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Was war denn das? Der Krieg gegen den Terror
von Richard Seymour

Zehn Jahre nach dem 11. September 2001: Richard Seymour über den Aufstieg, die Bedeutung und das Ende des Kriegs gegen den Terror.

Die Kriege gehen zwar weiter, aber der „Krieg gegen den Terror“ ist vorbei. Verlorene Freiheiten wurden zwar noch nicht wieder errungen, Geheimgefängnisse, Entführungen und Folter werden auch von einer Post-Bush US-Regierung stillschweigend gebilligt. Trotzdem, der Krieg gegen den Terror ist zu Ende. Können wir nun, da er vorbei ist, herausfinden was er war?
Im Alltagsverstand der Linken wird der Krieg gegen den Terror als abenteuerliches Projekt zur Neuordnung einer strategisch und energiepolitisch wichtigen Region im Interesse der amerikanischen herrschenden Klasse verstanden. Als Nebeneffekt erlaubte er eine autoritäre Umrüstung der teilnehmenden Staaten, um gegen GegnerInnen im Inneren unter den Vorzeichen der Terrorismusbekämpfung vorzugehen – aber die dominante Logik war eine geopolitische, angetrieben durch die Konkurrenz zwischen den USA und potenziellen Rivalen wie China und Russland, die sich um die Kontrolle von Energieressourcen drehte. Würden die USA die Ölquellen kontrollieren, könnten sie die Öllieferungen an ihre Konkurrenten reduzieren und so deren Wachstum mindern. Jedoch, so das Argument: das Setzen auf militärische Macht stellte sich als Fehler heraus, und die USA fanden sich in einer weiter geschwächten Position wieder. Die Beendigung des Kriegs gegen den Terror stellt einen Strategiewechsel dar, der von „RealistInnen“ innerhalb der Demokratischen Partei wie Zbigniew Brzezinski angezeigt wurde und auf die Festigung US-amerikanischer Hegemonie durch eine Stärkung der Allianzen mit der EU und anderen setzt.

Diese Analyse hat ihre Stärken, doch ich möchte einen anderen Punkt herausstreichen. Wenn der Krieg gegen den Terror ein Versuch war, die US-Hegemonie international zu stärken, so kann er auch als Anstrengung verstanden werden, die Kräfteverhältnisse innerhalb des Landes zu Gunsten der Unternehmen und in Richtung eines stärker auf Zwang setzenden Staat zu verschieben. Dieses Vorgehen wurde in zahlreichen entwickelten kapitalistischen Staaten durchgezogen, besonders in jenen, die sich mit der Bush-Regierung verbündet hatten, um einige der sich abzeichnenden Krisen des US-geführten neoliberalen Kapitalismus zu abzufedern und oppositionelle Kräfte für einen bestimmten Zeitraum entscheidend zu schwächen.

Zugleich beruhte die Bush-Regierung jedoch auf einer schmalen und äußerst instabilen Basis, die für die Instabilitäten, die durch die eigenen Politiken hervorgerufen wurden, hochgradig anfällig waren. 2005 hatte sich die Situation im besetzten Irak so weit verschlechtert, dass der Krieg begann, verschiedenste Ursachen der Unzufriedenheit mit der Regierung zu bündeln, sowohl in den Eliten als auch unter den WählerInnen. Als die Regierung 2008 abtrat, war sie bereits eine lame duck. Dennoch hatten die politischen Kräfte, die durch den Krieg gegen den Terror mobilisiert wurden, langfristige Effekte, die auch im Kontext der gegenwärtigen Rezession und der Präsidentschaft Barack Obamas weiter wirken.

