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„Geht selbst ans Werk, beginnt von unten.“
von Stefan Probst

In Teil eins der Serie zum politischen Erbe der russischen Revolution diskutiert Stefan Probst die sozialen Dynamiken und politisch-strategischen Optionen zwischen Februar und Oktober 1917.

Die jeweils vorherrschende Interpretation der Russischen Revolution ist seit dem frühen 20. Jahrhundert immer von gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnissen abhängig gewesen. „Oktober 1917“ war und ist umkämpftes Terrain, Arena politischer Auseinandersetzung. Selten spiegeln die Konjunkturen der Historiographie so deutlich Veränderungen des gesamtgesellschaftlichen politischen Klimas wie im Fall der Oktoberrevolution. Etwas schematisch können dreieinhalb Phasen interpretativer Paradigmen unterschieden werden.1

Konjunkturen der Historiographie

Bis in die 1960er Jahre dominierten im Westen wie im Ostblock spiegelbildliche Versionen der „Kontinuitätsthese“, die eine bruchlose Linie von 1917 zum Stalinismus zogen. Die Oktoberrevolution erscheint hier als coup d’etat einer konspirativen Minderheit ohne organische Unterstützung in breiteren Gesellschaftsschichten, als Ergebnis manipulativer Propagandakniffe der Bolschewiki in der Cold-War-Historiographie im Westen bzw. dem Heroismus Lenins in der sowjetischen Geschichtsschreibung im Osten.

Diese Ansichten sind in den 1970ern grundlegend herausgefordert worden, als eine jüngere Generation linker HistorikerInnen im Windschatten der neuen sozialen Bewegungen eine sozialgeschichtliche Neubewertung der Revolution einforderte. Während bislang die ArbeiterInnen höchstens als amorphe „Massen“, meist „dunkel“ und „bedrohlich“, jedenfalls passiv in der Geschichte der Revolution thematisiert wurden, kritisierten die SozialhistorikerInnen eben diese Cold-War-Interpretation als Geschichte „nicht nur von oben, sondern die Perspektive von unten komplett ausblendend.“2 „Im Endeffekt wurde die ArbeiterInnenbewegung als undifferenzierte, unförmige Schafherde betrachtet, die unfähig sei, unabhängig von führenden Intellektuellen zu handeln.“3 Dem setzte die „revisionistische“ Historiographie eine minutiöse Analyse der sozialen Dynamiken des Jahres 1917 entgegen, die besonders die spontanen Kämpfe in den Fabriken fokussierte und die Revolution als Massenaufstand entschlüsselte.

Im Klima des politischen backlash nach 1989 feierten jedoch die traditionellen Figuren der Cold-War-Historiographie erneut fröhliche Urständ. Alte Argumente wurden, sprachlich neu verpackt, wieder aufgelegt.4 Im Pathos des liberal-kapitalistischen Triumphalismus mutierte die Oktoberrevolution zum gewaltsamen jakobinischen Staatsstreich, eine tragische Verirrung der Geschichte, die nun endgültig erledigt sei. Der Fokus auf Eliten und die Konstruktion einer unvermittelten Determination der Ereignisse durch politische Ideologien ließ wenig Raum für die aktive Rolle, die ArbeiterInnen, BäuerInnen und SoldatInnen 1917 gespielt hatten. Zugleich trat ein Großteil der SozialhistorikerInnen den organisierten Rückzug an und versuchte, sich in den Nischen entpolitisierter Kulturgeschichtsschreibung einzurichten.5

Erst seit Mitte der 1990er, wieder im Zusammenhang mit einem Aufleben sozialer Auseinandersetzungen, wird die Oktoberrevolution erneut als historisches Ereignis rezipiert, das, wenn schon nicht Antworten gibt, dann zumindest wichtige Fragen aufwirft, die auch für die neuen sozialen Bewegungen relevant sind. In diesem Kontext soll die Geschichte der Revolution im Sinn einer „strategischen Geschichte“ (Daniel Bensaïd) erzählt werden, die die Dynamiken, Kontingenzen, Konflikte, politischen Lernprozesse, Brüche, Entscheidungen betont.6

Ungleiche und kombinierte Entwicklung

Die Revolution 1917 repräsentiert zwar einen tiefen Einschnitt in der russischen Geschichte, war aber kein mystisches Ereignis „aus dem Nichts“ (Alain Badiou). Seit den 1860er Jahren hatten rapide Industrialisierung, Binnenmigration und rasantes Bevölkerungswachstum die Klassenstruktur des zaristischen Russland grundlegend transformiert und die Fundamente des autokratischen Staates zusehends erodiert. Aufgrund staatlicher Modernisierungsprogramme war die lohnabhängige Bevölkerung zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Beginn des ersten Weltkriegs um das Sechsfache angewachsen7 und in den Großbetrieben der wenigen Industrieregionen um die urbanen Zentren konzentriert worden: Mehr als die Hälfte der ArbeiterInnen war 1910 in Betrieben mit mehr als 500 Angestellten beschäftigt, ein Anteil, der selbst im globalen Vergleich überrascht8 und der ArbeiterInnenklasse eine ökonomische und politische Bedeutung verlieh, die in keinem Verhältnis zu ihrer quantitativen Stärke stand.

Zugleich äußerte sich die rasche Industrialisierung nicht nur als regional ungleichmäßiger Konzentrationsprozess, sondern erzeugte auch innerhalb der ArbeiterInnenklasse ein beträchtliches Maß an Unebenheiten und Friktionen. Der Proletarisierungsprozess betraf insbesondere die frisch in die Städte migrierten bäuerlichen Arbeitskräfte, für die das Leben bislang wesentlich durch die Jahreszeiten geprägt gewesen war und – „vom Holzpflug losgerissen und unmittelbar an den Fabrikkessel geworfen“9 – die Disziplin der Stechuhr eine neue Erfahrung darstellte. Gleichzeitig transformierte die Fabrik auch die Arbeits- und Lebenswelt derer, die zwar schon länger in Kleinbetrieben in den urbanen Zentren gearbeitet hatten, sich nun aber mit den unpersönlichen, bürokratischen Verhältnissen des Fabriksmanagements konfrontiert sahen. Demgegenüber stand ein kleiner gut ausgebildeter, besser organisierter und politisch erfahrener Kern meist männlicher ArbeiterInnen, vor allem in der Metallindustrie. „Je urbanisierter, alphabetisierter und besser ausgebildet die ArbeiterInnen, desto größer war die Kluft zwischen ihnen und den neu angekommenen BäuerInnen.“10

Die sozialen Umwälzungen im Zuge der forcierten Entwicklung moderner Industrie inmitten einer überwiegend agrarischen Gesellschaft – was Trotzki als Prozess der „ungleichen und kombinierten Entwicklung“ des Kapitalismus beschrieben hat11 – erzeugten Spannungen, die sich in großen sozialen Konflikten entluden. Die Textilregion um Moskau, die Metallindustrie in Petrograd und Riga, Metall- und Lebensmittelindustrie in der Ukraine, die Kohleindustrie im Donez-Becken, die Petroleumindustrie in Baku und der industrielle Bergbau im Ural waren Zentren sozialer Kämpfe und Unruhen. Aber auch außerhalb der Großstädte wurden jene ruralen Gebiete zu Schauplätzen heftiger Auseinandersetzungen, in denen das staatliche Modernisierungprogramm die Ansiedlung von Industriebetrieben gefördert hatte – immerhin lebten 1902 nur 41 Prozent der 1,9 Millionen russischen FabriksarbeiterInnen in Städten.

