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Es geht auch anders!
von Stefan Probst

Sachzwanglogik und Standortwettbewerb sind heute zu unhinterfragbaren Prämissen der politischen Auseinandersetzung geworden. Mehr denn je ist es nötig, wieder über radikale politische Alternativen zum neoliberalen Einheitsdenken zu diskutieren. Von Stefan Probst.

Neoliberale Argumentationsmuster sind heute quer durch das Parteienspektrum hegemonial. Zurecht schrillen deshalb bei vielen Menschen die Alarmglocken, wenn PolitikerInnen „Reformen“ einfordern. Denn wenn etwas „gründlich reformiert“ gehört bedeutet das meist Sozialabbau, Privatisierung usw. „Reform“ ist zum Codewort für die konsequente Ausrichtung auf die Erfordernisse des Marktes mutiert.
Die Neoliberalen freilich behaupten die eiserne Notwendigkeit, ja Unumgänglichkeit solcher Maßnahmen angesichts steigenden „Kostendrucks“ aufgrund der verschärften Konkurrenz am Weltmarkt. Die angeführten Sachzwänge, die den Legitimationsdiskurs des Neoliberalismus strukturieren, werden als quasi-naturgesetzlich angenommen und lassen folglich keine politischen Alternativen zu. Mit Vehemenz wird auf die „Probleme“ zu hoher Lohn- und Sozialstaatskosten sowie „unflexibler“ Arbeitsmärkte und „sozialer Hängematten“ verwiesen. „Der Markt“ fordere Senkung von Sozialleistungen, Deregulierung des Arbeitsmarkts und Privatisierung öffentlicher Dienste.
Begleitet wird diese „Neoliberalisierung“ der Lebens- und Arbeitsverhältnisse durch einen frontalen ideologischen Angriff: „Es geht darum, die sozialen Sicherungsbedürfnisse als ‚Vollkaskomentalität’ nachhaltig zu diskreditieren und durch permanente und lebenslange Flexibilisierungsanforderungen zu ersetzen.“1

In wesentlichen Zügen hat diese Argumentation auch die Sozialdemokratie übernommen. Die „Vernunft“ gebiete das „Notwendige“ und vorgeblich „Realistische“. Weil der Markt den Rahmen dessen absteckt, was politisch möglich ist, können die klassischen Forderungen der ArbeiterInnenbewegung nur mehr als naive Utopie erscheinen.

Deutlich wurde das im 1999 von Schröder und Blair vorgelegten Strategiepapier2, einem Manifest der neoliberal gewendeten europäischen Sozialdemokratien. Die hier präsentierten „realitätstauglichen Antworten auf neue
Herausforderungen in Gesellschaft und Ökonomie“ geben sich durchgehend unternehmerfreundlich: Aufgabe der Politik sei es in erster Linie, „die Steuerungsfunktion von Märkten“ zu verbessern; das soziale Netz müsse „in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung“ umgewandelt werden; Werte wie „persönliche Leistung und Erfolg, Unternehmergeist, Eigenverantwortung und Gemeinsinn“, die „zu häufig … hinter universelles Sicherungsstreben zurückgestellt wurden“, müssten gefördert werden.
Von der österreichischen Sozialdemokratie wurde dieses Programm ausdrücklich begrüßt. Andreas Rudas, damaliger Bundesgeschäftsführer, meinte, das Papier entspreche bis auf wenige Detailfragen voll der Linie der Partei und dem „prinzipiellen Willen der SPÖ, sich zu erneuern“. Vieles sei ohnehin schon im Parteiprogramm verankert.3
Bereits jetzt sind die Auswirkungen dieser Politik katastrophal: Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich in den letzten Jahren in Österreich deutlich geöffnet. Während die Unternehmensprofite wachsen sind mehr und mehr Menschen von Armut und Existenzunsicherheit betroffen. Das gilt nicht allein für die wachsende Zahl Erwerbsloser und „atypisch“ Beschäftigter (Teilzeit, Leiharbeit, Scheinselbständigkeit etc.), sondern in immer größerem Ausmaß auch für Vollzeitarbeitende.