Vor dem Flächenbrand
Vor den Angriffen am 11. September war eine Reihe von inhärenten Schwächen des Kapitalismus in seiner neoliberalen Phase an die Oberfläche getreten. Das System litt an einer chronischen Überakkumulation von Kapital. Die Finanzialisierung hatte systemische Instabilitäten erzeugt, die sich im ökonomischen Zusammenbruch der südostasiatischen „Tigerstaaten“, in Rettungsaktionen für Hedge Funds und dem Platzen der dot.com Blase ausdrückten. Unternehmensprofite, die sich seit der weltweiten Rezession 1979-1982 allmählich wieder erholt hatten, begannen wieder zu fallen. Die Schwäche des Systems wurde im Jahr 2001 von einer Serie von Rezessionen angezeigt, auch wenn keine der systemischen Krise nach 2007 gleichkommen sollte. Die Legitimität des Kapitals wurde zugleich von einer Kombination aus antikapitalistischen Bewegungen und verschiedenen Buchhaltungs-Skandalen großer Konzerne wie WorldCom angegriffen. Auch der Kampfgeist der Gewerkschaften schien sich gegen Ende der 1990er etwas zu regen, in einigen Aufsehen erregenden Streiks konnten Erfolge erzielt werden und zahlreiche Organisierungskampagnen wurden durchgeführt. 1997 wurde ein großer Arbeitskampf der TransportarbeiterInnen von breiter öffentlicher Unterstützung begleitet, StreikbrecherInnen waren selten und die Solidarität an den Streikposten mit 95 Prozent hoch. Darauf folgte eine Reihe von Streiks, darunter einer bei General Motors, und im Jahr 1998 wies die Statistik 5,1 Millionen Streiktage in den USA aus: das ist zwar in historischer Perspektive wenig, markierte aber einen beginnenden Anstieg. Die Fähigkeit des Staates, Dissidenz und Widerstand zu kontrollieren, wurde zunehmend in Frage gestellt. In Seattle hatten antikapitalistische DemonstrantInnen erfolgreich eine WTO-Konferenz verhindert, in der neoliberale Maßnahmen in einem Bündnis kapitalistischer Staaten weiter institutionalisiert werden hätten sollen. Zur gleichen Zeit fanden in Cincinnati die größten Unruhen seit den Riots in Los Angeles 1992 statt, nachdem Timothy Thomas, ein 19-jähriger schwarzer Mann, erschossen worden war. Die öffentliche Meinung bewegte sich in einer ganzen Reihe von Themen nach links.
Für die Reagan-AnhängerInnen in der Führung der Republikanischen Partei wurde es zunehmend schwierig, ausreichende Unterstützung aus der Bevölkerung für ihre Programmatik zu finden, weshalb sie sich gezwungen sahen, ihre Absichten hinter dem Label des compassionate conservatism zu verbergen und dann bei der Wahl im Jahr 2000 das Präsidentenamt zu stehlen. Im Angesicht einer platzenden Finanzblase aus der Clinton-Ära, dem Wiedererwachen globaler anti-systemischer Bewegungen und der ablehnenden Haltung der Eliten gegenüber jeglichem politischen Abenteurertum hatte die neue Regierung jedoch ein Legitimitäts-Defizit. Die Angriffe vom 11. September vernichteten viele dieser Hindernisse in einer Reihe gigantischer Flächenbrände.

Der neokonservative Moment
Es ist wichtig, präzise zu bestimmen in welcher Hinsicht die Bush-Regierung die Interessen der herrschenden Klasse interpretiert und implementiert hat. Die herrschende Klasse ist niemals eine geschlossene Einheit der UnternehmerInnen. Ihre verschiedenen Fraktionen teilen manche Interessen und streiten sich über andere, und keine einzelne Strategie kann all diese Interessen bedienen. Diese Tatsache entzieht jeder instrumentalistischen Sicht die Grundlage, nach der der Staat bloß ein „Werkzeug“ zur Durchsetzung einer festgelegten Interessenlage der Herrschenden wäre. Tatsächlich sind der Staat und die Parteien, die um die Kontrolle über ihn konkurrieren, Felder ideologischer Antagonismen. PolitikerInnen und Intellektuelle müssen innerhalb der Klasse, mit der sie organisch verbunden sind, um ihre bevorzugten Strategien streiten.