Der Hybridität der wirtschaftlichen Struktur Russlands entsprach jene des politischen Systems. Zwar war die Autorität der zaristischen Monarchie durch die Entwicklung einer einheimischen Bourgeoisie untergraben worden, zugleich übersetzte sich aber die Abhängigkeit der russischen Kapitalisten von staatlicher Protektion und ihre Angst vor der kämpferischen, hochkonzentrierten ArbeiterInnenklasse in ein fragiles Bündnis mit dem Zarismus.12 Die Ungleichzeitigkeiten der ökonomischen Entwicklung dämpften die politischen Antagonismen zwischen Autokratie und Bourgeoisie, ein Prozess, der auch an den zunehmend konservativeren Positionen des russischen Liberalismus deutlich wird. Besonders seit 1905, als die Kämpfe in der weltweit ersten von Massenstreiks getragenen Revolution kulminierten, war klar, dass politische Demokratisierung weitergehendere Fragen sozialer Reformen eröffnen würden.13 Insofern stellten die Klassenkämpfe der Jahre 1905-1907 und 1912-1914 eine Art Generalprobe für jene Ereignisse dar, die im Frühjahr 1917, nach zweieinhalb Jahren Weltkrieg, den Beginn der Revolution markierten.

Februarrevolution

Als am 23. Februar14, dem Internationalen Frauentag, tausende streikende Textilarbeiterinnen in Petrograd gegen den bereits zweieinhalb Jahre dauernden Krieg, die Lebensmittelknappheit in der Hauptstadt und die zaristische Autokratie demonstrierten, wusste noch niemand, dass damit eine revolutionäre Dynamik in Gang gesetzt würde, die die russische Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttern sollte. Im Gegenteil befürchteten die sozialistischen Organisationen, dass der Streik verfrüht sei und dem Regime einen Vorwand für noch schärfere Repression liefern könnte.

Dennoch weitete sich die Bewegung in den folgenden Tagen aus. Ein Arbeiter bei Nobel im Bezirk Vyborg erinnert sich:

„Wir konnten die Stimmen der Frauen auf den Straßen vor unserem Arbeitsplatz hören. ‘Nieder mit den hohen Preisen!’ ‘Nieder mit dem Hunger!’ ‘Brot für die ArbeiterInnen!’ Ich elite mit einigen GenossInnen ans Fenster. … Die Tore der Bol’shaia Sampsonievskaia Fabrik standen weit offen. Massen von militanten Arbeiterinnen bevölkerten die Straße. Die, die uns sahen, winkten und riefen: ‘Kommt heraus!’ ‘Legt die Arbeit nieder!’ Schneebälle flogen durch die Fenster. Wir beschlossen, uns der Demonstration anzuschließen.”15

Zwei Tage später streikten bereits 305.000 der 400.000 Petrograder FabriksarbeiterInnen. Als am 27. Februar SoldatInnen der Petrograder Garnison befohlen wurde, auf die DemonstrantInnen zu schießen verweigerten ganze Regimenter den Befehl und liefen zu den Aufständischen über.16

Aus den Reihen des vormals machtlosen Parlaments, der Duma, die kurz zuvor noch ihre eigene Auflösung durch den Zar widerstandslos akzeptiert hatte, formierte sich in der Nacht auf den 2. März eine Provisorische Regierung, die zunächst von Kadetten, ursprünglich radikale Liberale, die sich aber immer stärker einem konservativen Nationalismus annäherten, und von Oktobristen, konstitutionellen Monarchisten, geprägt war. Als sich die Nachrichten der Petrograder Ereignisse in anderen Städten Russlands verbreiteten und auch dort die Polizei entwaffnet und neue temporäre Regierungsorgane gebildet wurden, dankte der Zar am 3. März ab. „1905 hat die Autokratie der revolutionären Bewegung 12 Monate lang standgehalten; im Februar 1917, ohne Unterstützung der Armee, überlebte sie weniger als 12 Tage.“17

Die Februarrevolution war eine spontane Aktion tausender hungriger, wütender, kriegsmüder ArbeiterInnen und SoldatInnen gewesen, Ausdruck der weitverbreiteten politischen Unzufriedenheit mit dem zaristischen Regime, zugleich Produkt eines tiefverwurzelten sozialen Antagonismus zwischen Teilen der ArbeiterInnenklasse und den besitzenden Klassen.

Praktisch über Nacht war der Ort der Politik von den Parlamenten und Palästen in die Straßen und Wohnungen, die Betrieben und Kasernen gerückt. Der amerikanische Journalist John Reed beschreibt die Situation: „Monatelang war jede Straßenecke in Petrograd, und in ganz Russland, eine öffentliche Tribüne. In den Zügen, Straßenbahnen, überall spontane Diskussion.”18

Der gesamtgesellschaftliche Linksruck wurde auch symbolisch deutlich. Die Schiffe der zaristischen Flotte wurden umbenannt und erhielten Namen wie „Demokratie“, „Bürger“ und „Republik“. Menschen, die „Romanov“ oder „Rasputin“19 hießen, stellten Anträge auf Namensänderung, weil diese „monarchistisch“ und „widerlich“ seien.20 Sogar die reaktionäre Presse sah sich genötigt, Zugeständnisse an die Stimmung zu machen: die Wirtschaftszeitungen hüllten sich ins Banner eines „realistischen Sozialismus“ und selbst die Boulevardblätter erfanden sich als „parteilos-sozialistisch“ neu. Selbst auf den Banken, den Monumenten der Stabilität des Systems, wehten rote Fahnen.21

Demokratisierung

Die russische Bourgeoisie und der politische Liberalismus, die nun die Regierung bildeten, hatten im Sturz des Zarismus eigentlich keine Rolle gespielt. Zwar war die Forderung eines liberal-konstitutionellen Regimes in der Vergangenheit immer wieder diskutiert worden, einig war man sich jedoch darin, dass eine soziale Revolution um jeden Preis verhindert werden müsse. Legitim sei der Sturz des Zaren nur als Akt nationaler Selbstverteidigung, insofern damit die Voraussetzungen geschaffen würden, den Krieg zu gewinnen. Es gehört deshalb zur Ironie der Februarrevolution, dass die Massenbewegung für kurze Zeit die politische Glaubwürdigkeit gerade jener Kräfte wiederherstellte, die selbst panische Angst vor genau diesen „Massen“ hatten.

Die Widersprüche wurden jedoch zunächst in der politischen Sprache der Februarrevolution verdeckt. „Demokratie“ war das zentrale Schlagwort der Zeit: „Demokratisierung wurde als universelle Lösung für jedes Problem gesehen. Nach Februar demokratisierten die Menschen die Theater, die Kirchen, die Schulen“ und selbst die Armee.22 “Bürger”, “Freiheit”, narod

(das Volk) waren Begriffe, die im gesamten politischen Spektrum mobilisiert wurden, von den Bolschewiki bis zum Fürsten Lvov, Premierminister der ersten Provisorischen Regierung. Was „Demokratie“ jeweils bedeutete – und bedeuten sollte – wurde von den politischen Akteuren indes sehr unterschiedlich definiert.

Die zentralen Organe der Demokratisierung im politischen Bewusstsein der ArbeiterInnenbewegung waren die Fabrikskomitees23, die vor allem in den größeren Betrieben aus den ad hoc

-Streikstrukturen der Februarrevolution hervorgegangen waren. Sie sollten die alte „autokratische“ Verfassung des Arbeitsregimes zerschlagen und die Anliegen und Interessen der Beschäftigten gegenüber dem Management verteidigen und durchsetzen.24 Jede eigene Abteilung wählte solche Komitees, die wiederum einen Ausschuss für die gesamte Fabrik delegierten. Daneben organisierten bewaffnete Betriebsgruppen (ArbeiterInnenmilizen, „Rote Garden“) die Verteidigung der Fabriken und der proletarischen Bezirke.