Die zukünftige Entwicklung wird diese Trends nur verschärfen. Hartz IV in Deutschland und das CPE in Frankreich sind Vorboten dessen, was mit der Lissabon-Strategie zu
gesamteuropäischer Politik erhoben wurde. Dort ist nicht nur vorgesehen, bis 2010 das Pensionsalter auf 67 Jahre anzuheben, privat finanzierte Pensions- und Gesundheitssysteme weiter auszubauen, sondern auch die Senkung der unteren Löhne um 20-30 Prozent, Verschärfung der Zumutbarkeitsbestimmungen für Erwerbslose sowie die Beseitigung der sozialen Absicherung, wo sie ein „Hindernis für die Wiederaufnahme von Arbeit“ ist. Die Zielvorgabe
einer Erwerbsquote von 70% (Männer) bzw. 65% (Frauen) soll durch den konsequenten Ausbau von Niedriglohnsektoren und prekärer Beschäftigung erreicht werden.

Gegenfeuer

Angesichts der Tatsache, dass Prekarität und Flexibilitätsanforderungen zur Normalität des 21. Jahrhunderts gemacht werden sollen, erhält der Kampf um das Recht auf soziale und existenzielle Absicherung einen zentralen Stellenwert gegenwärtiger Auseinandersetzungen.
Das setzt einen radikalen Bruch mit der vorgeblichen Alternativlosigkeit des herrschenden neoliberalen Einheitsdenkens, der Sachzwang- und Standortlogik, voraus.
Folgende fünf Punkte – im Wesentlichen alte Forderungen der Gewerkschaftsbewegung und von Erwerbsloseninitiativen – sollten, als Mindestprogramm, Orientierungspunkte für eine politische Trendwende sein.

(i) Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich
Neoliberale Wirtschaftswissenschaft und Politik propagieren als Königsweg zum Abbau der Arbeitslosigkeit den Ausbau von Niedriglohnsektoren. Ursache der Arbeitslosigkeit seien zu hohe Löhne und zu wenig scharfe Zumutbarkeitsbestimmungen für Erwerbslose. Das eigentliche Problem seien demnach die Arbeitskräfte selbst, die an die Erfordernisse des Arbeitsmarktes nicht angepasst sind: weil zu teuer, oder überqualifiziert, usw.
In dieselbe Kerbe schlagen auch die Vorschläge der Dritte-Wegs-Sozialdemokratie: „Der Arbeitsmarkt braucht einen Sektor mit niedrigen Löhnen… Teilzeitarbeit und geringfügige Arbeit sind besser als gar keine Arbeit“, erklären Schröder und Blair.4 Die strukturelle Arbeitslosigkeit soll dazu dienen, den Arbeitsdruck zu erhöhen und die Löhne weiter zu senken.
Das ist völlig inakzeptabel. Mehr als 250.000 Menschen sind in Österreich erwerbslos, während die durchschnittliche Wochenarbeitszeit 44,1 Stunden beträgt. Unternehmen fahren Rekordgewinne ein, während die Reallöhne kontinuierlich fallen. Wir meinen, dass die Produktivitätsfortschritte allen zu gute kommen sollen. Deshalb: radikale Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf max. 30 Stunden5 bei vollem Lohn- und Personalausgleich.

Leider scheinen die Gewerkschaften diesen Slogan längst verabschiedet zu haben. Man begnügt sich mit:„Arbeitsplätze schaffen!“. Aber eine Strategie, die auf die Losung „Hauptsache Arbeit“ setzt, befördert tatkräftig den Verfall der Löhne und spielt so den Neoliberalen in die Hände.6 Selbst eine radikale Verkürzung der Arbeitszeit würde ohne Lohnausgleich erst recht zu Flexibilisierung und dem Zwang für Einzelne führen, länger zu arbeiten, um am Monatsende auf ein ausreichendes Einkommen zu kommen.