Es ist zweifelhaft, ob Bush jemals die Mehrheit der herrschenden Klasse in den USA hinter sich gebracht hat. Aber innerhalb der Republikanischen Führung, existierten verdichtete Kapitalfraktionen – besonders aus den Bereichen Energie, Finanz, Verteidigungsindustrie und Bauwirtschaft – die sicherlich von der Politik profitieren konnten, die Bush als Teil des Kriegs gegen den Terror umsetzen konnte. Und in der Regierung befanden sich mehrere PolitikerInnen und Intellektuelle, die zwischen dem Privatsektor, Staatsapparaten und rechten Think Tanks zirkulierten und dadurch eine im Wesentlichen deckungsgleiche Vorstellung davon hatten, welche Aufgaben der amerikanische Kapitalismus in seiner historischen Mission zu erfüllen hatte.
Es gab auch abweichende Stimmen, etwa jene von Finanzminister Paul O’Neill. Doch unmittelbar nach dem 11. September wurden diese entscheidend marginalisiert. Ein Kern von neokonservativen und rechts-nationalistischen IdeologInnen (von denen einige im Project for the New American Century aktiv gewesen waren) übernahm die Führungsrolle und versuchte, dem US-Kapitalismus eine moralische und intellektuelle Führung zu verpassen, die auf dem Einsatz von militärischer Macht zur Einschüchterung von Verbündeten und Züchtigung von Gegnern basierte. Es ist unwahrscheinlich, dass dieses Projekt ohne den 11. September durchgesetzt hätte werden können. Statt dessen wäre wohl stärker auf neoliberale „Globalisierung“ gesetzt worden – die weitere Öffnung und Liberalisierung der Weltmärkte durch IWF-Kredite und versprochenen Zugang zum US-Markt, wobei die militärische Stärke eine untergeordnete Rolle neben den anderen Zwangsmechanismen spielt, die dem imperialen Hegemon zur Verfügung stehen.
Der „neokonservative Moment“ stellte jedoch den militärischen Konflikt ins Zentrum einer neuen ideologischen Konstellation, deren Angelpunkt die Verteidigung der „westlichen Zivilisation“ gegen ihre „totalitären“ oder „islamofaschistischen“ Feinde darstellt. Die USA, so wurde argumentiert, sollten einen Block liberal-kapitalistischer Staaten anführen, um „Al Qaida“ und jenen, die als ihre Verbündete gelten, einen entscheidenden Schlag zu versetzen. Der „Westen“, als Inkarnation des Höhepunkts menschlicher Entwicklung, sollte zum Fortschritt beitragen, indem er seine aufgeklärten Interessen an der Durchsetzung einer liberalen Weltordnung und dem Sieg über deren Feinde zur Geltung bringt.
Diese Argumentation war nicht völlig neu. Bereits 1999 formulierte Tony Blair die grundlegenden Themen in einer Rede in Chicago, und entsprechend wurde Blair auch zu einem engen Verbündeten von Bush. Trotzdem war die Intensität, mit der solche Ideen reproduziert wurden, und ihre plötzliche Resonanz sicherlich etwas Neues. Die Strategie versuchte, einen Aspekt des hegemonialen Diskurses des Kalten Kriegs aufzugreifen, in dem die offen ausgedrückte Loyalität und Kooperation von potenziell entgegen gesetzten politischen Kräften eingefordert wurde, um dem Vorwurf des Verrats zu entgehen.
Die Außenpolitik war die zentrale Säule der Bush-Regierung, und sie half auch bei der Reorganisierung der nationalen Klassenverhältnisse. Sie stellte die Basis für einen Aufschwung der Republikanischen Partei im Wahlvolk dar; sie erlaubte eine Ausweitung von Überwachung und Repression, wodurch der Staat in eine bessere Position im Umgang mit Dissidenz und Widerstand gebracht wurde; sie stellte eine praktische Begründung für die Unterdrückung von Arbeitskämpfen dar; und, indem sie ihre GegnerInnen schwächte, ermöglichte sie es der Regierung, Politiken ohne Gegenwehr durchzusetzen, die Vermögen an die Reichsten umverteilten.

