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„Dreiviertel-faschistisches Klima“
von G. M. Tamás, Veronika Duma, Julia Hartung

Während die Medien hierzulande meist auf nicht näher beschriebene Regierungsproteste fokussieren, zeichnet G. M. Tamás ein ganz anderes Bild des derzeitigen gesellschaftspolitischen Klimas in Ungarn. Veronika Duma und Julia Hartung sprachen mit dem in Ungarn lebenden linken Intellektuellen über offen faschistisch auftretende Truppen in den Straßen Budapests, weit verbreiteten Antiziganismus in der Bevölkerung und wieso es so schwierig ist, sich im politischen Spektrum Ungarns als links und zugleich gegen die NATO zu positionieren.

Die Lage im Nachbarland Ungarn ist in der österreichischen Öffentlichkeit wenig präsent. Neben Nachrichten über die Auswirkungen der Wirtschaftskrise und Auseinandersetzungen in der (noch) von den Sozialdemokraten dominierten Regierung erreichen uns nur vereinzelt erschreckende Meldungen über die pogromhafte Stimmung gegen Roma sowie durch die Straßen marschierende, faschistoide Gruppierungen. Die extreme Rechte lässt vollmundig verlautbaren, ihr Ziel sei es, die „linksliberale“ Regierung zu stürzen. Kannst du eine kurze Situationsbeschreibung geben? Was tut sich zurzeit am rechten Rand in Ungarn?

Ich denke, es herrscht wirklich eine rechtsextreme Stimmung im Land. Diese wird vor allem vom jungen Mittelstand getragen: von Intellektuellen, BeamtInnen, StudentInnen, LehrerInnen, ÄrztInnen usw. Diese Stimmung ist aber auch stark in den Dörfern zu spüren, wo die Roma-Bevölkerung lebt.
Das hat unter anderem viel mit dem Scheitern der Politik der letzten Jahre zu tun. Die so genannte linksliberale sozialdemokratische Regierung hat eine konsequent neoliberale Wirtschafts- und neokonservative Sozialpolitik betrieben – dagegen gab und gibt es großen Widerstand.
Außerdem werden in Ungarn alte Feindbilder heraufbeschworen, wenn es darum geht, Verantwortliche für die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes zu finden. So ist etwa von „Judobolschewisten“, also von ehemaligen Kommunisten, die jetzt Milliardäre sein sollen, die Rede; von „den Juden“ – den „Agenten des kosmopolitischen Weltkapitalismus“ – und von den Roma, die in der rechten Presse als „genetische Schädlinge“ bezeichnet werden. Und natürlich auch vom Ausland, von „dem Westen“. Es kann durchaus von einem dreiviertel-faschistischen Klima gesprochen werden. Gewalttaten sind keine Seltenheit: hauptsächlich wird – noch – psychischer Terror ausgeübt, aber es gab auch schon Attentate, Serienmorde an Roma. Sozialistische und liberale PolitikerInnen werden bespuckt, verprügelt usw. Ein neofaschistisches Terrorkommando aus Ungarn wurde jüngst in Bolivien enttarnt und gefangen genommen. Sie waren im Dienste der weiß-suprematistischen Kräfte in der Region Santa Cruz, wo sie gegen das linkssozialistische Regime Evo Morales’ gewalttätig vorgehen sollten. Die Stimmung in Ungarn ist wirklich sehr angespannt.
Das angeblich so fortschrittliche Regierungslager verliert gerade den letzten Rest an Popularität. In dieser Lage entstehen natürlich auch neue Strömungen. Unter diesen sind auch ein paar wenige linkgerichtete Kräfte zu fi nden, aber vor allem gibt es eine aus rechter Sicht viel versprechende, junge faschistische Partei mit dem Namen Jobbik, was „die Bessere“ oder auch „die Rechte“ heißt – das ist ein Wortspiel. Diese Partei verfügt auch über paramilitärische Truppen, die „Ungarischen Garden“, die in den faschistischen Uniformen der Pfeilkreuzler1 aus den dreißiger Jahren auf und ab marschieren und in Schützenvereinen den Umgang mit Waffeen trainieren.
Das kündigen sie übrigens auch ganz offen an. Diese paramilitärischen Einheiten werden gemeinsam mit den so genannten Bürgerwachen (halbamtlichen „Vigilanten“) in einigen Gebieten Ungarns von großen Teilen der Bevölkerung als Aufrechterhalter der öff entlichen Ordnung anerkannt und sogar von Bürgermeistern persönlich gebeten, durch die Straßen zu patrouillieren und Präsenz zu zeigen. Das ist wirklich schlimm.
Es gibt kaum kritische Reflexionen oder Analysen der derzeitigen Situation. Moderate Kräfte, Linksliberale oder SozialdemokratInnen schreien zwar ab und zu etwas von Weimar und Faschismus, eine fundierte Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse bleibt jedoch aus.

