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Ernten der Krise. Zu den Kämpfen um die “Internationale Entwicklung”
von Linkes Hochschulnetz
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Das übergriffige Potenzial einer „Anomal-IE“ – das Linke Hochschulnetz über die Internationale Entwicklung als Beispiel widerständiger Bewegungen gegen die neoliberale Umstrukturierung der Universität.

Am 13. April unterbrach eine Masse von mehreren hundert Studierenden eine unter dem Motto „Bachelor, was nun?“ laufende geschlossene Veranstaltung, zu der die Uni Wien u.a. die Wirtschaftskammer und den OMV-Vorstand auf das Podium geladen hatte. „Master für Alle!“, war die Antwort an eine Unileitung, die (sich) daran gewöhnen will, Entscheidungen über die Köpfe der Universitätsangehörigen hinweg zu treffen, und sich nur mit ausgewähltem Publikum und fragwürdigen „ExpertInnen“ zu konfrontieren. Die Aktionen am „Bachelor-Day“, an dem auch die Lehre an der Internationale Entwicklung (IE) ausgesetzt wurde, markieren einen vorläufigen Höhepunkt dieses inneruniversitären Konfliktes. Was war passiert?

Zu Beginn des Sommersemesters überraschte der scheidende Rektor der Universität Wien Georg Winckler mit der Neuauflage einer altbekannten Auseinandersetzung: Der für das kommende Wintersemester vorgesehene Start des Masterstudiums IE wird im letzten Moment mit dem Argument der Unfinanzierbarkeit zuerst relativiert und wenig später auf Grund „inhaltlicher Mängel“ überhaupt in Frage gestellt. Dies obwohl der Senat bereits im Jänner 2011 seine Zustimmung für einen von Lehrenden und Studierenden ausgearbeiteten Studienplan gegeben hat. Seither wird außerdem auch mehr oder weniger offen über die Beendigung des Bachelors IE nachgedacht. Entsprechend aufgebracht sind nicht nur die Studierenden über die wiederholt gebrochenen Versprechen. Ernst bleibt auch die Lage von Lehrenden und administrativem Personal: an der IE sind fast alle prekär angestellt und nun vom Verlust ihres Arbeitsplatzes bedroht.

Die Vorstellung des Rektorats ist ein englischsprachiger und zugangsbeschränkter Eliten-Master der „Development Studies“, der die Motiviertesten und Fähigsten aus aller Welt rekrutiert und zu den morgigen TechnokratInnen internationaler Organisationen ausbildet. Dies wäre nichts anderes als die Abschaffung der IE durch die Verkehrung ihrer Ansprüche und Ziele.

1. Die IE ist anders — kurze Geschichte einer Anomal-IE
Der Fokus des Studiums „Internationale Entwicklung“ liegt auf einem transdisziplinären Zugang, der sich in einer Verbindung politikwissenschaftlicher, soziologischer, kultur-, wirtschafts- und geo-wissenschaftlicher Ansätze in der Erforschung globaler Zusammenhänge und des Phänomens „Entwicklung” widerspiegelt. Ein solches transdisziplinäres Vorgehen ermöglicht anwendungs- und problemgeleitete Forschung auf Basis einer kritischen Analyse gegenwärtiger Gesellschaftsformationen. Diese Herangehensweise scheint angesichts der verschiedenen Krisen unserer Zeit (Wirtschaft, Ökologie, Ernährung…) und ihrer gegenseitigen Verstrickung notwendiger denn je. Damit ist die IE innerhalb der deutschsprachigen Universitätslandschaft ein einzigartiges Studium. Nicht zuletzt deshalb, weil sie sich noch im Rahmen der öffentlichen Massenuniversität entwickelte, als der neoliberale Umbau der Universitäten schon begonnen hatte.