Die entwaffnete Linke
Der wichtigste unmittelbare Nutzen, den die imperialistischen Staaten aus den Angriffen vom 11. September ziehen konnten, war ihr Vorteil gegenüber popularen Widerstandsbewegungen. Dieser entstand nicht nur aus dem aufsteigenden Patriotismus und, unter den Verbündeten der USA, der Solidarität mit den „Menschen wie uns“, die Gilbert Achcar das „narzistische Mitgefühl“ nannte. Er war auch darauf zurück zu führen, dass der „Terrorismus“ plötzlich eine greifbare öffentliche Bedrohung darstellte, für die nach technokratischen wie ideologischen Lösungen gesucht werden musste. Die Linke hatte eine vertretbare Analyse (die ungerechte Politik der USA war mitverantwortlich für die Ursachen der Angriffe) und eine vernünftige Lösung anzubieten (wir sollten jede Handlung vermeiden, die diese Ungerechtigkeit verstärken und zukünftige Attacken wahrscheinlicher machen würde). Die einflussreichen Interventionen von Noam Chomsky waren wichtig, um die Linke mit dieser Art von Analyse auszurüsten, die auf zunehmende Zustimmung in der Weltöffentlichkeit stieß, auch wenn sie in den USA selbst nur eine Minderheit überzeugen konnte.
Doch der Diskurs der „Terrorismusbekämpfung“ ist ein gefährliches Terrain für die Linke, ein Terrain auf dem der Staat mit seinen immensen Ressourcen einen entscheidenden Vorteil hat. „Terrorismusbekämpfung“ hat die Tendenz, sich mit „Aufstandsbekämpfung“ zu überlappen, mit gefährlichen Konsequenzen für linke Bewegungen. Und die Rechte bot eine „visionäre“, moralistische Antwort auf 9/11 als Kontrapunkt zur vorsichtigen, pragmatischen Reaktion der Linken an. Von der Annahme der moralischen Überlegenheit der „westlichen Zivilisation“ ausgehend behauptete sie – mit einer gewissen oberflächlichen Plausibilität – dass es um die Selbstverteidigung der freien und demokratischen Länder gegen gewalttätige, „totalitäre“ Bewegungen ginge. Die Rechte hatte ihre Verbündeten in der Regierung und beträchtlichen Raum in den mit ihnen sympathisierenden Medien, um ihr Argument auszubreiten. Die Dynamik lag also zu Beginn bei der Rechten, die erfolgreich die öffentliche Zustimmung zu ihren Zielen organisieren konnte. Anti-Kriegs-Bewegungen, die als Reaktion auf die Invasion in Afghanistan entstanden, waren zunächst klein und konnten ohne großen Aufwand marginalisiert und unter Illoyalitätsverdacht gestellt werden.

Die Intensivierung der Überwachung und Repression nach dem 11. September stellte zwar keinen grundlegenden Bruch mit früheren Normen dar – der USA PATRIOT Act (ein Akronym für „uniting and strengthening America by providing appropriate tools required to intercept and obstruct terrorism“) legalisierte einfach Formen der Überwachung, die schon lange eingesetzt wurden – sie wirkte aber beschleunigend. Die Anforderungen für Ermittlungen gegen Gruppen wurden gesenkt, das FBI konnte weitaus einfacher Durchsuchungsbefehle erhalten und die Definition von „Terrorismus“ wurde so ausgeweitet, dass jeder Mensch, der ein Gesetz bricht um auf politische Prozesse oder die öffentliche Meinung einzuwirken, als TerroristIn verfolgt werden konnte. Nachdem die Ermittlungen der Bundespolizei gegen politische AktivistInnen und Anti-Kriegs-Gruppen eine lange Geschichte haben – von der Zerschlagung der sozialistischen und ArbeiterInnenbewegungen 1919 bis zu den illegalen Ermittlungen gegen die El Salvador-Solidaritätsgruppe CISPES in den 1980ern – wussten jene, die das Gesetz ausarbeiteten, dass sie damit eine intensivierte politische Repression autorisierten. Dies sollte sich bald bewahrheiten, als Anti-Kriegs-Gruppen wiederholt ins Visier des FBI gerieten.
Auch die Gewerkschaften zogen gegen den neuen Sicherheitsstaat den Kürzeren. Z.B. untersagte die Regierung einen Streik der MechanikerInnen von United Airline im Dezember 2001 mit der Begründung, dieser würde die Luftsicherheit gefährden. In einem ähnlichen Fall wurde im Januar 2002 der nationale Ausnahmezustand ausgerufen, um einen Streik von HafenarbeiterInnen durch eine gerichtliche Verfügung stoppen zu lassen. Insgesamt setzte die Regierung einen robusten Kurs gegen ArbeiterInnen durch und beschränkte ArbeiterInnenrechte in mehreren Bereichen – Arbeitsplatzssicherheit, Überstundenregelungen und Gewerkschaftsrechte für Bundesangestellte. Es war kein so massiver Schlag gegen die ArbeiterInnenbewegung wie jener unter Reagan, aber die Organisierungsdichte nahm ab, und die Kombination aus einer Rezession und den Angriffen der Bush-Regierung nach 9/11 kehrte den kurzen Aufschwung der späten 1990er Jahre in ihr Gegenteil um. Ein Resultat war, dass die Reallöhne im folgenden Jahrzehnt langsamer anstiegen als während der Großen Depression. Dazu verschob die Regierung in den Jahren 2001 bis 2003 die Steuerlast weiter von den Reichen auf ArbeiterInnenhaushalte. Vor dem 11. September musste Bush gegen den Kongress regieren und eine teure PR-Kampagne fahren, um öffentliche Zustimmung zu seinen Steuersenkungen zu organisieren. Danach war er in einer sicheren Position; nachdem die Republikanische Partei in den Kongresswahlen 2002 eine klare Mehrheit erringen konnte, senkte er weiter Steuern auf hohe und mittlere Einkommen, Investitionen, Kapitalgewinne und Dividenden, und feuerte sogar Paul O’Neill, nachdem dieser sich einer Gruppe von 450 WirtschaftswissenschafterInnen angeschlossen hatte, die sich gegen die Steuerpolitik aussprachen.