Welche Verbindungen bestehen zwischen der parlamentarischen Rechten und den offen auftretenden neofaschistischen Bewegungen?

Sie sind Rivalen, sie sind Feinde und sie sind Verbündete. Natürlich möchte die parlamentarische Rechte nicht ihre Stimmen verlieren.
Allgemein kann gesagt werden, dass das ganze politische Spektrum sich stark nach Rechts verschoben hat. Die militante und rechtsextreme Basis trägt auch ihren Teil dazu bei, dass die parlamentarische Rechte immer weiter nach Rechts rückt. Die Rechten, Konservativen und Nationalisten im Parlament müssen also ein bisschen mit diesen Positionen jonglieren. Einige konservative PolitikerInnen stehen den Rechtsextremen näher, andere wieder weniger.
Die Rivalität ist wie gesagt stark, und rechte PolitikerInnen achten sehr darauf, taktisch vorzugehen. Ein Beispiel: In Ungarn gibt es eine Zeitung, Magyar Hirlap, die einzige nationalsozialistische Tageszeitung in Europa, die ohne Bedenken und Probleme off en rassistische, antisemitische und hetzerische Artikel veröff entlichen kann. Früher war diese Zeitung liberal, und ich habe selbst darin geschrieben. Heute gibt es einen neuen Eigentümer, einen Milliardär und Rechtsextremen. Diese Zeitung unterstützt jetzt wahlpolitisch die parlamentarische Rechte. Konservative Politiker geben in dieser Zeitung Interviews und niemand protestiert! Die Grenzen zwischen der parlamentarischen Rechten und den Rechten auf der Straße sind also kaum noch vorhanden. Es gibt schon seit langem keine Berührungsängste mehr. Antisemitische, rassistische und homophobe PolitikerInnen und bekannte Intellektuelle vertreten ihre Ansichten öffentlich in Talkshows und in den diversen Medien, und niemand versucht, sie zu delegitimieren.

Rechtextreme bzw. neofaschistische Parteien und Gruppierungen gibt es in ganz Europa – und sie scheinen sich im Aufwind zu befi nden. Trotzdem bestehen große nationale Unterschiede in Ausrichtung und Auftreten. Inwiefern lassen sich die Stärke und der besondere Charakter der ungarischen Rechten aus der spezifischen historischen Entwicklung Ungarns erklären?

Ich denke, der Aufstieg der Rechten in Ungarn ist gar nicht so spezifi sch, wie es scheint. So existieren z.B. verblüffende Ähnlichkeiten mit Italien und anderen Ländern in Europa. Selbst in solchen mit einer langen liberalen Tradition, wie den Niederlanden oder Dänemark, besteht eine gewisse Legitimität für rassistische Kräfte, die teilweise ja sogar in Regierungen vertreten sind.
Es gibt natürlich schon Unterschiede, aber eben auch viele Ähnlichkeiten. Eine davon ist, dass es in all diesen Ländern eine sehr hohe Zahl an staatsabhängigen Bevölkerungsgruppen gibt: RentnerInnen, BeamtInnen, Intellektuelle usw. Die lange Krise, die Ende der 1970er Jahre einsetzte, hat dazu geführt, dass sich die Ressourcen des Wohlfahrtsstaates stark verringert haben. Folglich herrscht ein immer größerer Wettbewerb um eben diese staatlichen Ressourcen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Es scheint lediglich die Wahl zwischen zwei, vermeintlich gegensätzlichen Alternativen zu bestehen: entweder, die „ehrliche, hart arbeitende“ Mittelschicht wird die Unterstützung des Staates erhalten, oder die Unterschicht, d.h. die Armen, die MigrantInnen usw. Die zweite Möglichkeit stößt momentan nicht gerade auf Zustimmung. Den Ärmsten die staatliche Unterstützung zu entziehen, bedarf natürlich einer Legitimation. Genau das ist in Ungarn gerade zu beobachten. Die untersten Klassen werden kriminalisiert und als zweitrangige „Rasse“ bezeichnet. Es kann von einer Politik der „non-deserving poor“ gesprochen werden. Die Armen, die ArbeiterInnenklasse, die Arbeitslosen usw. werden von vornherein kriminalisiert, verdammt und ideologisch delegitimiert. In Ungarn wie in anderen osteuropäischen Ländern auch gibt es z.B. eine Stimmung gegen RentnerInnen. Das ist wirklich scheußlich. Alte Leute sollen auf den Müll, die sind nicht mehr aktiv, nicht mehr Wert schaff end usw. Dieser Konflikt zwischen den Mittelschichten und den so genannten Inaktiven, also den RentnerInnen, Arbeitslosen, MigrantInnen, und natürlich den Roma usw. spielt zur Zeit eine prominente Rolle im politischen Leben und in der Öffentlichkeit. Das ist wirklich vergleichbar mit einer Strafexpedition gegen die Ärmsten, also gegen jene Leute, die am abhängigsten von der staatlichen Sozialpolitik sind. Der Staat wird so umgebaut, dass dieser die Ärmsten ausschließt und in erster Linie zu einem militanten Vertreter der Mittelschicht wird. Das war immer die Taktik des Faschismus. Natürlich gibt es einige Veränderungen: im Faschismus herrschte ein Wettbewerb um staatliche Ressourcen auch zwischen und innerhalb des Mittelstandes – es gab ja schließlich auch einen jüdischen Mittelstand. Und im „klassischen“ Faschismus gab es die Strategie der vorbeugenden Konterrevolution gegen die damals noch revolutionären (und im Falle von Rotfront, Schutzbund und Reichsbanner teilweise auch bewaffneten) „marxistischen“ Massenparteien, die es jetzt nicht mehr gibt. Was es jedoch noch gibt, ist der Klassenkampf von oben. Rassismus, Angst vor Kriminalität oder die Sicherheitshysterie können demzufolge als Elemente der Strategie eines Bündnisses zwischen Großkapital und den nicht Mehrwert produzierenden, staatsabhängigen Mittelschichten verstanden werden. Das ist ein Klassenkampf von oben nach unten, ein einseitiger Klassenkampf, ein Klassenkampf der Bourgeoisie.

