Im gewaltigen Chaos des Irak scheint sich das Horrorszenario eines Bürgerkriegs immer deutlicher abzuzeichnen. Bilder von brennenden schiitischen Moscheen und gemeuchelten sunnitischen Bauernfamilien werden von den Besatzungsmächten benutzt, um einen Rückzug in die fernste Zukunft zu verlegen – man habe schließlich einen Bürgerkrieg zu verhindern. Die Autorin Haifa Zangana und der Sozialwissenschafter Sami Ramadani, beide Flüchtlinge des Regimes Saddam Husseins und vertraut mit den jüngsten Ereignissen in ihrer Heimat, beantworten Fragen zu religiöser Gewalt und der Möglichkeit eines Bürgerkriegs im Irak.
Ich würde gerne mit der Frage der Gewalt zwischen schiitischen und sunnitischen MuslimInnen beginnen. Wie seht ihr dieses Problem?
Haifa Zangana: Diese Identifikation von Menschen, je nachdem ob sie SunnitInnen oder SchiitInnen sind, ist etwas, das es zu Beginn der 1980er Jahre nicht gegeben hat. Es existierte nicht in der Gesellschaft, nicht im Journalismus, nicht in der Geschichtsschreibung oder in der Literatur. Es wäre sehr schwierig, ein Fachbuch zu finden, das sich mit IrakerInnen beschäftigt, indem es sie in religiöse „Sekten“ einteilt.
Oft treffen wir auf die Vorstellung, dass früher SunnitInnen die Regierung dominierten. Würdet ihr sagen, dass das ein falsches Bild ist?
HZ: Ich denke, es ist völlig künstlich; wenn wir das auf Großbritannien übertragen und nach dem Hintergrund einzelner Personen forschen würden – ist er Protestant, Katholik, Anglikaner – würden wir auf bestimmte Muster der Machtverteilung stoßen, die bequem von einem selektiven Prozess aufgegriffen werden könnten.
Wenn man sich 52 Spielkarten ansieht, auf denen die Ba’ath-Führer abgebildet sind, die von den USA gleich nach dem Fall von Bagdad gesucht wurden, findet man heraus, dass 38 dieser 52 Führer Schiiten sind. Also, wer hat den Irak beherrscht? Ich denke, dass diese Idee komplett an den Haaren herbei gezogen ist, sie wurde bewusst produziert und kann auf die Zeit zu Beginn der 1980er zurück geführt werden, der Zeit des Iran-Irak-Kriegs
Sami Ramadani: Auf kommunaler Ebene, auf der Straße, gibt es keine scharfen Trennungen zwischen den Menschen. Die Leute gehen nicht los und töten andere, weil sie auf der falschen Seite der religiösen oder gar nationalen Teilung stehen. Die Kriege gegen die kurdische Bevölkerung, zum Beispiel, waren keine kommunalen Kriege, in denen hunderttausende AraberInnen die KurdInnen bekämpft haben, sondern der Akt eines repressiven Staats, der einen chauvinistischen Krieg gegen das kurdische Volk führte; es war der Staat gegen das Volk. Fortschrittliche AraberInnen aus dem Süden flohen damals nach Kurdistan, das ein sicheres Gebiet war, um den Kampf gegen das Regime zu führen. Am Höhepunkt der Kriege etwa flohen tausende Soldaten zu den kurdischen Kräften.
Saddams Regime hatte natürlich religös-sektiererische Dimensionen, besonders nach dem Aufstand von 1991, dessen Zentrum sich im Süden befand, und nachdem der Großteil des Südens schiitisch ist, schien die Kampagne (des irakischen Regimes gegen die Aufständischen, A.d.Ü.) sich gegen die Shia zu richten. Irak ist keine Apartheid-Gesellschaft und war auch nie eine. Saddams Regime beruhte auf sozialen Schichten und Sicherheitskräften verschiedener religiöser und nationaler Zugehörigkeit. Saddams Regime hätte den Süden oder Kurdistan nicht beherrschen können, ohne dass Menschen aus dem Süden und aus Kurdistan mitgemacht hätten. Es gab also eine soziale Basis – eine schmale soziale Basis natürlich – die dieses Modell unterstützt hat, aber es war eine soziale Basis, die sich aus allen Konfessionen, Religionen und Nationalitäten zusammengesetzt hat.