Krise und Niedergang
Global bedeutete der „Krieg gegen den Terror“ einen herben Rückschlag anti-systemischer Bewegungen, die sich in den späten 1990er Jahren entwickelt hatten. Den sich bis dahin stetig ausweitenden Protesten wurde sofort der Schwung genommen. Als im November 2001 die Gespräche der WTO in Doha scheiterten, lag das eher an den bestehenden Spannungen zwischen den USA und der EU als an antikapitalistischer Militanz. Trotzdem war die weltweite Mobilisierung gegen die Invasion des Irak die größte derartige Bewegung in der Geschichte. Sie speiste sich auch aus der Ablehnung der US-Dominanz, die sich zumindest versteckt – und nicht selten ganz offen – in den Aufständen der Zapatistas, in den bolivischen Wasserkriegen und in den Protesten gegen die WTO zeigte. Am 15. Februar 2003 gingen alleine in New York 400.000 AktivistInnen gegen den Krieg auf die Straße. Am selben Tag demonstrierten mindestens 150.000 in San Francisco, und Zehntausende in Hollywood, Colorado Springs und Seattle. Insgesamt protestierten 50 Millionen Menschen weltweit. Das gewaltige Ausmaß dessen, was im Irak geplant war, machte fast den ideologischen Vorteil, den die US-Regierung genoss, zunichte. Aber selbst eine derart große Opposition wäre beherrschbar gewesen, wenn die Invasion und Besatzung des Irak wie im „Spaziergang“-Szenario der offiziellen Propaganda abgelaufen wäre. Tatsächlich flachten die Proteste nach dem Beginn der Invasion ab und die US-Regierung wurde in den ersten Monaten der Besatzung vorübergehend gestärkt. Bush gewann 2004 die Präsidentschaftswahl gegen den unaufregenden demokratische Kriegsbefürworter John Kerry mit einer Mehrheit der WählerInnenstimmen, inklusive einer Mehrheit der weißen ArbeiterInnen, die zur Wahl gingen. Und das trotz einer Serie von durch die Besatzung ausgelösten Krisen, wie die Enthüllung der Folter in Abu Ghraib, und der massenhaften Opposition, die sich bei der 800.000 Menschen starken Demonstration bei der Nationalversammlung der Republikaner zeigte. Die Unterstützung bei der Wahl gab Bush das Selbstvertrauen, sich für einen neuen Angriff auf die ArbeiterInnenklasse stark zu machen – die versuchte Privatisierung der Sozialversicherung. Aber schon damals waren die Anfänge der Krise offensichtlich.