Die Situation des Projekts gestaltete sich aufgrund fehlender Ressourcen höchst prekär. Während die Unsicherheit und fehlende Ausstattung mit Ressourcen mitunter darin begründet liegt, dass das Projekt von der Universitätsleitung stets nur geduldet, aber eigentlich nicht gewollt war, fand der individuelle Diplomstudiengang IE allergrößten Zuspruch von Seiten der Studierenden. Die Inskriptionszahlen explodierten und machten den Studiengang innerhalb weniger Semester zu einem Massenstudium. Bei anhaltendem Zustrom interessierter Studierender führte die Politik der Aushungerung seitens der Unileitung zu untragbaren Zuständen: die Lehrveranstaltungen waren überfüllt, es fehlten Räumlichkeiten, der Betrieb wurde bald nur noch durch die Aufopferung bzw. Selbstausbeutung von schlecht bezahlten Lehrenden mit kurzfristigen Arbeitsverträgen sowie durch das Engagement von Studierenden aufrechterhalten. Andererseits entstand daraus eine besondere Situation selbstbestimmter Lehre. Das Massenstudium IE war ohne die enge und relativ gleichberechtigte Zusammenarbeit von Lehrenden und Studierenden schlichtweg nicht zu administrieren. Durch den starken Rückgriff auf studentische TutorInnen, die Gestaltung und Betreuung des Lehrveranstaltungs-Anmeldesystems durch die organisierte Studierendenschaft, ihre Beteiligung an der Lehre, der Ausarbeitung der Studienpläne und deren inhaltlicher Schwerpunktsetzung, konnten die negativen Auswirkungen des unterfinanzierten Massenstudiums teilweise abgefedert werden.

Dadurch war es möglich, der disziplinierenden und vereinheitlichenden Zurichtung des Studiums im Zuge der Bologna-Implementierung zumindest graduell und im Sinne der Erhaltung von individuellen Gestaltungsspielräumen entgegenzuwirken. Absurderweise trug die Vorgehensweise der Universitätsleitung zu den Voraussetzungen für selbstbestimmte kritische Lehre und auf längere Sicht auch zur Formierung einer widerständigen politischen Praxis bei. Das Rektorat sah sich einem rasch anwachsenden, selbstbewussten Kollektiv gegenüber.

2. Der Umbau der Hochschulen…
Aber warum sitzen Wirtschaftskammer und OMV am Podium, wenn es darum geht, den neuen Bachelor-Studienplan zu evaluieren? Begriffe wie „Ökonomisierung der Bildung“ oder „neoliberale Umstrukturierung“ versuchen einen gesellschaftlichen Prozess zu bezeichnen, der sich in den letzten Jahren beschleunigt hat. Allerdings geht es nicht einfach nur um Bildung, die zu einer Ware für den Markt werden soll. Im Mittelpunkt stehen die Studierenden, welche direkt in der kapitalistischen Produktion und deren institutionellen Rahmenbedingungen arbeiten sollen. In den Worten der Wirtschaftskammer heißt das etwa, dass das Hochschulstudium als Berufsausbildung und nicht als „akademisch“ oder „wissenschaftlich“ verstanden werden muss und an die Erfordernisse des Arbeitsmarkts angepasst werden soll. Bachelorstudien „sollen klare Bezüge zu beruflichen Aufgaben in der Wirtschaft aufweisen. Die weiterführenden Studien (Master- bzw. Doktoratsstudium) sollen entweder die erworbene Anwendungsorientierung fortführen oder als wissenschafts- bzw. forschungszentrierte Programme geführt werden“. Für den wissenschaftlichen Nachwuchs soll eine hochselektive „Exzellenzstrategie“ forciert werden und die Privatwirtschaft soll sich durch „Hochschul-Sponsoring“ und „Hochschulstiftungen“ leichter direkt einbringen können (WKÖ 2010: 35ff).

Für eine Wirtschaft zu arbeiten, die im Namen des Standorts ständig neue Opfer verlangt und ein gutes und sicheres Leben immer in ferner Zukunft verortet, ist wohl für die meisten in unserer Gesellschaft eine leidvolle Erfahrung. Das Interesse der Wirtschaftskammer für die Strukturen der Universität und ihre Abwertung des „Akademischen“ offenbart, was sich hinter dem Gerede von „Berufsausbildung“/„Employability“ und „Anwendungsorientierung“ versteckt: Menschliche Arbeitskraft ist im Kapitalismus die wichtigste Ware, um die sich alles dreht. Sie muss möglichst billig, abhängig, fügsam, erpressbar, jederzeit verfügbar und austauschbar sein – kurz: prekär. Die Geschichte der „Hochschulreformen“ des letzten Jahrzehnts ist für uns Studierende ein Prozess der Zurichtung und Enteignung, der uns auf entfremdete Arbeit vorbereiten soll:

