petras02042006.html
7 Hinzu kam, dass der “Chaco-Krieg” gegen Paraguay, den Salamanca vom Zaun gebrochen hatte, um die innere Krise im Land in einem „nationalen Schulterschluss“ zu überwinden, in einer verheerenden Niederlage endete.
8 Alianza Popular Revolucionaria Americana (APRA): 1924 von Haya de la Torre gegründete kleinbürgerlich-nationalistische Sammlungsbewegung in Peru, deren Ideen in ganz Lateinamerika einflussreich wurden.
9 „Militärsozialismus“ nannten die Militärregimes in der zweiten Hälfte der 1930er ihr Projekt eines autoritär-korporatistischen Staats.
10 Die Thesen online: http://www.pt.org.uy/textos/temas/pulacayo.htm.
11 Lora, Guillermo: A History of the Bolivian Labour Movement, 1848-1971. Cambridge: Cambridge UP 1977. 281.
12 Kohl, James V.: Peasant and Revolution in Bolivia, April 9, 1952-August 2, 1953; in: Hispanic American Historical Review 58:2 (1978). 238-259; hier: 248.
13 García Linera: a.a.O. 79; vgl. auch Nicholls, Peter: Bolivia: between a rock and a hard place; in: Capital & Class 81 (2003). 9-15; hier: 12.
14 Olivera: a.a.O. 124.
16 Darauf weist u.a. auch hin, dass am Tag der Konstituierenden Versammlung auch das Referendum über die Autonomie der erdgasreichen Region Santa Cruz stattfinden wird, das seit der revolutionären Krise letzten Sommer von der Rechten in Bolivien gefordert wird. Das Ergebnis des Referendums soll für die Konstituierende Versammlung bindend sein.

17 Zit. n. Gonzales, Mike: Bolivia: the Rising of the People; in: International Socialism 108 (2005). 73-101; hier: 73.





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