In der Armee gründeten SoldatInnen ähnliche Komitees, die Entscheidungen unabhängig, und gegen, die Heeresleitung fällten. Deutsche Offiziere etwa berichteten, dass russische SoldatInnen mitten in einem Angriff vor jedem einzelnen Manöver abstimmten. So unglaublich das klingt, aber die unzähligen Anekdoten über „demokratisierte Schlachten“ sind symptomatisch.25

Die wichtigsten Formen proletarischer Selbstorganisierung waren jedoch die nach dem Vorbild der Revolution von 1905 gebildeten Sowjets (Räte), jene politischen Institutionen einer „revolutionären Demokratie“, die gewählte, direkt verantwortliche und jederzeit abwählbare Delegierte aus den Betrieben, Bezirken und Komitees, der ArbeiterInnen, SoldatInnen und BäuerInnen, manchmal auch ethnischer und religiöser Minderheiten, zusammenfassten.26 Die Herausbildung eines Netzwerks von Sowjetstrukturen zeigt, dass die Bewegung nicht nur den alten Staat zerschlagen hat. „Ungeordnet und chaotisch ist von unten etwas Neues entstanden, das die alten politischen Strukturen ersetzen konnte.“27 Im Kern war der Sowjet die Organisationsform proletarischer Macht, Einheit von ökonomischer und politischer Demokratie.

Doppelherrschaft

Die Februarrevolution hatte also zu einer Situation der „Doppelherrschaft“ geführt. Der Provisorischen Regierung, deren politische Legitimität von Beginn an zweifelhaft war, da ihre Mitglieder niemals gewählt worden waren, standen die Sowjets als politische Organe der ArbeiterInnenbewegung gegenüber.

Tatsächlich waren die Sowjets im Februar die einzige Institution, die wirklich handlungsfähig war: sie organisierten die Lebensmittelversorgung, kontrollierten Transport und Kommunikation usw. Alexander Guchkov, der erste Kriegsminister der Provisorischen Regierung, erklärte später ganz offen: „Man kann unverblümt sagen, dass die Provisorische Regierung nur so lange existiert, wie der Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten es erlaubt.“28

Dennoch war das Nebeneinander von Provisorischer Regierung und Sowjets Ausdruck der politischen Kräfteverhältnisse im Frühjahr. ArbeiterInnen und SoldatInnen hatten zwar das zaristische Regime gestürzt, abgesehen von den militantesten ArbeiterInnen, jenen der Metallindustrie im Petrograder Bezirk Vyborg, befürwortete jedoch kaum jemand die Machtergreifung der Sowjets. Die Mehrheit plädierte im Februar für die bedingte Unterstützung der Provisorischen Regierung. In einer Resolution der Vollversammlung der ArbeiterInnen der Dinamo Werke heißt es etwa:

„Die ArbeiterInnen und SoldatInnen sind nicht auf die Straße gegangen, um eine Regierung durch eine andere zu ersetzen, sondern, um unsere Forderungen durchzusetzen. Diese Forderungen sind: ‚Freiheit’, ‚Gleichheit’, ‚Land’ und ‚Ein Ende des blutigen Kriegs’.”29

Eine Resolution der ArbeiterInnen der Izhora Werke verdeutlicht die allgemeine Stimmung:

„Alle Maßnahmen der Provisorischen Regierung, die die Überreste der Autokratie zerstören und die Freiheit des Volkes stärken, müssen von unserer Demokratie vollständig unterstützt werden. Allen Maßnahmen, die auf eine Versöhnung mit dem alten Regime abzielen und gegen das Volk gerichtet sind, muss mit entschiedenem Protest und Gegenmaßnahmen begegnet werden.”30

In den Betrieben selbst stellte das Konzept der „ArbeiterInnenkontrolle“ (kontrol) das strategische Pendant zu dieser Politik gegenüber der Regierung dar. „Kontrolle“ bedeutete hier nicht die direkte Organisation der Produktion durch die Fabrikskomitees sondern beschränkte sich zunächst auf die Überwachung des Managements durch VertreterInnen der Beschäftigten – ganz im Sinn einer „konstitutionellen Fabrik“, kontrol

als „Doppelherrschaft im Betrieb“

Dem entsprach, dass im Frühjahr mehrheitlich Mitglieder der moderaten sozialistischen Parteien, der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre, in die Sowjets gewählt wurden. Ihr Standpunkt war, dass der Kapitalismus in Russland noch eine historische Funktion zu erfüllen habe. Das bedeutete praktisch, auf alles zu verzichten, was die liberale Bourgeoisie (wie 1905) verschrecken könnte. Die Revolution könne nur erfolgreich sein, „so lange sie innerhalb der Grenzen bleibt, die von den objektiven Notwendigkeiten vorgegeben sind (dem Stand der Produktivkräfte, dem dazu passenden Bewusstseinsniveau der Volksmassen usw.). Man könnte der Reaktion keinen besseren Dienst erweisen, als diese Grenzen zu missachten und sie umgehen zu wollen“, schrieb die menschewistische Zeitung Rabochaia gazeta

.31 Die Rolle der Sowjets sollte sich deshalb auf die „Kontrolle“ der Regierung beschränken.

Auch die radikalste Organisation der sozialistischen Linken, die Bolschewiki, war in der Frage der Position gegenüber der Provisorischen Regierung gespalten. Erst auf der Parteikonferenz im April wurde, nach intensiven Debatten, ein Thesenpapier Lenins („Aprilthesen“) mit knapper Mehrheit angenommen, das die Eckpunkte der strategischen Orientierung für die kommenden Monate umriss: keine Unterstützung für die Provisorische Regierung, Ende des imperialistischen Kriegs, alle Macht den Räten. Die Programmatik dieser Slogans war indes nicht allein Produkt der theoretischen Analyse der politischen Situation, sondern mindestens ebensosehr einem offenen Ohr für die Forderungen der ArbeiterInnenbewegung geschuldet: „sie entsprachen den tiefsten Hoffnungen der radikalsten Teile des Petrograder Proletariats – der gelernten Metallarbeiter der Bezirke Vyborg und in geringerem Ausmaß auch der Insel Vasilevskii.“ So heißt es z.B. in einer Resolution der Vollversammlung der ArbeiterInnen der Puzyrev und Ekval Fabriken im April:

“Die Regierung kann und will die Anliegen des gesamten arbeitenden Volkes nicht vertreten, deshalb fordern wir ihre sofortige Auflösung und die Gefangennahme ihrer Mitglieder, um ihrem Angriff auf die Freiheit zu entgegnen. Wir sind der Meinung, dass die Macht allein dem Volk gehören darf, d.h. dem Sowjet der ArbeiterInnen und SoldatInnendeputierten als einziger Institution, die das Vertrauen der Menschen genießt.”32

Im April waren solche Auffassungen freilich noch eine Minderheitenposition. Aufgabe der fortschrittlichsten Kräfte der Bewegung sei demnach, geduldig und systematisch zu erklären und zu überzeugen. Lenin:

„Ich schreibe, lese vor, erkläre des langen und breiten: ‚Die Sowjets der Arbeiterdeputierten sind die einzig mögliche

Form der revolutionären Regierung, und daher kann unsere Aufgabe nur in geduldiger, systematischer, beharrlicher, besonders den praktischen Bedürfnissen der Massen angepaßter Aufklärung

über die Fehler ihrer Taktik bestehen…’“33

Aprilkrise

In den wenigen Monaten ihrer Arbeit zeigte sich, dass die Provisorische Regierung ihre Autorität, die sie im Februar und März genoss, nicht zu stabilisieren vermochte. Sie versprach, den Krieg zu beenden, brach aber nicht mit den Alliierten. Sie versprach den Bauern Land, war aber entscheidungsunfähig. Sie versprach die Einberufung einer Konstituierenden Versammlung, fixierte aber nie einen Termin, aus Angst, deren Zusammensetzung könnte zu radikal ausfallen. „Sie konnte bei den ArbeiterInnen genausowenig Vertrauen aufbauen, wie sie ihnen Lebensmittel und Respekt verschaffen oder die Betriebe demokratisieren konnte. … Folge war, dass die aufkommende Parole ‚Brot, Frieden, Land’ stellvertretend für all das stand, was die Provisorische Regierung nicht liefern konnte.“34

Die erste Provisorische Regierung hielt sich dann auch nicht länger als bis April. Unmittelbarer Auslöser ihres Sturzes war ein geheimes Memorandum von Außenminister Miliukov an Russlands Kriegsverbündete, das diesen versicherte, die neue Regierung würde die Kriegsziele des Zarismus vollinhaltlich übernehmen. Als dieses am 20. April öffentlich wurde, erzwangen Massenproteste den Rücktritt von Miliukov und Guchkov. An der Front abgehaltene SoldatInnenkongresse sprachen sich für einen „demokratischen Frieden ohne Annexionen“ aus und forderten die stärkere Kontrolle der Regierung durch die Sowjets. Die Zusammensetzung eines neuen Kabinetts reflektierte diese Verschiebung der Kräfteverhältnisse: die Regierung inkludierte nun neben zehn „kapitalistischen Ministern“ sechs aus den Reihen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre.