Unter den fragmentierten nationalistischen und islamistischen Gruppen im Irak keimte seit dem Beginn der Besatzung Widerstand auf. Dieser brach 2004 richtig los und steigerte sich 2006 auf ein verheerendes Niveau. Zwischen 2004 und 2006 stiegen die Angriffe auf Koalitionstruppen und deren Verbündeten von weniger als 400 auf über 800 pro Woche. Indem er den Besatzern die Kontrolle über den Irak verweigerten, trug der Widerstand zu einer ernsthafter politische Krise der Bush-Administration bei. Die öffentlichen Zustimmungswerte zum Krieg brachen Mitte 2005 ein, wobei eine Mehrheit der Meinung war, der Konflikt hätte nie begonnen werden dürfen. Zwar hatten an einem strategisch wichtigen Punkt plötzlich auftauchende Brüche innerhalb der Anti-Kriegs-Bewegung Bush fast davon kommen lassen, aber das Ansehen der Regierung wurde durch ihre Antwort auf den Hurrikan Katrina, der im Sommer 2005 Louisiana verwüstete, zerstört. Die fehlende Vorbereitung von Rettungsmaßnahmen, vorenthaltene Hilfsleistungen und schließlich die Durchsetzung einer militärischen Lösung für das Desaster führte zu einer tiefen ideologischen Krise der republikanischen Rechten. Die Aufmerksamkeit lag daraufhin auf der Unterdrückung von Afro-AmerikanerInnen und die bis dahin ignorierte Klassenfrage. In beiden Punkten waren die Republikaner im Nachteil. Die Regierung diente weiterhin einer begrenzten Bandbreite kapitalistischer Klasseninteressen, denen sie sich verbunden fühlte, konnte aber nicht länger öffentliche Unterstützung organisieren.

In diesem Kontext erlebten auch soziale Bewegungen einen leichten Aufschwung. Gewerkschaften behinderten durch erfolgreiches Lobbying Bushs Privatisierungspläne der Sozialversicherung, bis die Regierung, unter offener Ablehnung der Demokraten und einigem republikanischen Unbehagen, den Plan fallen ließ. Die Renaissance der Bewegungen zeigte sich in den riesigen Demonstrationen für ImmigrantInnenrechte im Mai 2006. Diese stellten einen hoch politisierten Generalstreik der verwundbarsten ArbeiterInnen der USA dar. Sie legten ganze Industrien still und zeigten Bereiche auf, in denen ArbeiterInnen potentiell Macht hatten. Später im selben Jahr übernahmen die Demokraten die Kontrolle über den Kongress und der „Über-Falke“ Rumsfeld sah sich gezwungen, zurück zu treten. Er überließ es einer gebrochenen Regierung, zur Niederlage bei der Wahl 2008 weiter zu humpeln.