Da paart sich die kapitalistische Logik der Bewertung der Menschen nach ökonomischen Gesichtspunkten mit einem antihumanistischen, menschenverachtenden Diskurs.

Ja, das geht sehr schön zusammen. Diese radikalisierten Mittelschichten suchen nach Gruppen, die man von staatlicher Sozialpolitik ausschließen könnte. Sie sind gegen Schwule und Lesben, gegen JüdInnen, gegen AusländerInnen, gegen Roma, gegen Linke, gegen Liberale und sie sind natürlich auch frauenfeindlich. Die neuen Sozialreformen bringen zum Beispiel sehr viele Nachteile für junge Mütter mit sich. In der Krise sollen als erstes Frauen entlassen werden, denn die gehören zurück in die Familie usw. Die Rechte besteht vor allem aus weißen, heterosexuellen, maskulinistischen jungen Männern.
Zudem herrscht hier eine Stimmung, die amerikanische Sozialpsychologen als Moralpanik bezeichnet haben. Überall ist die Rede von der angeblich überhand nehmenden „Zigeunerkriminalität“. Tatsächlich ist die Kriminalitätsrate in Ungarn natürlich nicht höher als früher. Die rechte Presse sagt dazu einfach: die Statistik lügt.
Die Feindschaft gegenüber Roma und Sinti steigt. Die Rechten konnten diese Situation gut ausnutzen. Auch und besonders in den Dörfern findet die extreme Rechte einen starken Rückhalt. Warum ist das so? Die Dörfer sind ja bettelarm. Es gibt kaum mehr ungarische Landwirtschaft, denn die wurde in den 1990er Jahren zerstört. Die DorfbewohnerInnen können also nicht mehr von der Landwirtschaft leben. In den armen Dörfern leben außerdem viele Roma und Sinti. Auch das kann erklärt werden. In den letzten zwei Jahrzehnten des Staatskapitalismus sowjetischen Typs bestand in der Industrie – speziell in der Bergbau- und Bauindustrie – ein großer Bedarf an ungelernten Arbeitskräften. Diesen Bedarf deckten damals vor allem die in diesen Industriezweigen arbeitenden Roma und Sinti. Die Bergbau- und Bauindustrie wurde maßgeblich von Roma und Sinti getragen. Diese waren immer PendelarbeiterInnen. Sie wohnten nicht in den Städten, in denen sie arbeiteten, sondern in den Dörfern. Als diese Industrien jedoch Pleite gingen, waren die ArbeiterInnen gezwungen, in die Dörfer zurückzukehren. Dort gab es keine Arbeit, man konnte und kann auch heute nur von der Sozialhilfe leben. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Die Lage ist verzweifelt.

Du hast bereits angedeutet, dass auch in Ungarn einzig die Rechte die soziale Frage aufgegriff en hat. Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem neoliberalen Kahlschlag nach 1989 und dem Erfolg der Rechten?