Klasse: Making of

Zugleich markierte die Aprilkrise den Einbruch der ökonomischen Situation. Akute Produktionsengpässe, die prekäre Situation der Lebensmittelversorgung und dramatisch fallende Reallöhne wurden noch verschärft durch die Lähmung des Transportsystems. Hinzu kam die erneute Kriegsoffensive der Koalitionsregierung ab Juni.

Im März und Arpil schien es für die Unternehmer noch möglich, „geordnete“ Verhältnisse in den Betrieben durch Anerkennung von Gewerkschaften und materielle Zugeständnisse wieder herstellen zu können. Tatsächlich konnten Fabrikskomitees und Sowjets in den ersten drei Monaten der Revolution Lohnerhöhungen um durchschnittlich fünfzig Prozent, einen Mindestlohn sowie die Einführung des Acht-Stunden-Tags durchsetzen. All das waren Forderungen, die in der Vorkriegszeit bitter umkämpft gewesen waren, nun aber wurden sie „mit erstaunlicher Leichtigkeit erreicht, und die versöhnliche Haltung der Industriellen … schien weitere Zugeständnisse zu ermöglichen.“35

Spätestens seit Mai unterlief nun die wirtschaftliche Krise zunehmend die Kompromissstrategie der Unternehmer und die Bourgeoisie schwenkte auf Konfrontationskurs. Der erwartete disziplinierende Effekt von Fabriksschließungen und steigender Arbeitslosigkeit blieb dennoch aus.

Vielmehr waren ArbeiterInnen mehr und mehr davon überzeugt, dass die Unternehmer die Krise bewusst verschärften, um das Proletariat „zur Vernunft“ zu bringen. „Zum Beispiel, wenn das Management die Schließung einer Fabrik ankündigte, weil es nicht genügend Treibstoff gab, zog eine ArbeiterInnendelegation los und fand in den Lagerhäuser noch ausreichende Reserven.”36 Es waren solche spezifischen Erfahrungen, die tausenden alltäglichen Kämpfe, die den Prozess der Politisierung beförderten. „Diese Muster der Mobilisierung … trugen zur Formierung einer geschlossenen ArbeiterInnenklasse in Russland bei, die sich ihrer kollektiven Position in der gesellschaftlichen Ordnung bewusst war. Jeder Streik, ob selbst erlebt, oder durch die Presse erfahren, trug zu diesem Gefühl des Zusammenhalts bei.”37

„Im Sommer wurde der Diskurs der Demokratie, der durch die Februarrevolution angestoßen wurde, durch einen Diskurs der Klasse ersetzt, eine Verschiebung, die durch die vermehrte Verwendung des Wortes ‚Genosse’ statt ‚Bürger’ als beliebter Anrede symbolisiert wurde.“38 Durch unzählige Flugblätter, Zeitungen, Ansprachen, Streiks, Demonstrationen, lokale ParteikaderInnen verbreitet wurde „Klasse“ zum wichtigsten organisierenden Prinzip der Selbst- und Weltwahrnehmung der ArbeiterInnen und überformte zunehmend regionale, ethnische, genderspezifische, auf Berufsgruppe oder Fabrik bezogene Identitäten.

Ungleichzeitigkeiten der Radikalisierung

Die wirtschaftliche Situation erforderte auch eine Redefinition von kontrol

. Je prekärer die Lage, je deutlicher die Sabotagestrategie der Unternehmer erfahren wurde, desto stärker übersetzte sich das Misstrauen der ArbeiterInnen gegenüber dem Fabriksmanagement in Kämpfe um die Ausweitung proletarischer Kontrolle in den Betrieben. Während bislang die allermeisten Streiks Lohnkämpfe gewesen waren häuften sich nun Streiks um ArbeiterInnenkontrolle. Diese Verschiebung ist von entscheidender Bedeutung: Streiks um Lohn u.ä. können als Teil eines normalen Verhandlungsprozesses zwischen Kapital und Arbeit verstanden werden; Konflikte über die Kontrolle der Bedingungen des Produktionsprozesses berühren grundlegendere Fragen der Macht. Die Abnahme von Streiks im Herbst kann demnach als Ausdruck davon gelesen werden, dass signifikante Teile der ArbeiterInnenklasse verstanden hatten, dass dieser Kampf nicht in den einzelnen Betrieben gewonnen werden konnte, sondern allein in der politischen Arena.39 Die Machtübernahme der Sowjets erschien als notwendige Voraussetzung, um dauerhaft Formen proletarischer Selbstverwaltung in den Betrieben sichern zu können.

In diesem Sinn ist es bezeichnend, dass gerade jene Betriebe, die am frühesten für die Machtübernehme der Sowjets stimmten, auch jene waren, in denen die Ausweitung der Formen der ArbeiterInnenkontrolle am konsequentesten vorangetrieben wurde. Die ungleichmäßige Entwicklung des Proletariats findet hier ihren Ausdruck in den Ungleichzeitigkeiten der politischen Radikalisierung. Die ersten, die sich für eine Machtübernahme der Sowjets aussprachen waren meist die ArbeiterInnen der Metallindustrie, etwa im Petrograder Bezirk Vyborg, der schon seit langem eine bolschewistische Bastion gewesen war. Allgemein waren jene Abteilungen die politisch radikalsten, in denen gut ausgebildete, stark organisierte und bereits vor 1917 politisch aktive ArbeiterInnen beschäftigt waren, während jene Abteilungen mit überwiegend frisch zugezogenen bäuerlichen ArbeiterInnen radikaler in ökonomischen Forderungen auftraten40, in politischen Fragen jedoch meist moderater waren.41 Selbiges gilt auch für die ungelernten Arbeiterinnen der Textilindustrie, die etwa in der Moskauer Region dominierten.

Die Ungleichzeitigkeiten der politischen Entwicklung können auch an der Zusammensetzung der Sowjets abgelesen werden. Während sich etwa die erste Konferenz der Petrograder Fabrikskomitees Ende Mai und der Petrograder Sowjet bereits im Juni für die proletarische Machtübernahme aussprachen, stellten beim ersten Gesamtrussischen Kongress der Sowjets im selben Monat die moderaten sozialistischen Parteien, die an der Koalitionsregierung festhielten, 71,5 Prozent der Delegierten, die Bolschewiki nur 13 Prozent. Die ArbeiterInnenversammlung der Petrograder Maschinenfabrik Optico hatte bereits Ende April eine Resolution verabschiedet, die festhielt:

“Die Provisorische Regierung vertritt nicht die Bevölkerung Russlands. Als Repräsentanten eines Haufens Kapitalisten und Grundbesitzer …, die die durch das Volk gewonnene Macht an sich gerissen haben, haben Miliukov und Co. sich selbst entlarvt. Wir erklären, dass wir kein Blut für Miliukov und Co. vergießen wollen. … Deshalb halten wir fest, dass Miliukov, Gutchkov und Co. nicht ihrem Auftrag entsprechen und erkennen die Sowjets als einzige Macht im Land an, die wir mit unseren Leben verteidigen werden.”