Die Stadt Falluja ist ein gutes Beispiel. Sie war eine starke Bastion der Anti-Saddam-Bewegung, denn im Jahr 1996 gab es einen Putschversuch, den Saddam auf Leute in Falluja zurückführte, und 1998 befahl er den Imamen der Moscheen in Falluja, ihn zu verherrlichen und für ihn zu beten. Sie weigerten sich, und er begann die EinwohnerInnen Fallujas zu bestrafen. Und bis heute ist Ba’ath in Falluja sehr schwach – das ist der Grund dafür, dass der Widerstand dort vor allem von religiösen Kräften angeführt wird. Der wichtige Punkt ist, dass Saddam jede Quelle der Opposition zerschlagen hat, ohne Rücksicht auf Sekten, Religion oder Nationalität.
Denkt ihr, dass die Besatzungsmächte versucht haben, religiös-sektiererische Spaltungen zu produzieren, und wenn ja, wie haben sie das getan?
SR: Allgemein gesprochen haben sie das bereits vor der Besatzung gefördert, indem sie mit irakischen Oppositionskräften bei Vor-Kriegs-Konferenzen in London und anderswo immer stärker auf Basis von „wer ist Kurde“, „wer ist Araber“, „wer ist Schiit“, „wer ist Sunnit“, „wer ist Turkmene“, „wer ist Christ“ und so weiter umgegangen sind. Und sie haben bewusst versucht, das zu fördern – das war recht offensichtlich. Nach der Besatzung haben sie das weitergeführt, in noch größerem Ausmaß. Jede Institution, bei deren Aufbau sie ihre Hand im Spiel hatten, musste nach religiös-sektiererischen Kriterien aufgeteilt werden. Sogar die Armeeeinheiten hätten auf dieser Basis entstehen sollen. Paul Bremer’s Irakischer Regierungsrat1 ist ein gutes Beispiel dafür, wie sie IrakerInnen spalten wollten.
Eine so genannte „Balance“ zwischen den verschiedenen Communities beinhaltet im Prinzip sehr strenge religiöse und ethnische Spaltungen, bis hinab zu Treffen und Komitees auf den niedrigsten Ebenen. All das ist den Jahrhunderte alten Traditionen des Landes völlig fremd.
HZ: Der „Hohe Rat für die Islamische Revolution im Irak“, SCIRI, repräsentiert zum Beispiel eine bestimmte Klasse von SchiitInnen. Muqtada al-Sadr repräsentiert eine andere Klasse – die Ärmsten der Armen. SCIRI steht mehr oder weniger für die Mittelklasse und die Menschen, die die heiligen Stätten überwachen. Ich sehe es mehr als einen Klassenkampf als etwas anderes, schließlich ist es eine Religion, der Islam. Es gibt kaum Unterschiede, was die Schriften betrifft – was wichtig ist, ist wer was kontrolliert. Es handelt sich um politische Parteien, die diese oder jene religiöse Gruppe benutzen. Diese auf religiösem Sektierertum basierenden Parteien sind etwas Neues.
Wenn man ihre ganzen Programme liest, sind sie letztlich alle gleich, sie kümmern sich sehr um das irakische Volk, nationale Einigkeit, sind gegen religiöses Sektierertum und so weiter. Leute aus dem Irak erzählen uns, dass das Innenministerium in drei Stockwerke unterteilt ist – jedes Stockwerk gehört einer politischen Partei, und sie sprechen nicht miteinander. Vor kurzem wurde entdeckt, dass 167 IrakerInnen im Gebäude des Ministeriums gefangen gehalten wurden, und jede politische Partei beschuldigt die andere, weil sie nicht einmal wissen, wer verhaftet und wer foltert. Diese Entwicklung betrifft nicht nur die Verhaftungen und die Milizen, sondern auch die Vergabe von Arbeitsplätzen. Um etwa einen Job im Verteidigungsministerium zu bekommen, oder im Sozialministerium, oder in irgend einem anderen Ministerium, musst du den Kriterien des Ministers entsprechen – je nachdem, welche Partei er repräsentiert. Wenn er in der PUK (Patriotische Union Kurdistans) ist, musst du auch PUK-Mitglied sein, sonst kannst du es vergessen. Mit deinen Qualifikationen hat das nichts zu tun.
