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„Eine Haltung suchen, die anders sein will“
von Schorsch Kamerun, Ted Gaier (Die Goldenen Zitronen), Daniel Fuchs und Benjamin Opratko

Daniel Fuchs und Benjamin Opratko sprachen mit Schorsch Kamerun und Ted Gaier von den Goldenen Zitronen über kritische Haltungen in der Popkultur, die Ratlosigkeit der Linken in der Krise und die bayrische Räterepublik.

Die Zeit hat euch jüngst, anlässlich eures 25jährigen Bandbestehens, als „Deutschlands dienstälteste dezidiert linke Band“ bezeichnet. Da stellt sich doch die Frage: was macht denn eine „linke Popband“ eigentlich aus?

Ted Gaier: Glaubst du etwa der Zeit?!

Nicht unbedingt – aber das Attribut „links“ ist ja eines, das ihr auch für euch selber benutzt, oder nicht?

Schorsch Kamerun: Das kann schon sein, aber das klingt dann auch schon wieder wie so ein Labelling – immer diese Beschreibungen, um etwas irgendwie festhalten zu müssen… Lass uns doch besser darüber reden, was ihr meint, was „links“ bedeuten könnte, vielleicht findet man dann ja einen Weg. Aber das bloß zu bestätigen oder abzulehnen finde ich einen Vorgang, der so gar nicht nötig ist.

TG: Das lustige ist ja, dass der Autor dieses „Zeit“-Artikels mir dazu eine Mail geschrieben hat, auf die ich geantwortet habe, dass ich locker ohne die Begriffe „Punk“ und „Links“ auskomme…

SK: Ich übrigens auch.

TG: …aber diese Antwort kam im Artikel dann gar nicht vor, weil der Journalist halt seine These verbreiten wollte. Das ist mir mit Robespierre, einer anderen Band in der ich spiele, auch schon so gegangen. Ich meine: Klar sind wir eine linke Band, aber das nur auf dieser Ebene zu verhandeln, fühlt sich irgendwie etwas fade an.

SK: Die Beschreibung „links“ mag ja stimmen, aber man wird des Attributs dann doch etwas müde. Man muss das doch sofort überprüfen.

TG: Die Frage, die sich da anschließt, ist ja: Was ist denn eine linke Band?

Das ist es ja, was wir ansprechen wollten. Vielleicht können wir das anders formulieren. Am Nähesten läge es, das anhand der Texte zu verhandeln – gerade bei euch, die ihr euch in euren Texten auch stets mit aktuellen Verhältnissen auseinandersetzt. Dann drängt sich aber die Frage auf, wie es mit dem Verhältnis von Text und Musik aussieht. Es gibt in der jüngst erschienenen Dokumentation von Peter Ott1 über euch eine Stelle, an der ein ehemaliges Bandmitglied sagt, dass er manchmal das Gefühl hatte, dass Die Goldenen Zitronen nur noch etwas Musik rund um die Texte bauen wollen. Das ist ja ein Problem: Einerseits will man aus einer kritischen Perspektive Leute mit seinen Texten erreichen, andererseits will man auch in der Form eine gewisse Radikalität entwickeln.

TG: Das ist genau das Paradoxe daran. Einerseits machen wir so was wie Chansons oder Songwriting, wo die Texte total wichtig sind, und dann sind wir so etwas wie ein improvisierendes Kollektiv, wie eine Band, die auch ohne Texte auskäme. Das ist unser Anspruch und Antrieb. Bei unseren letzten beiden Platten, Lenin und Die Entstehung der Nacht, hatten wir die Songs erstmal ohne Text komplett fertig, und haben dann angefangen, Texte dazu zu schreiben. Die Musik ist also völlig ohne Einfluss davon, was sie textlich abbilden soll, entstanden – was etwa bei der Das bisschen Totschlag-Platte noch ganz im Vordergrund stand. Das ist also ein Paradox, das wir auch nicht wirklich geregelt kriegen. Und natürlich springt man gerade im deutschsprachigen Raum immer gleich auf die Texte an. Die sind dann die Hauptwahrnehmung, und die Musik fällt gerne mal ein bisschen unter den Tisch. Und natürlich ist das eine Einheit, wobei es Bands gibt, bei denen Texte nicht so wichtig waren – wie zum Beispiel Can, oder Faust. Bei uns ist das aber so komisch, wir wollen immer zwei Sachen gleichzeitig. Wir behaupten, dass die Musik ein Eigenleben hat. Für Das bisschen Totschlag gilt: Wir hatten eine klare Vorstellung davon, was gesagt werden muss, und wir wollten, dass sich das auch in der Musik abbildet: in der wilden Orgel, in der wilden Gitarre, in den wilden Beats, damit das wie so ein Klumpen wird. Und heute versuchen wir das eher auseinanderzunehmen und manchmal auch vielschichtigere Rhythmen zusammenzubringen.