Enteignung jeglichen eigenen Anspruchs an das Studium: was, wozu, wie lange studiert wird, wird uns „von oben“ auferlegt – jede Tätigkeit, die uns nicht dazu ausbildet, in vorgegebenen Berufsbildern zu funktionieren, wird delegitimiert. Jede andere gesellschaftliche Rolle der Massenuni soll undenkbar werden. Selbst die freie Wahl des Studiums soll uns aus den Händen genommen werden.

Enteignung von Wissen (Dequalifizierung): an die Stelle einer möglichst umfassenden Ausbildung tritt die enge fachliche Spezialisierung, die nicht nur schneller und billiger ist, sondern uns auch gegenüber dem/der einzelnen ArbeitgeberIn abhängiger macht. Je nach dem, was gerade von uns gebraucht wird, sollen wir uns dann um- oder weiterbilden („Lifelong learning“).

Enteignung von Mitbestimmungs- und Gestaltungsmöglichkeiten („Verschulung“): Studieren ist das möglichst schnelle Aneignen vorgegebener Wissenshappen in straff organisierten und standardisierten Studienplänen. Die „Mindeststudienzeit“ ist schon längst Regelstudienzeit. Verlieren wir Zeit mit Herumschweifen, Vertiefen und eigenwilliger Gestaltung, ist bald die „Toleranz“ vorbei und wir verlieren Beihilfen, Begünstigungen und zahlen Studiengebühren. Die Vorstellungen und Bestrebungen der Auszubildenden sind potentielle Hindernisse für die zielgerechte Ausbildung: Lieber unverbindliche KundInnenbefragungen als demokratische Entscheidungsprozesse! Die Ideologie der „Dienstleistungsuniversität“, die Universität als Unternehmen und Ausbildung als kaufbares Produkt darstellt, mystifiziert diese autoritäre Umgestaltung, indem sie es überhaupt erst als selbstverständlich erscheinen lässt, dass wir als KonsumentInnen kein Recht darauf haben, mitzubestimmen, wie das Produkt ausschauen soll oder gar wie der ganze Betrieb zu funktionieren hat.

Enteignung finanzieller Mittel: die Erzeugung materieller Armut in einem der reichsten Länder der Welt soll unseren Eigensinn einschränken und uns zur Fremdbestimmung disziplinieren. Studierende haben keinen Anspruch auf Mindestsicherung. Studiengebühren und andere Belastungen hängen über unseren Köpfen, sobald wir vorgegebene Bahnen verlassen wollen. Der allgegenwärtige Mangel soll uns zur Entsolidarisierung und zur Konkurrenz erziehen: unsere Mitstudierenden werden zu FeindInnen und die „Masse“ zur Ursache aller Missstände, wie fehlende Seminarplätze, knapp verfügbare Lehrbücher usw.

Angesichts dieser umfassenden kontinuierlichen Enteignung greift die Debatte um den Finanzierungsnotstand der Universitäten zu kurz. Der Mangel an Mitteln ist nicht Vernachlässigung von Studierenden und ihrer Bildung. Dieser ermöglicht im Gegenteil erst — durch Bezugnahme auf so genannte finanzielle Sachzwänge — die neoliberale Umstrukturierung der Massenuniversitäten. Damit versteckt sich hinter der angeblichen Zentralität des Themas Bildung im Mund von PolitikerInnen, InteressenvertreterInnen, „ExpertInnen“ und liberalen MeinungsmacherInnen de facto der gewaltförmige Umbau der öffentlichen Massenuniversität „von oben“.