(ii) Gesetzlicher Mindestlohn
Für 253.000 working poor ist das Arbeitseinkommen nicht mehr existenzsichernd.7 Deshalb: gesetzlicher Mindestlohn, und zwar nicht pro Stunde sondern pro Monat – nur so kann das Elend des wachsenden Teilzeitproletariats aufgegriffen werden. Ein Mindestlohn von mindestens 1.500 Euro pro Monat (brutto) wäre eine untere Schranke gegen die Tendenz, die Löhne mit wachsender Arbeitslosigkeit immer mehr unter die Armutsgrenze zu drücken und gegen die schleichende Aushöhlung der Kollektivverträge (Leiharbeit etc.).8
Allerdings darf dies nicht durch öffentliche Lohnsubvention – einem sog. Kombilohn – realisiert werden, wie etwa die deutsche Regierung zur Zeit diskutiert. Wenn ein Min-destlohn aus Massensteuern finanziert wird wäre das nichts anderes als ein neoliberales trojanisches Pferd: den unteren Einkommensschichten bleibt unterm Strich erst recht weniger und die Konzerne wären zusätzlich entlastet.

(iii) Grundsicherung
In Zeiten struktureller Arbeitslosigkeit wird auch die Frage der existenziellen Absicherung der Erwerbslosen zunehmend wichtig. Bislang hat sich die Gewerkschaftsbewegung kaum oder nur unzureichend um deren Anliegen gekümmert.9Es gibt jedoch einen inneren Zusammenhang zwischen Kürzungen des Arbeitslosengelds und der Sozialhilfe sowie verschärften Zumutbarkeitskriterien und Bedürftigkeitsprüfungen auf der einen Seite und Lohndumping und erhöhtem Druck auf abhängig Beschäftigte auf der anderen. Darüber hinaus spaltet die Ideologie des „Faulenzers“ und „Schmarotzers“ die Klasse und somit auch die Kampfkraft der Gewerkschaften.
Deshalb: bedarfsorientierte Grundsicherung10, also ein Mindesteinkommen für Erwerbslose. Nach dem Modell der Euromärsche soll ein Mindesteinkommen individuell ausgezahlt werden (d.h. PartnerInneneinkommen werden nicht angerechnet); garantiert sein (Rechtsanspruch); ausgedrückt werden in einem Anteil am gesellschaftlichen Reichtum (50% des BIP pro Kopf); nicht an Arbeitszwang gebunden sein.11 Die Idee der Grundsicherung richtet sich somit vehement gegen die neoliberalen Vorstellungen einer „aktivierenden Arbeitsmarktpolitik“ mitsamt ihren demütigenden Schikanen beim Bedürftigkeitsnachweis, ihren Disziplinierungsmaßnahmen (Zumutbarkeit von Stellenvorschlägen, Meldepflichten, verpflichtende Umschulungskurse usw.), sowie der Leistungskürzung bei längerer Erwerbslosigkeit, die den Zwang zur Annahme von Billigst-Jobs verschärfen.

(iv) Ausbau einer sozialen Infrastruktur
Der Trend zur Privatisierung öffentlicher Dienste – was David Harvey treffend als „Akkumulation durch Enteignung“12 bezeichnet – muss gestoppt werden. Deshalb: umfassender Ausbau öffentlicher Güter und Dienstleistungen, die allen Menschen unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden müssen. Dies reicht von Bildung und Ausbildung über Gesundheitsvorsorge bis hin zu Wohnen und Verkehr.13

(v) Vermögenssteuer und Wertschöpfungsabgabe
Die Neoliberalen werden nun einwenden, das mögen ja alles gutgemeinte Vorschläge sein, nur: das Geld ist nicht da. Die „Politik der leeren Kassen“ zieht freilich nur so lange, als Konzerngewinne und die Vermögen der Millionäre nicht angetastet werden. Dem neoliberalen Diskurs des Mangels halten wir entgegen: das Geld ist da, wir müssen es uns nur holen. Deshalb: deutliche Erhöhung der Gewinn- und Vermögenssteuern sowie Einführung einer Wertschöpfungsabgabe.14

Auf Basis der genannten Forderungen kann eine offensiv ausgerichtete gemeinsame Kampfperspektive von Erwerbslosen, prekär Beschäftigten und sog. NormalarbeiterInnen hergestellt werden.
Uns muss jedoch klar sein, dass – so wenig radikal diese Forderungen für manche klingen mögen – ihre Durchsetzung auf erbitterten Widerstand des Kapitals stoßen wird. Der wahre Kern des neoliberalen Sachzwangarguments ist die Stagnationskrise des Kapitalismus, die den Konzernchefs immer weniger Spielraum für Zugeständnisse erlaubt. Insofern sind die obigen Forderungen mit den Imperativen der Weltwirtschaft im 21. Jahrhundert nicht kompatibel.