Zugleich beschloss eine Versammlung der Leont’ev Textilfabrik:

“Wir unterstützen vollinhaltlich die Taktik der Sowjets, die die Einheit der Revolution bewahren möchte und sich jedem Versuch, die revolutionären Kräfte zu spalten, widersetzt. Die Versammlung lehnt die anarchistischen Aufrufe Lenins, die Staatsmacht zu übernehmen, die nur zum Bürgerkrieg führen können, ab.”42

Paradox der Julitage

Die Explosivität der sozialen und politischen Polarisierung in Petrograd entlud sich erstmals in den Sommermonaten. Nachdem bereits am 18. Juni mehrere hunderttausend DemonstrantInnen den Rücktritt der „zehn kapitalistischen Minister“ aus der Provisorischen Regierung gefordert hatten, probten Anfang Juli ArbeiterInnen und SoldatInnen den bewaffneten Aufstand, der die Machtübernahme der Sowjets erzwingen sollte. Alexander Rabinowitch schildert jene vielzitierte Szene der Julitage, als Matrosen Landwirtschaftsminister Chernov (Sozialrevolutionär) umzingelten und aufforderten: „Nimm die Macht, du Hundesohn, wenn man sie dir gibt!“43 Dieser freilich dachte nicht im Entferntesten daran.

Die politische Ambivalenz, die hier zum Ausdruck kommt, wird besonders deutlich in einer Rede von vier ArbeiterInnen, die als Delegierte von 54 Fabriken beim Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitee der Sowjets vorsprachen:

„Es ist eigenartig, im Aufruf des Zentralen Exekutivkomitees zu lessen: ArbeiterInnen und SoldatInnen werden KonterrevlutionärInnen genannt. Unsere Forderung – die allgemeine Forderung der ArbeiterInnen – ist ‚Alle Macht den Sowjets der ArbeiterInnen- und SoldatInnendeputierten’. … Wir fordern den Rücktritt der zehn kapitalistischen Minister. Wir vertrauen dem Sowjet, aber nicht jenen, den der Sowjet vertraut.

Unsere Genossen, die sozialistischen Minister, sind eine Vereinbarung mit den Kapitalisten eingegangen, doch diese Kapitalisten sind unsere Todfeinde. … Das Land muss sofort den Bauern gegeben werden! Die Kontrolle der Produktion muss sofort eingesetzt werden! Wir fordern einen Kampf gegen die Hungersnot, die uns bedroht!”44

Der kursivierte Satz fasst jenen Widerspruch zusammen, den David Mandel das „Paradox der Julitage“ genannt hat: die demonstrierenden ArbeiterInnen glaubten, das Exekutivkomitee könne von der Machtübernahme überzeugt werden, aber die moderaten sozialistischen Parteien, die das Exekutivkomitee dominierten, waren eher bereit, populare Unterstützung zu verlieren, als die Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie in der Provisorischen Regierung aufzugeben.

Polarisierung

Die Julikrise endete nicht mit der Machtübernahme der Sowjets, sondern mit der militärischen Niederschlagung der Bewegung und einem scharfen Rechtsruck der Regierung. Die Instabilität der Doppelherrschaft war jedoch für alle nur allzu deutlich geworden. Die politischen Optionen schienen sich mehr und mehr auf die Alternative proletarischer Umsturz oder rechter Militärputsch einzuengen. Die Kadetten hatten unterdessen längst komplett auf Bürgerkriegsmentalität geschaltet:45 „Lenin oder Kornilov“, formulierte Miliukov.46

Kornilov war jener General, der von der Provisorischen Regierung zum Oberkommandanten der Armee ernannt worden war, und Hoffnung der Bürgerlichen, die „Ordnung“ in Armee und Fabriken wiederherzustellen. Als sein Versuch, Ende August gewaltsam eine Entscheidung herbeizuführen nicht nur an der schlechten Vorbereitung des coups

, sondern auch am bewaffneten Widerstand der ArbeiterInnen und SoldatInnen scheiterte, verlor die Regierung endgültig den letzten Rest politischer Glaubwürdigkeit. Dennoch hatte der Kornilov-Putsch allen vor Augen geführt, welches Szenario drohte, wenn nicht bald gehandelt würde: ein erfolgreicher Militärputsch der Rechten hätte mit Sicherheit auch alle Fortschritte der Februarrevolution zunichte gemacht.

Die Kunst revolutionärer Politik besteht darin, den kritischen Moment zu erkennen, in dem sich Widersprüche verdichten und strategische Möglichkeiten eröffnen. Der Herbst 1917 bezeichnet eine solche Öffnung. “Die Geschichte wird uns nicht vergeben, wenn wir jetzt nicht die Macht ergreifen“, wiederholte Lenin.

Am 31. August verabschiedete der Petrograder Sowjet die von den bolschewistischen Delegierten eingebrachte Resolution „zur Machtfrage“, die Moskauer Sowjets folgten am 5. September, und bis Mitte des Monats hatten achtzig weitere Sowjets in größeren Städten den Aufruf unterstützt.

Revolution

Die Oktoberrevolution selbst verlief dann eigentlich relativ unspektakulär. Am 6. Oktober kündigte die Regierung an, die halbe Petrograder Garnison aus der Hauptstadt abzuziehen. Der Sowjet interpretierte das zurecht als Versuch, eine der radikalsten Kräfte aus der Stadt zu entfernen und gründete am 9. Oktober ein Militärisches Revolutionskomitee (MRK), das diesen Transfer verhindern sollte. Gleichzeitig hatte das am ersten Gesamtrussischen Sowjetkongress gewählte, mehrheitlich aus Menschewiki und Sozialrevolutionären zusammengesetzte Exekutivkomitee den für 20. Oktober angesetzten zweiten Kongress auf 25. Oktober verschoben, „offensichtlich um Kerenskii [dem Regierungschef] Zeit zu geben, einen Präventivschlag gegen die Bolschewiki vorzubereiten.“47 Als die Regierung am 20. Oktober die Truppenverlegung durchzusetzen versuchte, ordnete das MRK an, sich dem Befehl zu widersetzen. Kerenskiis Versuch, in der Nacht vom 23. auf den 24. Oktober die bolschewistische Druckerei zu schließen war schließlich der Zündfunke für den Aufstand. SoldatInnen und Rotgardisten besetzten die strategisch wichtigsten Punkte der Stadt, militärischen Widerstand gab es nur vereinzelt. Der allergrößte Teil der Truppen stand auf der richtigen Seite der Barrikaden.

Die entscheidende Rolle im Aufstand hatten die betrieblichen ArbeiterInnenmilizen gespielt, die bereits im August bei der Verteidigung Petrograds gegen Kornilov wichtig gewesen waren. Auch wenn die Tatsache schlecht ins vorherrschende Bild der Oktoberrevolution passt, die die proletarische Machtübernahme gemeinhin als sorgfältig geplantes Manöver des MRK präsentiert, muss auch für den Umsturz selbst die spontane Dimension stärker als bisher hervorgehoben werden. „die Mobilisierung der Roten Garden und ihr Anteil am verworrenen Kampf um die Kontrolle der Schlüsselstellen der Stadt am 24.-25. Oktober schien größtenteils direkt aus lokaler Initiative zu kommen, von einzelnen Einheiten in den Fabriken oder Bezirken, die auf die neuesten Nachrichten und Ereignisse reagierten. Es gibt kaum Hinweise darauf, dass das Militärische Revolutionskomitee oder der Generalstab der Roten Garden eine signifikante Rolle in der Mobilisierung oder Führung der Aktionen der Roten Garden spielte, obwohl diese eine zentrale, vielleicht entscheidende Rolle im Kampf um Sowjetmacht und den Erfolg dessen, was heute als ‚Oktoberrevolution’ bekannt ist, innehatten.“48 Die „Befreiung der ArbeiterInnenklasse“ war tatsächlich, wie Marx gefordert hatte, das „Werk der ArbeiterInnenklasse selbst“ gewesen.