SR: Es existiert ein gewisser Grad an Toleranz in der irakischen Gesellschaft, der das Existieren verschiedener religiöser Gruppen, Religionen und Nationalitäten erlaubte. Das hat sich sozial in gemischten Familien und gemischten Nachbarschaften ausgedrückt. So leben etwa mehr KurdInnen in Bagdad als in irgendeiner Stadt in Kurdistan. Es gibt schiitische Communities überall im Irak. Ein Viertel der Bevölkerung Basras ist sunnitisch. Das sind Zeichen für die allgemeine Durchmischung in dem Land, die nun aktiv aufgebrochen wird.
In den Medien heißt es oft, dass viele SchiitInnen die Besatzung unterstützen und viele SunnitInnen sie ablehnen.
SR: Ich würde nicht sagen, dass der Großteil der schiitischen Community die Regierung unterstützt. Ich denke, es gibt offensichtlich schiitische Massenorganisationen wie SCIRI oder die Da’wah-Partei, die Teil der Regierung sind, und die in den südlichen Städten und in Teilen Bagdads stark sind. Aber sie repräsentieren – meiner Einschätzung nach – keinesfalls die Mehrheit der Menschen in diesen Gebieten. Die Sadr-Bewegung, die stark gegen die Regierung und gegen die Besatzung auftritt, ist zum Beispiel sehr beliebt. Muqtada al-Sadr spielt eine sehr komplexe Rolle – während er einerseits eine sehr feindliche Haltung gegenüber der Besatzung und der Politik der Regierung einnimmt, lässt er seine Unterstützer andererseits für die Wahlen kandidieren. Doch seine jüngste Entscheidung, einige seiner Unterstützer der offiziellen Liste der „Irakischen Nationalen Koalition“ beitreten zu lassen, hat unter seinen Leuten große Diskussionen ausgelöst – manche sind komplett dagegen, manche sagen „Wenn wir uns schon den Wahlen stellen, sollten wir es allein machen, oder uns zumindest mit anderen Anti-Besatzungs-Kräften verbinden, die auch an den Wahlen teilnehmen könnten“.
Versuchen die Besatzungskräfte, das Land in mehrere Teile aufzubrechen?
SR: Ich denke nicht, dass sie gekommen sind, um das Land in einen Bürgerkrieg zu stürzen. Sie sind gekommen, um den Irak und sein Erdöl auszubeuten und um das Land in eine strategische Basis im globalen Kontext zu verwandeln. Doch wegen des Ausmaßes an Opposition gegen ihre Anwesenheit und dem raschen Aufschwung des bewaffneten Widerstands im ganzen Irak (mit Ausnahme Kurdistans) wurde aus der Politik, Menschen entlang religiös-sektiererischer und ethnischer Grenzen zu trennen, ein Schema, um Unfrieden und Gewalt zwischen den Communities zu schaffen. Das ist die einzige Möglichkeit einer Kolonialmacht – oder jeder anderen Macht – die eine andere Gesellschaft beherrscht, um mit dieser Situation zu Recht zu kommen, und zwar ganz spontan. Wenn du einen Feind hast, versuchst du ihn zu spalten, und die IrakerInnen haben überwältigend bewiesen, dass sie – in unterschiedlichem Ausmaß – gegen die Besatzung sind. Die Reaktion der BesatzerInnen war, Differenzen auszunutzen, und Organisationen, die religiös-sektiererische Gewalt predigen und ausüben, zu ignorieren oder gar aufzustacheln.
HZ: Wenn du eineN IrakerIn auf der Straße fragst: „Willst du von Schiiten oder Sunniten regiert werden?“, wird die Antwort kommen: „Der Teufel kann uns regieren, solange er erstens ein Iraker ist, uns zweitens Sicherheit bringt, und drittens ermöglicht, dass wir ein mehr oder weniger normales Leben führen können – alles andere ist uns egal“. Sogar als Talabani zum Präsidenten ernannt wurde, hörte ich keineN IrakerIn sagen; „Dieser Talabani ist Kurde, deswegen wollen wir ihn nicht“. Sie können dir eine lange Liste an Gründen geben, warum sie Talabani hassen: Er ist korrupt; er ist verantwortlich für den Tod vieler KurdInnen… Es geht also um Wirtschaft und Politik.