Kapitalismus und Gerechtigkeit

Aus diesem Grund ist jede erkämpfte Reform ständig davon bedroht, wieder “Rationalisierungsmaßnahmen“ zum Opfer zu fallen. „Die grundlegenden Merkmale des Kapitalismus – seine Abhängigkeit von der Ausbeutung der Lohnarbeit und seine Dynamik der konkurrenzgetriebenen Akkumulation einerseits und die institutionellen Strukturen, die als Folge sozialer Konflikte wie auch von Klassenkompromissen seinen Spielraum einschränken, andererseits“ stehen in einem permanenten Spannungsverhältnis zueinander.“15
Deshalb ist es notwendig, die Debatte um grundlegende politische Alternativen und Visionen, die die neoliberale „Dampfwalze des Machbaren und der Sachzwänge“ so erfolgreich zurückgedrängt und „in den Bereich des Wunschdenkens und Märchenerzählens“16 verwiesen hat, wieder auf die Tagesordnung zu setzen.
Die „globalisierungskritische“ Bewegung seit 1999 hat mit ihrem Slogan „Menschen statt Profite“ die Frage, ob wir wirklich in der „besten aller möglichen Welten“ leben wieder aufgeworfen und damit eine neue Debatte um systemische Alternativen, um gesellschaftliche „Utopien“ angestoßen. Das gilt es aufzugreifen und mit Inhalt zu füllen.

Ein solcher Vorschlag ist der eines bedingungslosen Grundeinkommens (BGE):17 Jeder Mensch soll bedingungslos, d.h. ohne, dass Arbeitsleistung oder Arbeitsbereitschaft dafür verlangt wird, und unabhängig von anderen Einnahmequellen (z.B. aus Lohnarbeit), ein Einkommen (vom Staat) erhalten, das ihm/ihr ein Leben in Würde garantiert.18 Begründet wird diese Forderung mit dem „uneingeschränkte[n] Recht auf eine angemessene ökonomische Lebensgrundlage für alle“ 19

In diesem Sinn geht das Konzept des BGE weit über die im vorigen Abschnitt angeführten Punkte hinaus, denn die Forderung nach Ausweitung politischer Rechte zu sozialen Grundrechten berührt die Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft.20 Das System der Lohnarbeit beruht auf dem „Recht auf Ausbeutung zu jedem marktnotwendigen Preis“21; Lohnersatzleistungen werden nur unter der Beding-
ung der „unbedingten und vollständigen Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt“ gezahlt. Ein soziales Grundrecht auf ein Einkommen, das ein Leben in Würde ermöglicht unabhängig vom Zwang, dafür zu arbeiten, – eben ein garantiertes Grundeinkommen – steht in grundsätzlichem Widerspruch zur kapitalistischen Verwertungslogik und Profitmaximierung.

Das BGE zielt somit ins Herz des herrschenden Gesellschafts- und Menschenbilds. Wenn gefordert wird, allen Menschen die gleichen Möglichkeiten zu geben, „das Leben zu führen, das sie – als bestimmte Individuen mit einem eigenen Profil von Fähigkeiten, Lebensgeschichte, kulturellem Hintergrund und Bedürfnissen – Grund haben zu schätzen“22, so sind diese Gerechtigkeitsprinzipien mit kapitalistischen Prioritäten nicht kompatibel. Nicht zufällig hat der neoliberale Vordenker Hayek überhaupt bestritten, dass an den Kapitalismus Gerechtigkeitsmaßstäbe angelegt werden könnten.
Ein Grundeinkommen ist deshalb solange „utopisch“, als die kapitalistischen Zwänge die gesellschaftlichen Möglichkeiten vorgeben. Die Tatsache, dass die Durchsetzung des BGE unter kapitalistischen Vorzeichen nicht möglich sein wird, wirft folglich weitergehende Fragen auf, wie eine egalitäre Gesellschaft politisch und ökonomisch organisiert werden sollte.