Die Zukunft lag nun in den Händen der Sowjets der ArbeiterInnen, BäuerInnen und SoldatInnen. Lenin:

„Genossen! Werktätige! Denkt daran, dass ihr selber

jetzt den Staat verwaltet. Niemand wird euch helfen, wenn ihr euch nicht selber vereinigt und nicht alle Angelegenheiten

des Staates in eure

Hände nehmt. Eure

Sowjets sind von nun an die Organe der Staatsgewalt, bevollmächtigte, beschließende Organe.

Schließt euch um eure Sowjets zusammen. Stärkt sie. Ohne auf jemand zu warten, geht selbst ans Werk, beginnt von unten.“49

Soziale und politische Determinanten

Als zentrale Problemstellung einer „strategischen Geschichte“ der Russischen Revolution bleibt die Frage, wie das Verhältnis von sozialer Dynamik und organisierter politischer Intervention zwischen Februar und Oktober 1917 gedacht werden kann.

Die sozialgeschichtliche Interpretation der 1970er und 1980er hatte die Kämpfe der ArbeiterInnen in den Betrieben ins Zentrum gerückt. Die „Logik“ der Kämpfe um materielle Bedürfnisse und praktische Interessen habe, im Kontext der ökonomischen Krise, einen Prozess politischer Organisierung und Radikalisierung befördert, der in der Annäherung der Mehrheit an bolschewistische Positionen kulminierte. Diese Interpretation hat die davor vertretene politik- und ideengeschichtliche Ansicht (die neu verpackt auch von aktuellen diskursgeschichtlichen Ansätzen vertreten wird) vom Thron gestoßen, die behauptete, dass den ArbeiterInnen Organisationsformen und revolutionäre Ideen nur von außen, durch autonom organisierte Parteiintellektuelle, zugeflossen wären.

Das Hauptverdienst der sozialgeschichtlichen Interpretation liegt darin, aufgezeigt zu haben, dass die „ökonomischen“ betrieblichen Kämpfe selbst weitreichendere politische Fragen aufgeworfen haben und politisierend wirkten. Problematisch wird diese Erzählung jedoch, wenn behauptet wird, dass sich die spontane Dynamik der Arbeitskämpfe 1917 automatisch in angemessene politische Antworten übersetzt hätte.50 Indem die sozialgeschichtliche Interpretation das Politische auf eine den betrieblichen Kämpfen inhärente Dynamik reduziert, wird die relative Autonomie organisierter politischer Konkurrenz um angemessene Antworten auf die in den Kämpfen aufgeworfenen Probleme eingeebnet, geraten politische Alternativen

aus dem Blick. Die politisch-ideologische Heterogenität löst sich durch die „Logik der Kämpfe“ selbst in einer Quasi-Teleologie eines „Bolschewismus von unten“ auf. Wenn die Erfahrungen des Klassenkampfs aus sich heraus schon selbstevidente politische Lösungen nahelegten, so verschwindet die Komplexität und Widersprüchlichkeit des politischen Radikalisierungsprozesses hinter der angeblichen Unilinearität kumulativer Entwicklung. Politische Parteien und Programme, die „hohe Politik“, erscheinen hier als Sphäre, die den unmittelbaren materiellen Anliegen der ArbeiterInnenbewegung rein äußerlich gegenübersteht, sodass sich die Annäherung der Mehrheit der ArbeiterInnen an die bolschewistische Forderung der Machtergreifung der Sowjets auf ein zufälliges Produkt einer temporären Interessenskonvergenz reduziert. Der paradoxe Effekt dieser Methode ist, wie John Eric Marot bemerkt, “eine Annäherung an die politikgeschichtliche Tradition, die sie eigentlich überwinden wollten.”51 Während die alte Politikgeschichte das politische Moment der Kämpfe außerhalb der ArbeiterInnenbewegung verortete (die „Intelligenz“), hebt die Sozialgeschichtsschreibung die relative Autonomie des Politischen in den betrieblichen Kämpfen selbst auf, wird die mediatisierende Funktion organisierter politischer Intervention im Klassenkampf ignoriert. Die Zeit des Klassenkampfs erscheint so als lineare Zeit, bereinigt von Brüchen, Kontingenzen, Entscheidungen und Alternativen.

Tatsächlich entwickelten sich die Kämpfe in den Fabriken zunächst relativ unabhängig von Parteien und innerhalb der bestehenden Eigentumsverhältnisse. Die Frage ist, wie der Prozess interpretiert wird, in dem sich die ArbeiterInnenbewegung über diese begrenzten Perspektiven hinausbewegte.

ArbeiterInnen wurden sich ihrer unmittelbaren Interessen und ihrer Klassenidentität in den unzähligen spontanen Kämpfen in den Betrieben bewusst. Es waren die den Klassenverhältnissen am Arbeitsplatz inhärenten Kämpfe um Lohn, Arbeitszeit, Arbeitsbedingungen, die Klassensolidarität beförderten, nicht parteipolitische Slogans und Programme. Dennoch: „Die Signifikanz weitreichenderer und komplexerer politischer Ideen … kann nicht auf diesem Abstraktionsniveau verstanden werden.“52 Die Tatsache, dass sich die Fabrikskomitees nicht zu Institutionen eines korporatistischen Arbeitsregimes entwickelten, kann nicht allein auf die Zuspitzung der ökonomischen Situation reduziert werden kann. Die unmittelbaren Erfahrungen der Kämpfe waren nicht die alleinige Quelle eines politischen Lernprozesses, denn „Erfahrung“ ist nicht selbst-transparent und selbst-evident – schon Gramsci betonte die spontane Widersprüchlichkeit des Alltagsverstands.53

Die Spezifizierung unterschiedlicher Lösungsstrategien verweist jedoch auf die Arena ideologischer Auseinandersetzung, die von konkurrierenden Parteiprogrammen geprägt war. Wenn Politik, in Lenins Formulierung, als „konzentrierte Ökonomie“ begriffen wird, so bedeutet diese Konzentration eine qualitative Veränderung, in der politische Optionen nicht einfach aus der Ökonomie abgeleitet werden können. Die diskursive Konzeptualisierung der Streikerfahrungen wurde durch den relativ autonomen politischen Wettbewerb von Argumenten über die weitere politische Signifikanz der Streikbewegung strukturiert – und diese Ideenkonkurrenz war maßgeblich organisiert in der politischen Opposition zwischen Bolschewiki und Menschewiki.

Beide Parteien waren sich darin einig, dass die ArbeiterInnen ihre Probleme nicht allein durch betriebliche Kämpfe lösen könnten, was durch das Versagen enger, betrieblicher, „syndikalistischer“ Taktiken deutlich geworden war. Darüber hinaus gab es aber keine strategischen Berührungspunkte, weder in der Erklärung der Ursachen, noch in der Formulierung politischer Ziele.