Es besteht natürlich ein direkter Zusammenhang. Nach der Wende konnte der bis dahin gut verteidigte Binnenmarkt der „sozialistischen“ Länder dem internationalen Wettbewerb nicht standhalten. Mit dem Ende der Sowjetunion gingen binnen kürzester Zeit etwa zwei Millionen Arbeitsplätze verloren – und das in einem Land mit insgesamt zehn Millionen EinwohnerInnen. In der Politik, in den politischen und kulturellen Eliten in ganz Osteuropa – nicht nur in Ungarn – wurde dieser Tatsache jedoch kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Darüber diskutierte man ganz einfach nicht. Das Th ema wurde behandelt, als würde es sich um eine exotische Erscheinung irgendwo in der Ferne handeln. Nur die Rechte hat während der langen Jahre der so genannten sozial-liberalen Herrschaft gelernt, dass ein Auftreten gegen soziale Abbaumaßnahmen oder die Kürzungen der Sozialausgaben in der Bevölkerung auf große Zustimmung stößt. Die Rechten haben dieses Terrain sehr moderat besetzt, natürlich ohne etwas Konkretes vorzuschlagen. Die sind wirklich sehr schlau. Sie nützen sehr selektiv einige Elemente dieser diff usen sozialen Unzufriedenheit.
Die Wende war damals mit großen politischen und kulturellen Hoffnungen, mit Ideen der Freiheit und der individuellen Rechte verknüpft. Ich selbst zählte zu den Befürwortern der Wende als ein ehemaliger „Andersdenkender“ unter Berufsverbot, ich hielt Reden auf Demonstrationen und wurde später Parlamentsabgeordneter. Ich war ein Liberaler und in der Opposition. Ich habe meine politischen Ansichten gründlich verändert. Heute bin ich, seit, sagen wir etwa zehn Jahren, Marxist. Das ist ziemlich selten, die Leute gehen diesen Weg sonst immer in die andere Richtung. Als jemand, der eine gewisse Rolle bei der Gründung dieser Republik gespielt hat, habe ich eine bestimmte Autorität. Meine Situation ist eine seltsame Ausnahme. Trotzdem: Wenn ich heute in meinen Schriften oder bei öff entlichen Auftritten das Wort „Arbeiter“ erwähne, dann lachen die Leute. Auch wenn ich „Gewerkschaften“ sage, lacht das Publikum immer. Das ganze Vokabular der linken Tradition ist einfach verschwunden, die Leute sind nicht mehr daran gewöhnt. Es ist vergessen, nach 40 Jahren angeblich „marxistisch-leninistischer“ Indoktrinierung.
Die aktuelle politische Lage stellt sich für die meisten Leute als ein Konflikt zwischen Liberalen und Autoritären, zwischen ModernisiererInnen und NationalistInnen, zwischen Leuten aus dem imaginären Westen und solchen aus dem erfundenen Osten dar. Dass es ein soziales Problem gibt, wird im Allgemeinen nicht beachtet. Das ist in ganz Osteuropa ähnlich. Auch wird das politische Spektrum auf eine ganz spezielle Art und Weise wahrgenommen. Links sein bedeutet hier antirassistisch, feministisch, nicht nationalistisch und antiautoritär zu sein, aber eben auch pro-amerikanisch, wirtschaftsliberal und okzidentalisch. Quasi ein amerikanischer Liberaler in Osteuropa. Ich wurde einmal gefragt: „Sie sind ein Linker und sind gegen die Nato? Wie geht das zusammen?“ In der vorherrschenden öff entlichen Meinung gehören Menschenrechte, Feminismus, Rechte für Homosexuelle, Rechte für Einwanderer, für Minderheiten und der Neoliberalismus zusammen. Wenn wir in der „Grünen Linken“ als eine neue linke Kraft sagen, dass wir feministisch sind, gegen Diskriminierung usw., dann bekommen wir oft zu hören: „Ach, ihr seid wie die Liberalen.“ Dieser Umstand muss unbedingt mitbedacht werden, wenn man über das politische Spektrum in Osteuropa spricht. Als Linke in Ungarn müssen wir an diesem Schema rütteln. Natürlich müssen wir einige der Inhalte, die hier als liberal gelten, trotzdem verteidigen. Das verstehen sehr wenige Leute – das ist verwirrend! Die Liberalen sagen: „Der Herr Tamás ist sehr anständig, er ist gegen die Faschisten, aber er hat da diese Vorurteile gegen den Kapitalismus“. Und die Rechten sagen: „Ja ja, er ist gegen die Neoliberalen, das ist gut, aber er ist doch ‚fremdherzig’, kein wirklicher Ungar.“ Das ist verrückt! Ich denke, mit der Zeit werden die klassischen Fronten wieder hergestellt werden. Aber für den Moment besteht eine Verwirrung.