Am wichtigsten scheint mir: Die Einführung eines Grundeinkommens müsste Hand in Hand gehen mit der gesellschaftlichen Aneignung der Vermögen und produktiven Ressourcen und deren demokratischer Verwaltung durch die Bevölkerung. Erst dann wäre die Verteilung des Reichtums entlang der Gerechtigkeitsprinzipien, die die Idee des Grundeinkommens leiten, verwirklichbar.23 Auch wenn sich die meisten ProponentInnen des BGE nicht als AntikapitalistInnen verstehen, ist die Forderung somit zumindest normativ antikapitalistisch – und genau das macht ihre
soziale Sprengkraft aus.
Freilich soll das BGE kein Ersatz für jene Forderungen sein, wie sie im ersten Abschnitt formuliert wurden. Im Gegenteil ist der Kampf um Arbeitszeitverkürzung, Mindestlohn usw. viel unmittelbarer notwendig und möglich.

Das BGE kann jedoch eine Debatte über alternative Werte und Prioritäten einer „anderen Welt“ jenseits kapitalistischer Verwertungslogik eröffnen, und helfen, die normativen Grundlagen einer solchen egalitären Gesellschaft zu begründen. Dabei stellen die Prinzipien des BGE auch heute schon allgemeine Orientierungspunkte für die gesellschaftliche Auseinandersetzung dar.24

1. Das Grundeinkommen knüpft sozialpolitische Forderungen nicht an das Wohlergehen „der Wirtschaft“. Das bedeutet, dass die Logik der Profitmaximierung und die Budgetpolitik der Staaten auch nicht als eine „quasi natürliche, unüberwindliche Schranke für die Perspektive des politischen Handelns erachtet und als solche auch nicht akzeptiert wird.“

2. Während die Politik die Sicherung der grundlegenden Lebensbedingungen zunehmend in die Eigenverantwortung jedes isolierten Einzelnen entlässt, stellt sich das Konzept des Grundeinkommens prinzipiell gegen jede Form der Privatisierung gesellschaftlicher Aufgaben.

3. Der Vorschlag der Entkoppelung von Einkommen und Lohnarbeit impliziert, dass auch die Bedeutung nicht-erwerbsförmiger Arbeiten gesellschaftlich anerkannt wird: Kinderbetreuung und -erziehung, Pflegetätigkeiten, Beratungseinrichtungen, politische soziale und künstlerische Initiativen, NGOs etc.

4. Die Rolle des Staates beschränkt sich im Konzept des Grundeinkommens darauf, „allen BezieherInnen des Grundeinkommens dieses pünktlich zu überweisen.“ Das impliziert sowohl die Ablehnung jeglicher kontrollierenden, überwachenden und disziplinierenden staatlichen Maßnahmen, als auch die Betonung, dass der Kampf um eine gerechte Gesellschaft von den Menschen selbst organisiert werden muss und nicht an staatliche Instanzen delegiert werden kann.

Politik des „Unmöglichen“

Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek hat die heutige Politik treffend als „Post-Politik“ bezeichnet, weil sie „echte Politik“, “die Kunst des Unmöglichen”, ausschließt, die
„gerade die Parameter dessen, was in der existierenden Konstellation als ‚möglich’ betrachtet wird“ verändert.25 Politik als „Kunst des Unmöglichen“ bedeutet demnach, nicht zu akzeptieren, dass die kapitalistische Marktwirtschaft den Horizont möglicher Veränderung definiert. Es bedeutet auch, konkret über „Utopien“ einer egalitären Gesellschaft nachzudenken.
Schon Lenin, von dem man das wohl am wenigsten erwarten würde, betonte: „Wir müssen träumen!“26 Allerdings dürften Traum und Wirklichkeit nicht unverbunden nebeneinander stehen. Den „Zwiespalt“ zwischen beiden zu überwinden sei Aufgabe politischer Strategie. Deshalb ist jede normative Kritik an den herrschenden Zuständen unvollständig ohne anzugeben, wie und von wem die ungerechten Verhältnisse geändert werden können. Die Debatte um das Ziel einer egalitären Gesellschaft muss folglich in den konkreten Kämpfen im hier und heute verankert werden.
Eine anti-neoliberale Bewegung sollte Massenproteste um Maßnahmen organisieren, „die sowohl unmittelbare Verbesserungen bieten als auch beginnen, eine andere gesellschaftliche Logik einzuführen.“27 Die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen könnte eine Möglichkeit dafür sein.