Die Menschewiki reagierten auf die Probleme der Streikbewegung mit dem Appell, weitere Streikaktionen ein- und „unverantwortliche, unrealistische“ Forderungen zurückzustellen. In wichtigen Bereichen sollten die Fabrikskomitees auf Einflussnahme verzichten, um die Investitionsbereitschaft der Unternehmer wiederherzustellen.54

Die Bolschewiki hingegen argumentierten, dass die Forderungen der ArbeiterInnen sehr wohl berechtigt waren. „Das Versagen des Managements, die Ansprüche der ArbeiterInnen in entscheidenden Punkten zu erfüllen, war für sie Grund genug, dass die ArbeiterInnen selbst ihre Interessen durch eine Machtübernahme der Sowjets als legitime Methode zur Verhinderung des wirtschaftlichen Zusammenbruches, realisieren sollten.“55 Da die meisten ArbeiterInnen die Forderung nach Sowjetmacht zunächst nicht mit ihren (materiellen) Bedürfnissen und Interessen verknüpften konzentrierten sich die bolschewistischen ArbeiterInnen darauf, geduldig und systematisch zu erklären: in den Streiks, Fabriksversammlungen, Fabrikskomitees, Gewerkschaften, Sowjets.

Der politische Diskussionsprozess war den betrieblichen Auseinandersetzungen demnach nicht äußerlich, sondern organisch in den Kämpfen verwurzelt. Dementsprechend war auch die bolschewistische Partei keine Organisation autonomer Intellektueller, die den ArbeiterInnen „von außen“ „Bewusstsein“ einflößten (Lukács), sondern ein Netzwerk „organischer Intellektueller“ (Gramsci), die als organisierte politische Strömung in diese Debatten intervenierten. Der Mythos der bolschewistischen Partei als Organisation der von der Klasse getrennten Intelligentsia

ist längst auch durch quantitative Studien widerlegt.56 William Chase und Arch Getty haben in ihrer prosopographischen Studie der Mitglieder der Moskauer Bolschewiki festgetellt, dass die Partei, auch wenn sie bis 1905 überwiegend von der Intelligentsia

dominiert war, „ihre soziale Zusammensetzung [nach 1905] so radikal veränderte, dass die Bolschewiki 1917 ehrlicherweise behaupten konnten, einen Großteil der arbeitenden Bevölkerung zu repräsentieren.“57 Das rasante Wachstum der Organisation58 bedingte natürlich auch innerhalb der bolschewistischen Partei intensive strategische Debatten. Aber weil die Bolschewiki organisch in der Bewegung verankert waren und eine Tradition scharfer innerer Auseinandersetzung hatten, konnten sie im Herbst klare Positionen formulieren.59

Degeneration

Freilich markiert der Umsturz in Petrograd am 25. Oktober erst den Beginn und nicht das Ende der Revolution. Die Durchsetzung der revolutionären Transformation in anderen russischen Städten zog sich teilweise noch bis ins Frühjahr 1918 und glitt nahtlos in den Bürgerkrieg über, der eigentlich bereits mit dem Kornilov-Putsch im August eröffnet war. Der Prozess der Bürokratisierung im Laufe der 1920er Jahre, der schließlich in der Etablierung einer staatskapitalistischen Diktatur im ersten Fünf-Jahres-Plans kulminierte, kann hier nicht weiter diskutiert werden. Diese Geschichte bleibt einem Aufsatz in einer der nächsten Ausgaben von Perspektiven

vorbehalten.

Anmerkungen

1 Vgl. Edward Acton: The Revolution and its Historians, in: ders. u.a. (Hg.): Critical companion to the Russian Revolution 1914-1921, Bloomington 1997, S. 3-17


2 Ronald Grigor Suny: Revising the old story. The 1917 revolution in light of new sources, in: Daniel H. Kaiser (Hg.): The Workers’ Revolution in Russia, 1917. The View from Below, Cambridge 1987, S. 1-19, hier S. 3


3 Diane P. Koenker: Moscow in 1917. The view from below, in: Kaiser, a.a.O., S. 81-97, hier S. 86


4 Vgl. Richard Pipes, nicht zufällig ehemaliges Mitglied im Nationalen Sicherheitsrat der US-Regierung, oder Martin Malia.


5 Am deutlichsten bei Orlando Figes oder Robert Service. Der Rückzug vieler SozialhistorikerInnen hat auch mit der Inkonsequenz ihrer Ablehnung der Kontinuitätsthese zu tun, da sie die stalinisierte UdSSR immer noch als, wenn auch bürokratisierte, Erbin der Revolution von 1917 begriffen. (vgl. Mike Haynes: Social history and the Russian Revolution, in: John Rees (Hg.): Essays on Historical Materialism, London 1998, S. 57-80)


7 Mike Haynes (Russia. Class and Power 1917-2000, London 2002, S. 22) schätzt die ArbeiterInnenklasse im weitesten Sinn 1914 auf 15-20 Prozent der Bevölkerung.


8 In den USA ca. ein Drittel, in Europa noch weniger. 1914 waren in den Putilov-Werken, dem größten Metallbetrieb Petrograds, 13.000, 1917 sogar 30.000 Menschen beschäftigt. Die starke Konzentration der ArbeiterInnenklasse mag mit den niedrigen Löhnen russischer ArbeiterInnen erklärt werden, die die arbeitsintensive Substitution teurer Maschinen begünstigte, ebenso wie mit der Knappheit von gut ausgebildetem technischen und Verwaltungspersonal.


9 Leo Trotzki: Geschichte der russischen Revolution. Bd. 1. Februarrevolution, Frankfurt am Main 1973, S. 390


10 James H. Bater: St. Petersburg and Moscow on the eve of revolution, in: Kaiser, a.a.O., S. 20-57


11 Trotzkis Konzept geht davon aus, dass die wirtschaftliche Entwicklung in Rußland nicht als autonomer Prozess verstanden werden kann, sondern sich im Kontext der Integration der russischen Wirtschaft in die globale kapitalistische Ökonomie vollzog. Daraus erklären sich die charakteristischen Ungleichzeitigkeiten der ökonomischen Entwicklung, sowohl geographisch, sektoral als auch sozial: unterschiedliche Regionen des Landes, Wirtschaftsbereiche und Klassen(fraktionen) entwickelten sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Zugleich interagierten moderne und traditionale, dynamische und statische Entwicklungsformen und kombinierten sich, in Trotzkis Worten, zu einem „Amalgam archaischer und neuzeitlicher Formen“ (Trotzki, a.a.O, S. 19). Beispiel: der geringe Kapitalisierungsgrad der russischen Landwirtschaft beschränkte die Nachfrage nach landwirtschaftlichen Maschinen und chemischen Düngemitteln. Vorm Hintergrund der Konkurrenz ausländischen Kapitals forcierten die russischen Industriellen in diesen Sektoren eine Politik der Schutzzölle und monopolistischen Praktiken, die Preise hoch hielt und so die Rückständigkeit der Landwirtschaft noch verstärkte.


12 Leopold H. Haimson: “The Problem of Political and Social Stability in Urban Russia on the Eve of War and Revolution” Revisited, in: Slavic Review 59 (2000), S. 848-875


13 Zum russischen Liberalismus vgl. Mike Haynes: Was there a parliamentary alternative in Russia in 1917?, in: International Socialism 76 (1997), S. 3-66; Mike Haynes: Liberals, Jacobins and Grey Masses in 1917, in: ders./Jim Wolfreys (Hg.): History and Revolution. Refuting Revisionism, London, New York 2007, S. 93-117. Zur Revolution 1905 vgl. z.B. die Beiträge in Revolutionary History 9:1 (2005)


14 Nach dem julianischen Kalender, der 13 Tage hinter dem westlichen gregorianischen Kalender lag und bis Anfang 1918 in Russland galt.


15 Zit. n. Steve A. Smith: Petrograd in 1917. The view from below, in: Kaiser, a.a.O., S. 59-79, hier S. 61


16 Haynes: Russia, a.a.O., S. 16


17 Steve A. Smith: The Russian Revolution. A very short introduction, Oxford 2002, S. 6


18 Reed, John: Ten Days that Shook the World, S. 40


19 Romanov war der Name der Zaren-Dynastie, Rasputin ein einflussreicher Prediger, „Wunderheiler“ und Berater am Hof des Zaren.