Wir würden nun gerne noch einmal genauer auf die offen neofaschistischen Kräfte zu sprechen kommen. Immer wieder tauchen Bilder, insbesondere von den „Ungarischen Garden“ in den Medien auf, die schockieren. Kannst du deren Auftreten schildern?

Die „Ungarische Garde“ ist nur eine von mehreren paramilitärischen Gruppierungen. Es gibt andere, die noch viel schlimmer sind. Diese Truppen zeugen von der Stärke der Rechten. Sie üben – zumindest im Moment – psychologischen Terror aus. Physischer Terror ist noch verhältnismäßig selten, trotzdem gibt es schon Tote. Sie haben Rituale der Weihe, marschieren in Reih und Glied durch die Straßen und sie führen dabei die Fahne der Pfeilkreuzler, also offen faschistische Symbole, mit sich. In ihren Reden sprechen sie immer von der Vernichtung und dem Ausschluss der „Fremdherzigen“ oder Fremden. Dabei sind die paramilitärischen Einheiten sehr darauf bedacht, nicht gegen das Strafgesetzbuch zu verstoßen. Manchmal kommt das natürlich trotzdem vor. Letzte Woche fand z.B. ein Ritual am Grab eines jungen Mädchens statt, das im 19. Jahrhundert verstarb. Damals wurden Juden in einem antisemitischen Prozess angeklagt, Blutschande und Ritualmord begangen zu haben. Die Rechtsextremen halten an dem antisemitischen Mythos des „jüdischen Ritualmords“ fest und bewahren das Andenken an dieses Mädchen. An dem Grab gab es eine Kundgebung, bei der einer der Leiter einer kleineren rechtsaußen Organisation folgendes gesagt hat: „Unsere Vorahnen haben die Turbane der Türken, gegen die wir gekämpft haben, mit Nägeln an ihren Köpfen befestigt. Sollen wir das mit der Kippa auch tun?“ Und die Anwesenden grölten: „Ja!“. Ein weiteres Beispiel: vor einigen Tagen gab es eine Kundgebung der „Ungarischen Garde“ gegen die „Holocaustlüge“ im Budapester Burgpalast. Der Genozid an den Juden, so einer der Redner, hätte nie stattgefunden und es waren Transparente mit Parolen wie „Das Dritte Reich schlägt zurück“ und „White Power“ und ähnliches zu sehen.

Gibt es keinen Paragraphen gegen Volksverhetzung?

Theoretisch schon. Aber kein Gericht wagt es zur Zeit, solche Verurteilungen vorzunehmen. Das ist wie in Weimar der 1930er. Ich gebe euch ein Beispiel: die „Ungarische Nationalfront“ hat gerade einen Prozess gegen die Polizei gewonnen. Der „Nationalfront“ wurde vorgeworfen, zur Ermordung von PolizistInnen aufzurufen. Das war aber nicht der Fall – sie riefen „nur“ zur Ermordung des Premierministers auf! Die Polizei musste eine halbe Million Forint zahlen und sich öff entlich, also in der Presse, entschuldigen. Das haben sie dann auch tatsächlich getan. Sie haben sich entschuldigt. In der Presse!
Neben ganz off en antisemitischen, antiziganistischen und rassistischen Äußerungen in der (rechten) Presse gibt es auch genug implizite Zeichen, die von der hohen Akzeptanz rechtsextremen Gedankenguts zeugen. Ein Beispiel ist die Rehabilitierung des einstigen Reichsverweser und k. u. k. Vizeadmirals Nikolaus von Horthy, der ein Verbündeter Nazi-Deutschlands war und offen antisemitisch agierte2. Er war hauptverantwortlich für den Weißen Terror in der Zeit von 1919-20, für die numerus clausus-Gesetze in den 1920er Jahren und für die antijüdischen „Rassengesetze“ von 1938. Er war derjenige, der nach der deutschen Besatzung im März 1944 die Kollaborationsregierung ernannt hat und die Verschleppung und Ermordung von sechshunderttausend ungarischen Juden und Jüdinnen verordnet und tüchtig vollstreckt hat. Heute gibt es Statuen von ihm, und einige Fresken, auf denen er als Befreier erscheint, wurden restauriert. Einen weiteren Fall stellt der ebenfalls rehabilitierte Graf von Teleki dar, unter dessen Wirken als Premierminister antisemitische Gesetze verabschiedet wurden. Seine Reden werden von einem großen Universitätsverlag veröff entlicht – nicht etwa von kleinen faschistischen Organisationen. Bei all dem ist es wichtig zu verstehen, dass die Situation in allen osteuropäischen Ländern ähnlich ist. Aber auch in Italien und anderen westeuropäischen Ländern gibt es vergleichbare Phänomene.