Anmerkungen

1 Hauer, Dirk: Anmerkungen zur Prekarität; in: SiG 43. p19-20; hier: p19.
2 Blair, Tony/ Schröder, Gerhard 1999: Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten. Ein Vorschlag von Gerhard Schröder und Tony Blair; online: http://www.glasnost.de/pol/schroederblair.html
3 Volksstimme 26/99.
4 Schröder/Blair: a.a.O.
5 30 Wochenstunden sind freilich noch eine relativ moderate Forderung. Christian Felber (ATTAC) bspw. schlägt, angesichts der Produktivitätsentwicklung, eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 20 Stunden vor. (Felber, Christian: 50 Vorschläge für eine gerechtere Welt. Gegen Konzernmacht und Kapitalismus. Wien: Deuticke 2006. p254ff)
6 vgl. Euromärsche: Der Ansatz der Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung. 2004.
7 Armutskonferenz (http://www.armutskonferenz.at/armut_in_oesterreich_workingpoor.htm)
8 Allerdings muss eine gewerkschaftliche Kritik am gesetzlichen Mindestlohn ernst genommen werden, nämlich, dass dadurch die Kollektivvertragshoheit ausgehöhlt würde. Vgl. dazu Hermann, Christoph: Mindestlöhne in Österreich; online: http://www.forba.at/files/download/download.php?_mmc=czo2OiJpZD0xNDUiOw sowie den Aufsatz von Kurt Nikolaus et al. im Sammelband Einkommen zum Auskommen. Von bedingungslosem Grundeinkommen, gesetzlichen Mindestlöhnen und anderen Verteilungsfragen. Hamburg: VSA 2004. 94-110.
9 Vgl. Gauper, Ortrun 2006: Wir müssen uns öffnen; in SoZ Juli 2006. p5; online: http://members.aol.com/sozabc/060705.htm
10 Vgl. Tálos, Emmerich (Hg.): Bedarfsorientierte Grundsicherung. Wien: Mandelbaum 2003; Euromärsche: a.a.O.
11 Allerdings ist die Grundsicherung an die Bereitschaft zur Annahme „zumutbarer Arbeiten“ geknüpft. Was als „zumutbar“ gilt, unterscheidet sich selbstverständlich grundlegend von den Vorstellungen von Industriellenvereinigung & Co. (vgl. Tálos: a.a.O.) Dennoch liegt hier eine potentielle Schwachstelle der Grundsicherungsmodelle.
12 Harvey, David 2005: Der neue Imperialismus. Hamburg: VSA.
13 Vgl. Hirsch, Joachim/ Steiner, Heinz: Gibt es eine Alternative zum neoliberalen Sozialstaatsabbau? Umrisse eines Konzepts von Sozialpolitik als Infrastruktur; http://www.links-netz.de/K_texte/K_links-netz_sozpol.html
14 Wertschöpfungsabgabe: die Bemessung der Sozialabgaben der „Arbeitgeber“ nach Lohnsumme durch die Heranziehung der gesamten Wertschöpfung im Produktionsprozess ersetzen.
15 Callinicos, Alex: Ein Anti-Kapitalistisches Manifest. Hamburg: VSA 2004. p129f.
16 Reitter, Karl: Garantiertes Grundeinkommen jetzt!; in: Grundrisse 12 (2004); online: http://www.unet.univie.ac.at/~a9709070/grundrisse12/12karl_reitter.htm
17 Der Vorschlag eines Grundeinkommens wurde in den 1980ern von Sozialminister Dallinger aufgegriffen und wird heute auch in den Gewerkschaften diskutiert. vgl. Gauper: a.a.O. und Dallinger, Alfred (Hg.): Basislohn/Existenzsicherung. Garantiertes Grundeinkommen für alle? Forschungsberichte aus Sozial- und Arbeitsmarktpolitik Nr. 16. Wien: BM f. Arbeit und Soziales 1987.