20 Boris Ivanovich Kolonitskii: “Democracy” in the Political Consciousness of the February Revolution, in: Slavic Review 57 (1998), S. 95-106, hier S. 96. Ein verwundeter russischer Soldat stellte etwa den Antrag, seinen Namen von „Romanov“ in „Demokratov“ zu ändern.


21 Haynes: Alternative, a.a.O.
22 Kolonitskii, a.a.O., S. 95


23 Insgesamt entstanden 1917 in ganz Russland 2.151 Fabrikskomitees, 687 davon in Betrieben mit mehr als 200 ArbeiterInnen. (Haynes: Russia, a.a.O., S. 24)


24 Darüber hinaus organisierten die Fabrikskomitees auch die Lebensmittelversorgung in den Bezirken, Bildungs- und Kulturaktivitäten, Kampagnen gegen Alkoholmissbrauch usw.


25 Kolonitskii, a.a.O., S. 95 Anm. 2


26 Insgesamt gab es im April ca. 700, im Oktober 1.429 Sowjets (455 davon BäuerInnensowjets). (Smith: Russian Revolution, a.a.O., S. 17) Der Petrograder Sowjet alleine umfasste 3.000 Delegierte.


27 Haynes: Russia, a.a.O., S. 25


28 Zit. n. ebd., S. 27. Auf der anderen Seite schrieb Steklov, Redakteur der Zeitung des Petrograder Sowjets und Mitglied in der „Kontaktkommission“, die zwischen Sowjet und Regierung vermittelte: „Denkt daran, dass ihr, wenn wir es wollen, schlagartig nicht mehr existiert, da ihr keine unabhängige Bedeutung und Autorität besitzt.“ (zit. n. Haynes: Alternative, a.a.O., S. 14) Außerhalb Petrograds war die Situation noch deutlicher: die lokalen Regierungsorgane, die „Komitees für öffentliche Sicherheit“, waren von Beginn an von den Sowjets kontrolliert, teilweise sogar von diesen ins Leben gerufen worden. Ronald Suny kommt daher in seiner Studie über die Revolution in Tiflis und Baku zum Schluss: „soviet power existed except in name“. (zit. n. Donald J. Raleigh: Political power in the Russian revolution. A case study of Saratov, in: Edith Rogovin Frankel u.a. (Hg.): Revolution in Russia. Reassessments of 1917, Cambridge 1992, S. 34-53, hier S. 43) In vielen Provinzstädten betrafen die eigentlichen Fragen politischer Macht daher weniger die Machtübernahme der Sowjets als die Debatten zwischen den politischen Kräften innerhalb der Sowjets um deren Funktion und Aufgaben: als Kontrollorgane der bürgerlichen Regierung oder als institutionelle Form proletarischer Macht. (Ebd., S. 40)


29 Zit. n. Smith: Petrograd, S. 62
30 Zit. n. ebd.


31 Zit. n. Haynes: Russia, a.a.O., S. 28. Nach 1989 haben einige Linke diese Argumentation, die im Wesentlichen schon von Kautsky und Plechanow formuliert worden waren, wieder aufgegriffen. (z.B. Eric Hobsbawm) Zur Kritik vgl. schon Trotzki: Ergebnisse und Perspektiven (1906)


32 Zit. n. Smith: Petrograd, a.a.O., S. 66


33 Wladimir I. Lenin: Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution, in: Werke. Bd. 24, Berlin 41974, S. 1-8, hier S. 7


34 Haynes: Russia, a.a.O., S. 29
35 Suny: Revising, a.a.O., S. 7


36 Koenker: Moscow, a.a.O., S. 91


37 Diane P. Koenker/William G. Rosenberg: Strikes and Revolution in Russia, 1917, Princeton 1989, S. 328


38 Smith: Revolution, a.a.O., S. 31
39 Koenker: Moscow, a.a.O., S. 94


40 Das mag auch damit zu tun haben, dass diese ArbeiterInnen von der ersten Runde der Lohnerhöhungen im März und April nicht oder nur wenig profitiert hatten. Als sie nun im Sommer ihre Forderungen aufstellten waren die Fronten bereits verhärteter und der Widerstand der Industriellen schärfer.


41 Steve A. Smith: Craft Consciousness, Class Consciousness: Petrograd 1917, in: History Workshop Journal 11 (1981), S. 33-58


42 Zit. nach Derek Howl: The Russian Revolution, in: International Socialism 62 (1994), S. 129-146


43 Zit. n. Alexander Rabinowitch: Prelude to Revolution. The Petrograd Bolsheviks and the July 1917 Uprising, Bloomington 1991, S. 188


44 Zit. n. Smith: Petrograd, a.a.O., S. 69; m. Hv.


45 William G. Rosenberg: Liberals in the Russian Revolution. The Constitutional Democratic Party, 1917-1921, Princeton 1974, S. 250


46 Zit. n. Haynes: Alternative, a.a.O., S. 30


47 Smith: Russian Revolution, a.a.O., S. 35f


48 Rex A. Wade: The Red Guards. Spontaneity and the October Revolution, in: Frankel, a.a.O., S. 54-75, hier S. 66f


49 Wladimir I. Lenin: An die Bevölkerung, in: Werke. Bd. 26, Berlin 1961, S. 293-295, hier S. 294


50 Zum Folgenden vgl. John Eric Marot: Class Conflict, Political Competition and Social Transformation. Critical Perspectives on the Social History of the Russian Revolution, in: Revolutionary Russia 7 (1994), S. 111-163. Vgl. auch die Repliken von Smith und Rosenberg auf Marots Aufsatz in Revolutionary Russia 8:1 (1995) und 9:1 (1996).
51 Ebd., S. 113
52 Ebd., S. 117


53 Vgl. den Artikel zu Gramsci in Perspektiven Nr. 0.


54 Deutlich formuliert etwa in den Rundbriefen des menschewistischen Arbeitsministers Skobelev.
55 Marot, a.a.O., S. 120


56 Alexander Rabinowitch hat in The Bolsheviks Come to Power, The Revolution of 1917 in Petrograd (London 2004 [1976]) auch überzeugend herausgearbeitet, dass die bolschewistische Partei 1917 eine lose strukturierte Organisation gewesen ist, in der das Zentralkomitee erstaunlich wenig Einfluss auf die Parteiorganisationen in der Provinz und in anderen Städten hatte. Darüberhinaus sei auch die vielbeschworene Parteidisziplin ein Mythos: in jeder entscheidenden Frage gab es scharfe Widersprüche und Auseinandersetzungen. „Die Partei war 1917 durch lebhafte Debatten, interne Demokratie und erhebliche Flexibilität in ihrem Verhältnis zu den Massen charakterisiert.” (Smith: Petrograd, a.a.O., S. 78)


57 William J. Chase/J. Arch Getty: The Moscow Bolshevik Cadres of 1917. A Prosopographic Analysis, in: Russian History 5 (1978), S. 84-105, hier 95


58 Die Petrograder Parteiorganisation zählte im Februar 2.000 Mitglieder, im April 16.000 und 32.000 Ende Juni: insgesamt waren in der bolschewistischen Partei in ganz Rußland im März 10.000 ArbeiterInnen organisiert, 400.000 im Oktober.


59 Der Kontrast zu den Menschewiki ist in diesem Zusammenhang instruktiv. Die moderaten sozialistischen Parteien erwiesen sich als unfähig, eigenständige theoretische und strategische Position zu formulieren, die die Dynamik der Ereignisse und den Charakter der Krise reflektierten. „Stattdessen blieben sie in einer Argumentation stecken, die sich nicht über die Vorkriegszeit hinausbewegte.“ (Haynes: Alternative, a.a.O., S. 40) Die substitutionistische Konzeption, die bürgerlich-demokratische Revolution anstatt der Bourgeoisie vollenden zu müssen, erwies sich spätestens in der polarisierten Situation im August als ungangbar und erzeugte enorme Spannungen innerhalb der Partei.





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