SK: Ich glaube, dass wir uns bei all diesen Sachen, wenn wir uns selbst überprüfen, über eine Haltung definieren. Das machen wir natürlich über die Texte, das kann man ja auch ablesen, und in der Musik funktioniert das eher in einer dehnbareren Form, da kann man mehr auslegen. Aber auch wenn wir musizieren, versuchen wir explizit nach einer Haltung zu suchen, die „anders“ sein will, und das gelingt uns vielleicht auch. Wenn man singt, macht es ja auch etwas aus, wie man etwas singt, um noch etwas reinzulegen. Oder wie wir auf die Bühne gehen, wie wir uns da hinstellen, dass das Rotationsprinzip auf der Bühne stattfindet, das ist immer eine Art der Haltungsüberprüfung, bei allem was wir so tun.

Wie geht ihr denn damit um, dass ihr auch Teil von Popkultur seid, wie reflektiert ihr das?

SK: Popkultur ist ja auch so ein wahnsinnig dehnbarer Begriff – alles will ja irgendwie Popkultur sein…

Aber es gibt doch gewisse popkulturelle Konzepte wie Leadsänger, Popstar…

SK: Und genau die versuchen wir ja ständig zu thematisieren. Zum Beispiel bei Fotos, wo sonst immer der Sänger nach vorne soll, wie das eben so ist. Man sieht bei den Fotos, die es von uns gibt, dass da auch noch andere Leute mit drauf sind, mal in der Öffentlichkeit fotografiert wurde oder man einfach Bekannte mit dazu nimmt, damit man den Kreis da immer erweitert und nicht so genau sagen kann: Das sind die Positionen in dieser Gruppe. Nun verwenden wir ja zum Teil auch Kostüme, oder wie man das nennen soll. Bei der letzten Platte waren das die Lederjacken mit diesen überzogenen Slogans drauf, diesmal ist es wieder was anderes – das ist dann auch wieder Teil unserer Sprache: dass die Gruppe ein Gesamtbild abgibt. Da ist es nicht so, dass ein Typ im Vordergrund steht, sondern du musst das Ganze sehen. Das haben wir auch schon bei den Fotos davor gemacht, wo wir als Superhelden in verschiedensten Richtungen aufgetreten sind. Das kann dann ein Bauherr sein, oder ein Proll, oder Napoleon und so weiter. Da kann man also schon drüber nachdenken, wie man da was aushebelt.

Es gibt ja auch Diskussionen innerhalb der Band darüber, wie die Zusammenarbeit geregelt wird.

SK: Muss ja!

Stellt sich da auch die Frage, wie eine Band selbst demokratisch strukturiert sein kann?

SK: Genau, wobei wir die Sachen, über die wir gerade sprechen, schon vor langer Zeit angelegt haben, als wir angefangen haben, innerhalb von Popkultur die Dinge zu begreifen, was etwa das Labelling angeht oder bestimmte Beschreibungsformen. Ob das nun Abbildungen sind, Fotos, wie das auf der Bühne wahrgenommen wird, wie wir als Gruppe musizieren, wer da noch mit reinkommen kann – das kann man schon aufweichen.

Seit Anfang der 1990er und 80.000.000 Hooligans ist eure Musik, gerade textlich, immer auch so was wie eine Bestandsaufnahme zur Lage der Nation. 2006, bei Lenin, waren die Themen, die herausgestochen sind, Prekarisierung, Verunsicherung und erzwungene Flexibilität. Auf der neuen Platte schreibt sich das weiter – bei Songs wie Bloß weil ich friere zum Beispiel; andererseits ist auf der Platte aber auch die Krise als großer Bruch erkennbar. Was hat sich denn eurer Ansicht nach in den Jahren, die zwischen diesen beiden Platten vergangen sind, tatsächlich verändert?