Neofaschistische GewaltäterInnen müssen also von Seiten des Staates nicht mit Repression rechnen?

Nein.

Es gab ja Prozesse zu den Überfällen auf Sinti und Roma, bei denen es auch zu Todesfällen gekommen ist. Mussten sich die TäterInnen nicht zumindest vor Gericht verantworten?

Die TäterInnen sind nicht gefasst worden. In dem Dorf Tatárszentgyörgy wurde, wie ihr wahrscheinlich gehört habt, das Haus einer Familie angezündet und anschließend der fliehende Vater zusammen mit seinem fünfjährigen Sohn erschossen. Die TäterInnen wurden bis heute nicht ausfindig gemacht. In demselben Dorf wurde auch die Wohnung der Vorsitzenden des lokalen Rats der Roma und Sinti angezündet – ebenfalls keine Täter. Dafür hat die Polizei schon während den laufenden Ermittlungen verkündet, dass sie die Roma selbst hinter diesen Attentaten vermutet. Solche Erklärungen sind eigentlich streng verboten. Sie haben kein Recht, darüber zu sprechen. Seit etwa 15 Jahren gibt es verstärkt Judenhetze und rassistische Übergriffe – und kein einziges Urteil dagegen.
Ein weiteres Beispiel: für den Posten des Premierministers, der von der sozialistischen Partei gestellt werden sollte, war der bekannte Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige Präsident der Nationalbank Dr. György Surányi im Gespräch. Eine rechte Zeitung ist daraufhin mit gelbem Davidstern auf dem Titelblatt erschienen. Es gab eine Demonstration vor dem Haus von Dr. Surányi, bei der dieser sich „Saujud“ und andere Beschimpfungen anhören musste. Herr Surányi ist daraufhin zu der rechtskonservativen Partei im Parlament gegangen – diese sollte ihn gegen die antisemitischen Attacken verteidigen. Sie lehnte ab.

Die neofaschistische Propaganda bedient sich verschiedener Feindbilder. Sie hetzt gegen Roma, Jüdinnen und Juden und sozial Schwache. Welche Versatzstücke des neofaschisischen Weltbilds sind außerdem zu beobachten?

Antikommunismus spielt natürlich eine bedeutende Rolle. Es gibt zwei Spitzen dieser Offensive. Kommunisten sind nach dieser Logik alle, die eine Rolle in der ehemaligen Staatspartei gespielt haben. Die meisten von denen sind heute in Wirklichkeit arme Rentner, altmodische Leute, sagen wir leninistische Konservative. Ich habe damals gegen sie gekämpft, als sie noch keine Rentner waren. Manche von ihnen sind heute meine politischen Verbündeten.
Es herrscht die Meinung vor, dass Leute, die Teil dieser Eliten waren, kein Recht haben, reich zu sein oder Einfluss zu haben. Es gibt hier eine populistische Tendenz der Abgrenzung gegen die alten, aber auch gegen die neuen „Eliten“. Das ist die eine Sache. Und das vermischt sich aktuell auch mit Propaganda gegen aktuelle, fortschrittlichere Tendenzen. Die Neokonservativen sagen, das „Social Engineering“ der Linken führe immer zum Gulag, die Nationalkonservativen sagen, wir wären Internationalisten und keine Ungarn.
Zugleich wird hochoffiziell für eine Art Kastensystem plädiert. Bekannte Intellektuelle sind öffentlich gegen das allgemeine Wahlrecht eingetreten. Menschen, die nicht selbst verdienen, sondern Sozialhilfe und staatliche Unterstützung erhalten, sollen nicht wählen dürfen. Auch in Rumänien hat man vorgeschlagen, dass RentnerInnen nicht mehr wählen dürfen sollten. Und kein Skandal! Obwohl diese Forderung von berühmten und anerkannten Personen verlautbart wurde.

Welche Reaktionen kommen von der Sozialistischen Partei?