Paradebeispiel für den Zusammenhang zwischen Unterfinanzierung und Umbau ist die Debatte um Zugangsbeschränkungen. Die planmäßige Ausbildung von ausbeutbarer Arbeitskraft erfordert die „Lenkung der Studierendenströme“, wie sie etwa die Industriellenvereinigung fordert. Dem steht der freie Hochschulzugang im Weg. An dessen Stelle tritt die „Studienplatzbewirtschaftung“ und das „Zugangsmanagement“. Das schlagende Argument dafür: freier Hochschulzugang sei nicht finanzierbar. Die von den Studierendenprotesten erzeugte Aufmerksamkeit rund um die fehlende Finanzierung der Hochschulen wird von Regierung und RektorInnen zur Durchsetzung der eigenen Vorstellungen genutzt. Die freie Wahl des eigenen Studiums muss aufhören, ein Recht zu sein. Das Studium wird zur Konzession, die man sich verdienen muss und dankbar in Empfang nimmt, nachdem man den Kampf um den Studienplatz gegen die eigenen KollegInnen gewonnen hat.

Am Beispiel der Aushebelung des freien Hochschulzugangs wird sichtbar, dass Unterfinanzierung Strategie ist. Ziel ist eine regierbare Hochschule. Der Angriff im Sinne einer Umstrukturierung der öffentlichen Massenuniversität ist ein Zugriff auf diejenigen, die in ihr studieren und arbeiten. Er zielt darauf ab, Bildung zur Produktion von prekärer, unterworfener, herrschaftskonformer Arbeitskraft zu machen. Die Ausbildung bereitet dabei auf die Arbeit vor, indem sie selbst schon deren Eigenschaften annimmt: fremdbestimmtes, unmündiges Tätigsein unter Zeitdruck. Studieren erleben wir zunehmend als Ausbildungsarbeit, um im neoliberalen System funktionieren zu können.

3. … ist krisenhaft!
Die Ware sind schon längst wir selbst! Allerdings sind wir nicht einfach tote Gegenstände. Wir sind eine außerordentlich lebendige Ware! Wir sollen funktionieren. Das System lebt von unserem Tun und will es vorbestimmen. Aber wir können auch anders! Im Eigensinn der lebendigen Arbeit steckt die Grenze des Kapitalismus.

Das Hindernis sind wir selbst. Unsere intellektuelle Neugier, die über einzelne Disziplinen und spezifische Berufsausbildungen hinausgeht. Unsere solidarische Haltung gegenüber unseren Mitmenschen, der Gesellschaft und der Natur, die die normative Vorstellung des egoistischen, Nutzen maximierenden „homo oeconomicus“ und den Imperativ der Konkurrenz untergräbt; unsere Scheu vor sinnloser, entfremdeter Arbeit; unsere Fähigkeit, zu kritisieren.

Die Jahre der „Hochschulreformen“, der Enteignungen und der Einführung neuer Zwänge, sind auch die Jahre, in denen die StudentInnenrevolten in ganz Europa an die Tagesordnung zurückgekehrt sind: Frankreich, Italien, Spanien, Dänemark, Griechenland, Kroatien, Polen, Österreich, Niederlande, Deutschland, Großbritannien… in welchem Land wurden in den letzten Jahren nicht Universitäten besetzt, bestreikt oder auf der Straße demonstriert? Die Massenmobilisierungen auf Unis und Schulen erreichten an manchen Orten noch nie da gewesene Ausmaße und haben immer wieder Angriffe „von oben“ entschleunigt oder gar rückgängig gemacht. Prominentes Beispiel ist die Rücknahme eines prekarisierenden Beschäftigungsgesetzes für junge Arbeitende in Frankreich 2006, zu dem die Regierung durch den monatelangen Stillstand der Universitäten und schließlich die Mobilisierung der Gewerkschaften gezwungen wurde. Diese Erfahrung sagt auch viel über das neue Verhältnis zwischen Studium und Arbeit und deren verschwimmende Grenzen aus. Die Universität ist längst nicht mehr der abgekapselte Raum, der er einmal war. Die Auseinandersetzung mit unserer eigenen spezifischen Lage zwingt uns zum Einschreiten ins gesellschaftliche und politische Geschehen, wie neuestens in Spanien, wo die „empörte“ Jugend sich die öffentlichen Plätze aneignete und versuchte, Politik anders zu praktizieren. Die Dynamik dieser Konflikte ist ein Wechselspiel von plötzlichem Ausbruch massenhaften Ungehorsams und dem Rückzug ins Private, die nach Vorstellungskraft, politischer Zielrichtung und entsprechender Organisierung schreit. Zentrale Herausforderungen für die StudentInnenbewegung sind sowohl der Zusammenschluss mit anderen gesellschaftlichen Kräften als auch, die Universität als Institution, in der Wissen geschaffen wird, in diesen verallgemeinerten Kampf miteinzubeziehen.