TG: Das erste Problem ist ja schon mal, darüber zu reden. Da geht’s einem nicht anders als dem Rest der Linken. Es scheint ja überhaupt nicht möglich, zu fassen, was das eigentlich soll, und diese Ratlosigkeit ist ja auch allumfassend. Deshalb versucht der Text da auch nicht schlauer zu sein als er ist. Es ist natürlich einfacher, nach Rostock-Lichtenhagen1 eine Position zu haben und zu sagen „Hey ihr Arschgeigen, das habt ihr gemacht und so ist das gelaufen!“ Diese Art der Berichterstattung war damals letztendlich einfach, weil man ja nur die Zeitungsnachrichten und die eigenen Erfahrungen zusammensammeln musste und dann konnte man gleich eine Anklageschrift formulieren. Jetzt merken wir alle ja, dass wir total draußen sind. Würde diese Krise, so wie sie gelaufen ist, in den 1970er Jahren stattgefunden haben, dann wären die Eliten an den Universitäten irgendwelche Leute, die vom Marxismus eine Ahnung haben, und der Sozialismus wäre sowieso gerade eine Option gewesen. Dann hätte das eine ganz andere Sprengkraft und es würde ein ganz anderes in-die-Situation-Treten geben, weil es genug Leute gäbe, die sagen würden „Nein, jetzt machen wir es aber ganz anders!“. Die Akzeptanz dafür, dass nicht diejenigen, die den Karren in den Dreck gefahren haben, ihn wieder rausholen müssen, wäre geringer. Und ich weiß nicht, wie’s euch geht, aber mir kommt es so vor, dass wir gar nicht wirklich viel über diese Krise wissen, und dass – was weiß ich – Angela Merkel auch nicht mehr darüber weiß. Das ist natürlich eine absurde Situation. Da fiel mir jedenfalls auf, dass wir im Kampf in der Kultur schon viel erreicht haben, in den Styles, in den Codes, in der Theorie, im emanzipatorischen Diskurs – aber aus dem ökonomischen Diskurs ist man komplett draußen. Jemand wie Robert Kurz2 hat’s zwar schon seit 15 Jahren gesagt, aber der kann jetzt auch nur sagen: „Ich hab’s euch ja gesagt!“

Wie schlägt sich das dann in der Alltagserfahrung nieder? Würdet ihr sagen, dass sich diese Prekarisierungstendenzen, die ihr auf dem Album Lenin beschreibt, und das Thema Verunsicherung/Sicherheit, mit der Krise weiter verstärkt haben?

SK: Also die Verunsicherung, die war ja insgesamt gesellschaftlich da. Ich meine, was da ins Wanken geraten ist, das findet ja nicht in persönlichen Bereichen statt – das hat es sowieso schon davor gegeben, außer dass vielleicht der ein oder andere jetzt Angst hat, dass das, was er auf seinem Konto hatte, jetzt irgendwie verschwindet. Aber ansonsten – ich meine, das System fand man ja möglicherweise auch vorher schon faul.

TG: Zumindest was die tagespolitische Debatte in Deutschland angeht, war meiner Meinung nach realpolitisch die Verunsicherung viel größer als die Hartz IV-Gesetze eingeführt wurden. Da haben Leute wirklich gemerkt, dass das jetzt ein Einschnitt ist, der etwas radikal verändert, der nach unten etwas aufmacht. Die Verunsicherung und der Unmut waren da viel spürbarer als jetzt, wo das ja auch durch die Politik der Regierung abgefedert wird.

SK: Man merkt ja, dass es einfach nur um Versprechen geht. Es reicht eigentlich aus, das Versprechen, die Blase, die da geplatzt ist, durch eine neue zu ersetzen, die dann wieder Hoffnung gibt. Wenn die Regierung sagt, „Okay, wir fangen euch dann auf“, ist das auch erst mal nur eine Behauptung, und die kann sofort außer Kraft gesetzt werden, wenn es nicht alle „glauben“. Das ist ja auch ein bisschen das Problem von jemandem wie Obama. Bei dem spürt man ja, dass es in den meisten Fällen gar nicht unbedingt darum geht, was er faktisch verbessern kann, sondern erstmal um die Frage: „Glauben wir dem denn?“. Also immer nur um Versprechen, immer nur um etwas Imaginäres. Und das hat man ja auch ganz deutlich bei der ökonomischen Krise gespürt. Die trifft natürlich trotzdem real die Leute, aber auch wenn es jetzt wieder „in Ordnung gerät“, hat man das Gefühl, dass die Ängste eigentlich nur ein Stück höher geschraubt, noch mal erweitert werden. Du kannst entweder glauben oder nicht glauben, und das ist alles, weil der Rest geht einfach so weiter.