18 Tatsächlich gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Grundeinkommenskonzepte. Die ProponentInnen des BGE sind sich dabei sowohl über Inhalt als auch über Durchsetzbarkeit und Implikationen der Forderung uneins. Sogar Kombilohnmodelle und Vorschläge einer negativen Einkommenssteuer werden unter dem Begriff Grundeinkommen diskutiert. Ich verzichte hier auf eine Kritik dieser Modelle und bringe die Grundeinkommensforderung im Folgenden in der Art und Weise in die Diskussion ein, wie sie mir sinnvoll und fortschrittlich erscheint. Mir ist bewusst, dass sich dies von vielen anderen Vorschlägen abhebt. (Zur Geschichte der Grundeinkommensforderung vgl. Van Parijs, Philippe/ Vanderborght, Yannick: Ein Grundeinkommen für alle? Geschichte und Zukunft eines radikalen Vorschlags. Frankfurt: Campus 2005 und Füllsack, Manfred: Leben ohne zu arbeiten? Zur Sozialtheorie des Grundeinkommens. Berlin: Avinus 2002; zur Kritik vgl. z.B. Roth, Rainer: http://www.gegen-sozialabbau.de/downloads/bge_rr.pdf)
19 Reitter, Karl: Garantiertes Grundeinkommen jetzt!, a.a.O. (m.Hv.)
20 Im Prinzip wird damit nicht mehr gefordert, als das, was die bürgerliche Gesellschaft seit jeher versprochen hat, aber nie konsequent einlösen konnte: Freiheit und Gleichheit werden nur als formale politische Rechte gewährt, die Ökonomie bleibt ausgenommen. In der Grundeinkommensdiskussion geht es dagegen genau um die materiellen Grundlagen von Freiheit und Gleichheit. Dieckmann meint daher treffend: „Wenn man so will, bringt die Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen eine bürgerliche Utopie gegen die real existierende bürgerliche Gesellschaft ins Spiel.“ (Dieckmann, Martin: Der Grund der Rechte. Kontroversen übers „bedingungslose Grundeinkommen“; http://www.linksnet.de/artikel.php?id=2209)
21 Klein, Angela: Das Leben in Würde und der Kapitalismus; in: SiG 43. p16-17.
22 Callinicos: a.a.O. p121.
23 D.h., dass ein bedingungsloses Grundeinkommen eine wichtige Maßnahme einer sozialistischen Übergangsgesellschaft darstellen kann, in der zwar die Lohnform tw. noch besteht, deren Bedeutung jedoch durch die kontinuierliche Erhöhung eines Grundeinkommens mehr und mehr abgeschwächt wird. Diese Formulierung unterscheidet sich von demjenigen von van Parijs, der im Rahmen eines Modells der evolutionären Transformation des Kapitalismus die allmähliche Erhöhung eines Grundeinkommens selbst schon als „schrittweise Entwicklung hin zum Kommunismus“ auffasst. (van Parijs/Vanderborght: a.a.O., p90) Einen ähnlichen Gedanken entwickelt, wenn ich ihn richtig verstehe, auch Reitter auf Basis der Konzeption einer „dualen Wirtschaft“. (http://homepage.univie.ac.at/Karl.Reitter/grundeinkommen.htm)
24 Das Folgende nach Reitter, Karl: Dimensionen des garantierten Grundeinkommens. Eine Antwort auf populäre Einwände; http://homepage.univie.ac.at/Karl.Reitter/grundeinkommen.pdf, p14.
25 Žižek, Slavoj: Die Tücke des Subjekts. Frankfurt: Suhrkamp 2001. p274.
26 Lenin, Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung; in: Werke Bd. 5, p355-549; hier p529.
27 Callinicos, a.a.O. p141.





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