Jedenfalls entpuppt sich der herrschaftsförmige Umbau der Hochschulen auch abseits großer Zuspitzungen und Revolten keineswegs als gschmeidiges Unterfangen. Die öffentliche Massenuniversität bleibt ein täglich umkämpftes Feld: Universität wird immer wieder anders gemacht, als sie von den Regierenden gedacht wird. Bei der IE handelt es sich um eine solche Abweichung. „Anomalie“ im Hochschulsystem findet sich überall dort, wo gelebte Demokratie, studentische Selbst- und Mitbestimmung sowie kritische Wissenschaft und die Aushebelung von Selektionsmechanismen möglich bleiben. Zentral und konstitutiv für den Charakter der IE war dabei immer wieder die direkte Einmischung der Studierenden. Was wäre die IE, wenn sie nicht erkämpft worden wäre? Indem wir den strukturellen Umbau der Massenuniversität undurchführbar machen, können wir die gesellschaftliche Funktion der Universitäten umkehren und dazu beitragen, die herrschende Ordnung zu destabilisieren. Wir sind ihre Krise!

4. Die Anomalie ist die Wiege der Krise
Warum die Figur der „Anomalie“? Weil sie uns die Widersprüchlichkeit der IE erfassen lässt. Weil sie gleichzeitig ein emanzipatorisches Veränderungspotential, als auch Beschränktheit und prekäre Existenz ausdrückt. Die Anomalie zeichnet sich dadurch aus, dass sie eine Nische, eine Abweichung und nicht die Regel ist. Sie ist nicht das „radikal Andere“, sondern etwas Anderes innerhalb bestimmter systemischer Grenzen. Was bedeutet etwa “kritisches Studieren” in einer Institution wie der Universität, die historisch der Reproduktion von Eliten sowie der Legitimation von Herrschaft gedient hat? Bei der Diskussion um dessen emanzipatorische Wirkungsmächtigkeit sollte mitbedacht werden, dass – verallgemeinernd ausgedrückt – das Studium der IE auch in Zeiten des freien Hochschulzugangs von einer kleinen Minderheit der Gesellschaft in Anspruch genommen wird, die sich großteils aus „bildungsbürgerlichen Schichten“ rekrutiert. Emanzipation erfordert auch den Ausbruch aus einem selbstbezüglichen akademischen Milieu.

Weiters unterliegt die Anomalie immer strengen inneruniversitären Grenzen. So handelt es sich bei der IE um ein reguläres Studium, an dessen Ende ein Titel vergeben wird, der sozialen Aufstieg und Privilegien bedeutet. Die IE kann immer nur bis zu einem gewissen Grad aus der etablierten Logik universitärer Lehre ausbrechen und kritische Freiräume für emanzipatorische Bildung schaffen. Dabei handelt es sich oftmals um einen zeitlich begrenzten Bruch mit und innerhalb der herrschenden Ordnung. Die Anomalie zeichnet sich durch ihre prekäre Existenz aus: sie droht vom System aufgefressen zu werden. Entweder durch frontalen Angriff und schlagartige Beseitigung – wie im Falle der Nicht-Einführung des IE-Masters – oder aber durch langsame Normalisierung und Institutionalisierung. Ein Kampf, der sich auf die bloße Erhaltung einer Anomalie beschränkt, kann daher nicht gewonnen werden; immer wieder aufs Neue droht die Anomalie in den Sog gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen gezogen zu werden und sich darin aufzulösen.