Sie steuert all dem nicht gerade entgegen. Sie tritt zwar rhetorisch gegen Rassismus an, hat jedoch vor nicht allzu langer Zeit selbst eine rassistische Gesetzgebung verabschiedet. Sozialhilfe soll von der Bereitschaft zu arbeiten abhängig gemacht werden: „Arbeit statt Sozialhilfe“, so heißt das offiziell. Sie haben sich dieses Programm von Blair und Clinton abgeschaut. In Ungarn, in den kleinen Dörfern, in denen die Roma und Sinti leben, wo es keine Arbeitsmöglichkeiten gibt, bedeutet das den Hungertod. Und so etwas hat die sozialistische Regierung verabschiedet! Ich habe darauf geantwortet: das bedeutet Knast statt Sozialhilfe. In Wirklichkeit propagieren dieses Programm nicht nur die Sozialisten. Es kommt ebenso rechtsextremen Forderungen und BürgerInnenbewegungen in einigen Kleinstädten entgegen. In hetzerischer Art und Weise wird allzu oft von diversen Kräften in der Öffentlichkeit verlautbart, dass man nicht für die „Zigeuner“ zahlen wolle, die nichts täten außer zu rauben, zu stehlen, zu morden usw.
Es gab einen berühmten Fall, von dem ich euch gerne erzählen möchte. In einem Dorf hat ein Bauer seinen Garten mit elektrischem Draht umzäunt. Dieser sollte Diebe davon abhalten, seine Gurken zu stehlen. Die Folge: ein Roma ist gestorben, und ein anderer für den Rest seines Lebens gelähmt. Der Bauer wurde verhaftet, doch kurz danach wieder entlassen. Der Bürgermeister aus dem Nachbardorf hat ihm daraufhin die Ehrenbürgerschaft und eine staatliche Wohnung angeboten. Er wurde in der ganzen rechten Presse als anständiger, guter Ungar gefeiert. Ich habe einen Artikel geschrieben und argumentiert, dass für die rechte Presse die Gurken einiger wertvoller sind als das Leben anderer. Die zweitgrößte Zeitung Ungarns, die konservative Magyar Nemzet, hat mir in Form eines Leitartikels geantwortet, in dem sie betonte, die ganze Redaktion teile feierlich und geeint dieselbe Position: „Wir sind gegen Diebe und preisen deshalb diesen anständigen und guten Ungarn. Wir sind nur für Gerechtigkeit und Ordnung! Und wir würden diesen Standpunkt auch vertreten, wenn der Täter ein weißer Ungar wäre.“ Ich habe in einem zweiten Artikel geschrieben, dass Sie also offensichtlich Eigentum dem Leben vorziehen und damit offiziell beweisen, dass der Kapitalismus eine Kultur des Todes sei. Tatsächlich erschien ein weiterer Leitartikel als Antwort. Plötzlich waren nicht mehr die Diebe, sondern ich der Hauptangeklagte. Als ich daraufhin meine Stammkneipe besuchte, haben die Leute mich nicht mehr gegrüßt – weil ich gegen Mord war! Es ist erschütternd. Dabei ist das nun beileibe keine besonders radikale Position.

Gibt es keinen Hoffnungsschimmer? Welche gesellschaftlichen Kräfte gibt es, die sich diesem Rechtsruck in der Gesellschaft entgegenstellen?

Das Problem ist, dass es gegen diesen extremen Rechtsruck kaum bis keine sozialen Proteste gibt. Die sind die sozialen Proteste. Die einzigen sozialen Proteste werden von diesen jungen Rechtsextremen angetrieben. Das ist dafür eine Massenbewegung.
Aber es gibt auch langsam einige Gruppen von progressiven Leuten, die nicht nur denken, sondern auch kämpfen wollen. Es gibt neue Zeitschriften, die politisch nicht besonders kühn sind, aber trotzdem gutes Material zum nachdenken liefern.
Was uns betrifft: wir haben diese kleine Wahlkoalition, die „Grüne Linke“, gegründet aus AltkommunistInnen, Neuen Linken, Grünen, ÖkomarxistInnen, FeministInnen, AntirassistInnen… lauter Kleingruppen. Die Idee war, dass wir vielleicht meine Berühmtheit, genauer: Berüchtigtheit, ein bisschen ausnutzen können. Das ist mein einziges Kapital. Wir haben kein Geld, absolut keinen Pfennig. Wir werden natürlich keinen Wahlerfolg haben, damit rechne ich nicht angesichts der herrschenden Stimmung. Aber trotzdem: es wird hoffentlich etwas Aufsehen erregen, sodass zumindest in der Öffentlichkeit darüber gesprochen wird. Es soll ein bisschen darüber nachgedacht werden, was Sozialismus, was eine Linke, was Emanzipation und was Klassenkampf heute wirklich bedeuten kann. Wir hoffen, damit ein bisschen was bewegen zu können.

In so einer Situation ist ein Moment der Irritation bzw. eine marginale Diskursverschiebung ja schon ein großer Schritt.