Obama Nation
Als die Bush-Administration in ihre endgültige Krise geriet, warf das Kapital seine Ressourcen entschieden hinter die Demokraten und besonders hinter Barack Obama. Obamas größte Spende kam von der Wall-Street, und seine Dienste für die Finanzwirtschaft in Form der riesigen Bankenrettungen überwogen die mickrigen Reformen, die er seiner Basis bot, bei weitem. Obama hätte die Präsidentschaftswahl 2008 jedoch nicht gewinnen können (mit fast 70 Millionen Stimmen), wenn er nicht einige öffentliche Forderungen aufgenommen hätte. Die Operationsweise der Demokraten kann vielleicht in gramscianischen Begriffen als „Transformismus“ charakterisiert werden. Das bedeutet, dass populäre Hoffnungen und Forderungen aufgenommen werden, deren spezifisch widerständiger und klassenantagonistischer Inhalt neutralisiert wird und sie in der Form der Politik der pro-kapitalistischen Mitte neu artikuliert werden. Obama versprach den ArbeiterInnen, Gewerkschaftsrechte mit dem Employment Free Choice Act zu unterstützen, den Irakkrieg zu beenden und das Gesundheitssystem durch die Einführung eines staatlichen Versicherungsmodels zu reformieren, das mit privaten konkurrieren kann und dadurch die Preise fallen lässt. Der herrschenden Klasse versprach er, die Banken zu stützen, die Wirtschaftskrise einzudämmen, einen würdigen Rückzug aus dem Irak zu organisieren, in Afghanistan zu bleiben und die US-Vormacht global wiederherzustellen. Als Konsequenz gab es 2008 eine zweigleisige Mobilisierung für Obama, mit dem höchsten Anteil an Wahlstimmen unter den sehr Reichen und der ArbeiterInnenklasse.
Der „Krieg gegen den Terror“ war, wie gesagt, vorbei sobald die Republikaner 2008 unterlegen waren. Aber die politischen Kräfte, die er entfesselt hatte, legten teilweise die Grundlage für eine sehr traditionelle, reaktionäre Bewegung der Rechten in Form der Tea-Party. Wie ihre Vorgänger nach dem ersten Weltkrieg und während des kalten Kriegs ist diese Bewegung weiß, männlich und wohlhabender als der Durchschnitt der restlichen Bevölkerung. Sie erfreut sich einiger Unterstützung durch das Kapital und drückt ihren Anti-Sozialismus in einer nationalistischen und rassistischen Sprache aus. Sie unterscheidet sich von ihren Vorgängern darin, dass ihr die Unterstützung durch den Staat fehlt – was den traditionellen Antikommunismus für viele seiner GegnerInnen so tödlich machte – und dass ihrem globalen Narrativ, in dem Obamas angebliche koloniale Identität (als Kenianer oder heimlicher Muslim) im Zentrum steht, die oberflächliche Plausibilität fehlt, die die kommunistische Gefahr in der Hysterie des kalten Kriegs besaß.
Allerdings bedient sich die Tea Party der islamophoben und nationalistischen Ideologie, die während des „Kriegs gegen den Terror“ – speziell während der erbärmlichn republikanischen Präsidentschaftskampagne 2008 – kultiviert wurde. Das erlaubte es ihr, ihre Ablehnung der Gesundheitsreform und anderer Einschränkungen privater Eigentumsrechte als Teil eines authentischen Amerikanismus zu präsentieren, der die USA gegen kulturelle Degeneration und Verfall schützt. Dadurch wurde es möglich, dass die Tea-Party-AnhängerInnen eine bedeutende Minderheit der Bevölkerung hinter ihrer rechts-außen Agenda mobilisieren konnten – eine Mobilisierung die verbunden mit der Demoralisierung der WählerInnen Obamas ausreichte, den Republikanern einen Vorteil bei den Wahlstimmen zu verschaffen.
Tatsächlich war ein Anstieg von Islamophobie und Nationalismus in allen Staaten wahrnehmbar, die am „Krieg gegen den Terror“ teilnahmen – mit verheerenden politischen Folgen. Während die Anti-Kriegs-Stimmung einen potentiell demokratisch-radikalisierende Effekt hatte, zog der antimuslimische Rassismus viele ArbeiterInnen nach rechts. Dies zeigte sich deutlich anhand des Niedergangs der radikalen Linken in Europa in der zweiten Hälfte der letzten Dekade, in der Krise der antikapitalistischen Bewegungen und dem gleichzeitigen Aufstieg der extremen Rechten.

Im Jahr 2011 eröffnen sich jedoch neue Möglichkeiten. Der militante, offen ausgetragene Klassenkampf gegen den Gouverneur von Wisconsin, Scott Walker – ein Apostel der Tea Party – fiel mit den elektrisierenden Revolutionen in Nordafrika und den Protestwellen im ganzen Nahen Osten zusammen. Während letztere die amerikanische Kontrolle über die Region gefährden, droht ersterer sich in den USA auszubreiten und einen linken Kontrapunkt gegen das Sparprogram zu setzen, das in Washington und anderen Hauptstädten der Bundesstaaten durchgedrückt wird. Das ist ein Problem für die Neokonservativen, die AnhängerInnen Sarah Palins und der Tea-Party. Sie hätten nichts lieber als einen großangelegten Krieg gegen Amerikas Feinde, um ihre Basis aufzustacheln und eine Antwort der Rechten auf die tiefe, organische Krise des Kapitalismus zu koordinieren. Während aber die Kriege weiter gehen – Obamas Angriffe auf Afghanistan und die niederschwellige Intervention in Libyen sind treffende Beispiele – könnte so etwas wie der Krieg gegen Terror heute nicht wiederholt werden.

Der Artikel ist erstmals im Overland magazine erschienen. Übersetzung aus dem Englischen von Benjamin Opratko und Philipp Probst.

Richard Seymour ist Journalist, Autor und Aktivist in London. Er bloggt regelmößig auf Lenin’s Tomb.





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