Eine Reaktion auf diese Ängste, die ihr in dem Song Aber der Silbermond beschreibt, ist so ein neo-biedermeierlicher Rückzug ins Private. Da geht es um ein Lied der Band Silbermond, in dem sich die Sängerin „nur ein kleines bisschen Sicherheit“ wünscht. Beobachtet ihr, dass als Reaktion auf Verunsicherung und Prekarisierung so eine Sehnsucht nach Heimeligkeit festzustellen ist?

SK: Ja, und ich würde schon sagen, dass das natürlich ein verständlicher Reflex ist, wenn man meint, kaum eine Möglichkeit zu haben, sich irgendwie zu verorten. Aber wahrscheinlich auch der falsche, weil man damit ja auch ein Instrument abgibt. Ich glaube, Cocooning kann es irgendwie nicht sein.

TG: Obwohl dieser Trend nicht unmittelbar mit der Krise zusammenhängt…

SK: Man kennt das aus der Soziologie schon ganz lange: der „flexible Mensch“, über den Richard Sennett zum Beispiel ohne Ende geschrieben hat. Oder eben das Subjektivierungs-Thema, das ist ja jetzt nichts ganz Unbekanntes. Das wirkt eben auf Leute und es ist völlig verständlich, finde ich. Aber es darf meiner Ansicht nach nicht dazu kommen, dass man als einzige Möglichkeit so eine Art Aussteigertum sieht, in dem es wirklich nur darum geht, zuzumachen.
Man kann das jetzt ganz gut an dem Silbermond-Text festmachen, finde ich, oder an dem Video zu deren Song. Da geht es um Protest, wenn du so willst: Es beschwert sich jemand, macht das in diesem Video aber in einem Raum, in dem es um eine Demonstration geht, und sagt eigentlich „Ich will diese Demonstration nicht, weil die bringt es jetzt irgendwie auch nicht. Lasst es lieber bleiben!“. Und das ist schon ein Paradox, ein Widerspruch in sich, wenn man so will. Das ist denen, die das Video gemacht haben, aber nicht klar gewesen, glaube ich.

TG: Wobei, dass das da explizit einander gegenüber gestellt wird, ist schon fast wieder politisch. Das ist schon fast eine Form von Bewusstsein.

SK: Aber ich behaupte jetzt einfach mal, dass man da etwas missverstanden hat, dass man diesen Song gemacht hat und sich dann überlegt hat, was denn zu diesem Lied passt. Und dann machen sie einfach so ein Video.

Ist dieses Thema der Sicherheit und der Sehnsucht nach Sicherheit auch etwas, was dich, Schorsch, bei deinem Projekt für die Wiener Festwochen3 beschäftigt hat?

SK: Klar, das war ein Teil davon. Aber es ging da ja um sehr viel, etwa um die ganze Überwachungsthematik. Ich habe ja auch ein paar lustige Sachen herausgefunden, wie die Z-Schlüssel-Geschichte, die unheimlich komisch ist. Man hat mir jetzt auch einen geschickt [lacht] – ich bin jetzt im Besitz eines Z-Schlüssels! Ich habe zur Vorbereitung zwei Mal eine Konferenz besucht, das eine Mal in München, da waren dann eher die Spezialisten, die sich im Feinsten auskennen, und dann war ich hier, in Simmering, wo sich die Polizei hingestellt und erklärt hat, was man alles machen muss, um sich zu schützen, welche Schlösser es gibt und welche Olive so ein Schloss haben muss, mit all den Fachbegriffen. Die Leute dort waren begeistert. Und dann kriegst du irgendwie mit, dass man mit einem Z-Schlüssel in jedes zweite Haus in Wien reinkommt. Das war schon köstlich. Und die Polizisten da waren nicht scheiße, sondern haben zum Beispiel gesagt, „Ok Leute, bitte keine Knarre zu Hause, weil das kann nur schief laufen“. Die haben also nicht die Bürger aufgestachelt, sondern eher de-eskaliert, weil da waren Typen, die wollten nur darüber reden, welche Waffen sie sich zulegen sollten und was für eine sie schon zu Hause haben. Zum Schluss kam noch ein Bulle, ging zu so einem hin und meinte, „Sagen Sie mal, ich möchte Sie doch noch fragen, haben Sie denn überhaupt einen Waffenschein?“. [Lacht]

Eine Abschlussfrage noch, weil uns das als Theoriemagazin auch irgendwie nahe liegt: Welche Rolle spielt politische Theorie in eurer Arbeit, vor allem in eurer Textproduktion?