Das glaube ich auch. Eines ist dabei besonders wichtig zu verstehen: der so genannte „real existierende Sozialismus“, der sowjetische Staatskapitalismus, stellt ein schwieriges Erbe für uns dar. Die offiziellen KommunistInnen haben die ArbeiterInnenbewegung vernichtet. Die „sozialistische“ Vergangenheit erscheint den Leuten heute entweder lächerlich oder hässlich – Stichwort: Gulag, Terror, Diktatur.
Die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung ist in Ungarn unbekannt. Auch unter jenen, die sich als Linke verstehen. Für viele ist die Vergangenheit der ArbeiterInnenbewegung gleich Stalin. Das ist alles, was sie kennen. Die Gewerkschaften waren in den „realsozialistischen“ Gesellschaften auf bloße Erholungsorganisationen reduziert. Sie haben die Urlaube der ArbeiterInnen sehr gut organisiert, Bibliotheken für Betriebe betreut usw., aber sie spielten nicht mehr die Rolle einer Interessenvertretung. Streiks waren verboten, es gab keinen Geist des Widerstandes. Die Gewerkschaften waren Staatsbehörden. Die GewerkschaftsleiterInnen sind teilweise dieselben Leute wie damals. Sie haben versucht, sich zu verändern, aber das ist sehr schwierig.
Auch der Widerstand gegen den Stalinismus wird von der breiten Öffentlichkeit immer nur als liberal-konservativer gedacht. Dass es eine nicht-stalinistische Linke, und viele weitere inner-linke Debatten gab und gibt, kommt im öffentlichen Bewusstsein kaum vor. In der Theorie wissen vielleicht einige davon, aber das spielt in der tatsächlichen Situation keine Rolle.

Wie kann eine Zusammenarbeit zwischen ungarischen und österreichischen AntifaschistInnen angesichts dieser Situation aussehen?

Ich glaube, dass wir sehr bescheiden sein müssen. Natürlich wäre es erst einmal wichtig, öfter nach Ungarn und in andere osteuropäische Länder zu fahren. Und natürlich gibt es auch einige Parallelen zwischen Österreich und Ungarn.
Was AntifaschistInnen und Linke in Ungarn brauchen, sind Bücher. Man muss sich vergewissern, dass es eine linke Tradition gab und gibt, dass marxistisches Denken nicht aufgehört hat, die Geister zu bewegen. Der vorherrschenden öffentlichen Vorstellung zufolge findet ein Todeskampf zwischen Liberalen und FaschistInnen statt. Linke Positionen kommen in dieser Art und Weise, das politische Spektrum wahrzunehmen, einfach nicht vor. Besonders deutlich wird dies z.B. auch, wie in der ungarischen Presse das politische Geschehen in anderen Ländern analysiert wird. Parteien, die nicht in das Bild dieser vermeintlich zentralen Auseinandersetzung zwischen liberal und rechts eingeordnet werden können, werden einfach ignoriert. Man glaubt einfach nicht, dass Leute wie Olivier Besancenot und seine NPA3 eine Rolle spielen könnten, und darum kann man solche Entwicklungen einfach nicht erwähnen. Lateinamerikanische Linkspopulisten werden als stalinistische Tyrannen in spe betrachtet. Die neuen sozialen Bewegungen, die globalisierungskritischen Kräfte sind für ungarischen ZeitungsleserInnen nichts als von gewissenslosen Aufwieglern ausgenutzte junge Leute, die naiv und unwissend eine Rückkehr zur Sowjetunion befürworten und die Demokratie hassen. Es geht darum, die Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass es auch andere politische Entwürfe gibt.

Danke für das Interview.

Anmerkungen

1 Pfeilkreuzler bezeichnete die nationalsozialistische Partei Ungarns. 1937 gegründet, führte sie 1944-45 das Kollaborationsregime Nazi-Deutschlands an und war maßgeblich an der Planung und Durchführung des ungarischen Holocaust beteiligt (Anm. d. Red.).

2 Mit „Weißer Terror“ wird der kontrarevolutionäre Terror gegen die kurzlebige ungarische Räterepublik bezeichnet. Das numerus clausus-Gesetz von 1920 sah eine Beschränkung der Zahl jüdischer Studierender an Hochschulen auf 6% vor (Anm. d. Red.).

3 NPA (Nouveau Parti Anticapitaliste, zu dt. Neue Antikapitalistische Partei) bezeichnet die 2009 gegründete linksradikale Partei in Frankreich. Olivier Besancenot fungiert als ihr Vorsitzender (Anm. d. Red.).





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