Das ist ein ganz anderes Bild als jenes, das wir von den Medien präsentiert bekommen. Die allgemeine Sicht ist, dass der Irak geteilt ist in die KurdInnen im Norden, den SunnitInnen im „sunnitischen Dreieck“ und den SchiitInnen im Süden. Ist das ein falsches Bild?
SR: Absolut. Aber dieses Bild hat sich leider stark festgesetzt, weil es so oft wiederholt wurde, dass es nun als selbstverständlich gilt. Die Macht der modernen Medien geht so weit, dass dieser Mythos in den Köpfen der Menschen außerhalb des Irak zur Realität wird. Im Irak selbst hat es Einfluss in intellektuellen Kreisen und unter bestimmten politischen Organisationen. Aber bei Menschen von der Straße und in den Communities hat es sich noch nicht durchgesetzt.
Aber mit den Milizen und bewaffneten Banden hat es doch etwas auf sich?
HZ: Es gibt tatsächlich Milizen – jene von Ahmed Chalabi ist etwa noch sehr stark. Es gibt die Badr-Brigaden der SCIRI, die berüchtigt sind – und von denen wir wissen, dass sie im Iran aufgebaut wurden und mit der Partei selbst in den Irak kamen, ohne Verwurzelung in der irakischen Gesellschaft. Dann gibt es die Peshmerga (kurdische Milizen), die von den Besatzungsmächten in Najaf und Falluja benutzt wurden.
Wenn wir von politischen Parteien sprechen, existiert es tatsächlich. Aber wenn wir von den Menschen sprechen, ist das Gegenteil wahr. Als zum Beispiel hunderte Menschen auf der Jisr al-Imma-Brücke in Bagdad zu Tode getrampelt wurden, kamen alle Menschen, um ihnen zu helfen. Während der Belagerung Fallujas spendeten Menschen aus den verschiedensten Teilen des Irak Blut und Lebensmittel. Es gibt also eine feste Einigkeit, und ich denke, dass sie das Herz des Irak darstellt. Aber wie lange wird diese Einigkeit überleben, wenn sie täglich von PolitikerInnen und den Medien angegriffen wird – innerhalb wie außerhalb des Irak?
SR: Natürlich ist es wichtig, die Vergangenheit zu betrachten, obwohl es keinen logischen Grund gibt, dass die historische Kontinuität nicht auch durch die jüngsten Ereignisse gebrochen werden könnte. Es gibt eine echte Gefahr, und je länger die Besatzung andauert, desto gegensätzlicher werden die Spaltungen werden. Die Besatzung ist nicht mehr ein externer Faktor in der irakischen Gesellschaft. Sie befindet sich in der irakischen Gesellschaft. Sie baut Armeetruppen und Sicherheitskräfte auf; sie kolonisiert den Staat; sie arbeitet mit recht gut organisierten politischen Kräften zusammen; sie hat ihre Tentakel in alle Organisationen der Gesellschaft ausgebreitet; sie hat tausende ausländische SöldnerInnen und zehntausende von „geheimen“ Privatarmeen, die das Land überziehen.
Ich denke, man müsste den Slogan von der Gefahr des Bürgerkriegs im Irak umdrehen und sagen, dass je länger die Besatzung andauert, desto wahrscheinlicher ist es, dass dieser Konflikt ausbrechen wird. Je schneller sie sich zurückziehen, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Irak sich wieder in Richtung des relativ starken Zusammenhalts entwickeln wird, der zwischen den verschiedenen Communities existiert hat. Deine Politik war im Irak immer wichtiger als deine Religion oder deine Nationalität.
Das Interview wurde von Anne Ashford für das International Socialism Journal geführt. Das ganze Interview ist auf Englisch abrufbar unter:
http://www.isj.org.uk/index.php4?id=159&issue=109.
Anmerkungen
1 Eine von den Besatzungsmächten eingerichtete und besetzte „Regierung“, die bis zu den Wahlen im Amt war.