Mit dem ausklingenden Wintersemester 2010 und nach langjährigen Studi-Protesten schienen sich die Verhältnisse an der IE normalisiert zu haben. Mit der Einführung des Bachelors war ein stetiger Zufluss von Ressourcen, eine schrittweise Institutionalisierung als befristete „Forschungs- und Lehrplattform“ und eine entsprechende Planbarkeit verbunden – es musste nicht mehr jedes Semester aufs Neue um die nötigen Mittel für die Fortsetzung der Lehre gebangt werden. Diese Veränderungen blieben nicht ohne Konsequenzen für die innere Zusammensetzung des Studiengangs und führten unter anderem zu einer Einschränkung der Gestaltungsspielräume für die Studierendenschaft – der selbstverwaltete Charakter der Lehre litt unter dem Prozess der Institutionalisierung.

Vor allem aber kann sich die IE als einzelnes Studium nicht zur Gänze den Angriffen entziehen, die in Form von Universitätgesetz-Novellierungen oder europaweit konzertierter Bildungspolitik daherkommen. Das Diplomstudium wurde zwangsweise aufgelassen. Die neue zugangsbeschränkende Studieneingangsphase (STEOP) macht seit diesem Herbst auch vor der IE nicht halt. Diese sieht am Anfang des Studiums alles entscheidende Modulprüfungen vor, die den Leistungsdruck auf Erstsemestrige extrem erhöhen und Doppelstudien praktisch verunmöglichen.

In dieser Situation der normalisierenden Institutionalisierung und der vermeintlichen Sicherheit schlug die Nicht-Finanzierung des IE-Masters ein wie eine Bombe. Die daraus resultierende existenzielle Bedrohung des gesamten Studiengangs verdeutlicht nicht nur den immer prekären Charakter der Anomalie. Sie erinnert auch an die Zeit vor der schrittweisen Institutionalisierung und daran, dass schon um die Etablierung des Individuellen Diplomstudiengangs gekämpft werden musste; dass die Anomalie selbst das Ergebnis von Kämpfen ist und Ausgangspunkt neuer Kämpfe werden kann: Spätestens ab 2007 formierte sich offener studentischer Protest gegen die Politik der Aushungerung von Seiten der Universitätsleitung. Über den eingeengten institutionellen Handlungsspielraum der Basisgruppe IE hinaus radikalisierte sich der Protest im Café IE. Dessen widerständige politische Praxis erlebte durch den Zusammenschluss mit Studierenden verschiedener anderer Studienrichtungen im Widerstandscafé eine erste Verallgemeinerung. Die ursprünglich partikularen Forderungen der Internationalen Entwicklung bekamen eine gesamtuniversitäre Dimension. Das Widerstandscafé wurde in den folgenden zwei Jahren zu einer treibenden Kraft politischer Kämpfe an der Universität Wien, bis es im Herbst 2009 in der Besetzungsbewegung aufging. Der Zusammenhang zwischen „Partikularität“ und „Verallgemeinerung“, bzw. zwischen „Anomalie“ und „Bewegung“ wurde damals besonders deutlich: ein wichtiger Teil der Studierenden, die am 22. Oktober 2009 das Audimax besetzten und damit die größte Unibewegung seit Jahren auslösten, waren IE-Studierende, die um ihr Studium kämpften und kurz zuvor eine entsprechende Vollversammlung abgehalten hatten. Die „allgemeine Erschütterung“ von unibrennt wirkte damals positiv auf die Verhältnisse an der IE zurück.

Es geht also um diesen Sprung im Kampfzyklus, der aus dem Kampf der Anomalie um ihre eigene Existenz entstanden ist. Die Verallgemeinerung der Kämpfe bedeutet dabei nichts als die konsequente Antwort auf den Umbau der Massenuniversität; sie wird zur Notwendigkeit. Wir brauchen den Zusammenschluss mit allen, die vom Umbau in und außerhalb der Universitäten betroffen sind!

Der Kampf um die Anomalie ist nicht nur um ihrer selbst Willen wichtig. Vielmehr bietet sie ein Terrain für die Formierung widerständiger Subjekte, die sich wiederum nur in der Anbindung an größere gesellschaftliche Kämpfe und im Anschluss an politische Kampfzyklen wirklich konstituieren können. Das ist, was die Anomalie so interessant und wichtig macht. Der Kampf der Anomalie um ihre Existenz kann und soll über die Verteidigung des Bestehenden hinausgehen. Die IE zeigt, dass der Umbau der Massenuniversität sich keineswegs reibungslos vollzieht, sondern eine politische Durchsetzung benötigt. Ansonsten gerät der Umbau in die Krise. Wir wollen seine Krise! Die Anomalie trägt den Keim dieser Krise in sich.