SK: Zunächst mal über Selbstbildung und Interesse, würde ich sagen. Das ist ganz unterschiedlich.

Was lesen denn die Goldenen Zitronen gerade? Was liegt am Nachttisch?

SK: Also ich habe jetzt gerade zwei Werke zur Bayrischen Räterepublik gelesen, weil ich damit zu tun hatte. Also wirklich toll fand ich Wir sind Gefangene von Oskar Maria Graf4, das hat mich unheimlich gerührt. Und dann noch Eine Jugend in Deutschland von Ernst Toller5, auf eine ganz andere Weise, weil mit einer anderen Ernsthaftigkeit geschrieben. Die beiden Wege dieser zwei Leute fand ich interessant. Der eine, Toller, ist politisch wesentlich dezidierter, im Krieg Pazifist geworden, und hat dann als Revolutionär irgendwann eingesehen: Okay, man hätte vielleicht doch Opfer bringen müssen, weil du kannst die Revolution sonst nicht durchsetzen. Das ist schon krass, und Toller ist ja daran auch für sich gescheitert und hat sich irgendwann umgebracht. Und dann jemand wie Oskar Maria Graf, der aus einem sehr autoritären Umfeld kommt und irgendwann, wie er schreibt: „als das Blut brach“, meinte „ich habe es nicht mehr ausgehalten“, und sich anarchistisch politisiert hat. Das fand ich schon sehr aufregend: Der eine, der über eine fast moralische Ernsthaftigkeit an die Dinge herangeht, und der andere, der einfach nur meint „Hey, was ist los?“ und „Ich bin dabei, wenn was losgeht!“. Da sieht man, wie verschieden solche Dinge laufen können. Gerade in der Räterepublik war das Spannende, welche Rolle unterschiedliche Lebensmodelle in der Gesellschaft spielen können. Jeden Abend stand da jemand in einem großen Bierkeller und hat ein anderes Lebensmodell behauptet, und jedes war irgendwie eine Richtung, die man hätte wirklich einschlagen können – was ja heute sozusagen undenkbar ist. Heute greift man so im Kleinen herum und kann das trotzdem kaum fassen, man kann kaum Hebel ansetzen. Und man muss ja auch zugeben, wie das mit Psychologie zusammenhängt: mit einem Werdegang, mit einer Herkunft, mit einer Prägung und so weiter, und eben mit dem Sozialisieren von Werdegängen. Oder auch wirklich oft mit etwas sehr Subjektivem, also mit welcher Stärke gehe ich da ran, was kann ich da leisten und welche Ängste drücken sich da aus. Das darf man einfach nie ausblenden, glaube ich.

TG: Das Interessanteste an Toller ist, dass er es irgendwie gewusst hat… Seine Einschätzung war ja richtig, dass man das nicht wuppen6 konnte, diese Räterepublik. Aber es war eben so, dass die Arbeiter in München und Augsburg gerade gesagt haben „Wir machen jetzt aber Revolution!“. Und Toller hat dann gesagt „Ja, okay. Das ist das erste Mal, dass die Arbeiter aufstehen – dann machen wir das. Auch wenn wir eine Niederlage einstecken, wir müssen den historischen Moment nutzen“. Das hat mich immer total fasziniert.

Vielen Dank für das Interview!

Anmerkungen
1 Übriggebliebene Ausgereifte Haltungen, Dokumentarfilm von Peter Ott, erschienen auf der Doppel-DVD Die Goldenen Zitronen Material (Buback/Indigo 2008).
2 Robert Kurz ist Journalist, Autor des Schwarzbuch Kapitalismus und Mitbegründer von Exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft.
3Im Rahmen der Wiener Festwochen 2009 realisierte Schorsch Kamerun Bei aller Vorsicht!, einen als Performance inszenierten „Sicherheitsrundgang“ durch den zweiten Wiener Gemeindebezirk.
4 Oskar Maria Graf: Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis, München 1981.
5 Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland, Reinbek 1978.
6 Wuppen: etwas Schweres im Handumdrehen erledigen.





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