5. Was passiert innerhalb der Uni Wien?
Die Rolle der Unileitung muss im Kontext des strukturellen Umbaus der Massenuniversität gesehen werden. Die Verwandlung der Hochschule in eine Produktionsstätte fügsamer Arbeitskraft kann nämlich nicht ohne Veränderung inneruniversitärer Machtverhältnisse vonstatten gehen: wer nie etwas mitentscheiden durfte, wird auch im späteren Leben keinen Anspruch darauf erheben. Demokratische Mitbestimmung ist im Sinne eines „effizienten Entscheidungsprozesses“ ein Hindernis. Das ideologische Gewand dieser autoritären Umstrukturierung ist jenes der „Dienstleistungsuniversität“. Die Universität soll ausschauen wie ein Unternehmen. Und Demokratie hört bekanntlich an der Türschwelle aller Unternehmen auf. An der Spitze der Universität stehen jetzt ein Management (Rektorat) und ein Aufsichtsrat (Unirat) – von den üblichen konservativen Seilschaften besetzt. Die „Universitätsreformen“ verleihen der alten Unihierarchie mehr Macht über die Universitätsangehörigen und machen sie gleichzeitig zu einer gewichtigen Akteurin des Umbaus.

Seit der UG-Novelle 2009 besitzt der Rektor etwa die alleinige Kompetenz über Finanzierungsfragen. Am Beispiel der IE wird ersichtlich, dass ihm dies weit mehr erlaubt: das gewaltsame Eingreifen in die inhaltliche Ausgestaltung der Studienpläne über die Köpfe der Kollegialorgane hinweg, welche nicht ohne seine finanzielle Zusicherungen arbeiten können. Monokratische Entscheidungsstrukturen zu Gunsten des Rektors werden durch die bewusste Logik der gegenseitigen Ausspielung verschiedener Universitätsebenen und Fakultäten nach dem Prinzip des „Teile und Herrsche“ abgesichert. Wird irgendwo Kohle frei, weil das Management beschlossen hat, etwas nicht zu finanzieren, erhoffen sich alle anderen davon Vorteile.

Es besteht insofern auch kein Interessensgegensatz zwischen Regierung und Unileitung. Eher haben wir es mit einer integrierten Doppelherrschaft zu tun, die es den Instanzen erlaubt, jeweils die Verantwortung von sich zu schieben: Das Ministerium verteidigt die eigenen Angriffe als Reformen, die an sich gut, aber von den „autonomen“ Universitäten schlecht umgesetzt wären (wie bei der Debatte rund um die Bologna-Architektur). Die RektorInnen und DekanInnen wollen ihre gezielten Maßnahmen gegen freies Studieren, selbstverwaltete Räume und demokratische Mitbestimmung mit dem Argument der Ressourcennot durchsetzen, für die doch leider die Regierung verantwortlich sei (und diese jammern sie periodisch in öffentlichen Briefen und Auftritten an). Die gesellschaftlichen Machtverhältnisse stützen sich auf inneruniversitäre Machtverhältnisse (und umgekehrt). Die Universitätshierarchie fungiert als Agentin von Entdemokratisierung und kapitalistischem Zugriff auf die Universität und ihre Subjekte. Dadurch werden gesellschaftliche Verhältnisse (an)greifbar. Drängen wir die Diktatur des Rektorats zurück! Erobern wir Räume und Möglichkeiten zur autonomen Gestaltung der Universität und brechen wir die Grenzen zwischen Universität und anderen gesellschaftlichen Bereichen auf!

Säen wir die Krise,
seien wir die Krise!

Sonst können wir alle sehen, wo wir bleiben…

Es handelt sich bei diesem Artikel um Ausschnitte aus der gleichnamigen Broschüre des Linken Hochschulnetz.





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