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Kräftemessen in Ägypten. Die Revolution zwischen nicht erfüllten Hoffnungen und reaktionärem Backlash
von Ramin Taghian

Die ägyptische Revolution steckt in einer Krise, sie ist weit davon entfernt, das erreicht zu haben wofür sie angetreten ist. Viele der alten Machtverhältnisse wurden im besten Fall verschoben, doch lange nicht umgeworfen. Eine aktuelle Einschätzung1 von Ramin Taghian.

Revolutionäre Kräfte vs. Militär
Nach wie vor ist der Oberste Militärrat die höchste politische Instanz des Landes. Mittlerweile hat sich deutlich gezeigt, dass ein fundamentaler gesellschaftlicher Wandel nicht in dessen Interesse liegt. Dementsprechend hat er vor allem bei jungen RevolutionärInnen stark an Unterstützung verloren. Die Demobilisierung der revolutionären Bewegung nach dem Sturz Hosni Mubaraks Anfang des Jahres und die Hoffnung auf graduelle Veränderungen unter der Aufsicht des „patriotischen und revolutionären“ Militärs wich in den letzten Monaten einem zunehmenden Misstrauen gegenüber dem Obersten Militärrat. Die ehemals breite Front gegen Mubarak ist auseinandergebrochen, und die unterschiedlichen Vorstellungen, wie ein neues Ägypten auszusehen habe, prallen zunehmend direkter aufeinander. Die Ausdifferenzierung von unterschiedlichen politischen und sozialen Interessen schreitet voran und hinterlässt eine brisante gesellschaftliche Situation in Ägypten. Das drückt sich seit Juni in der Wiederaufnahme regelmäßiger Straßenproteste und schließlich seit 8. Juli in der Wiederbesetzung des Tahrir-Platzes aus. Doch anstatt wie im Februar in Sprechchören die Einheit von Armee und Volk zu feiern, wurde auf Demonstrationen zum Sturz des Vorsitzenden des Militärrats, Feldmarschall Tantawi, aufgerufen. Unter Beteiligung vor allem linker und liberaler Organisationen wurde die rasche Umsetzung der zentralen Anliegen der Revolution eingefordert. Denn bei vielen, vor allem jungen, RevolutionärInnen hat sich das Gefühl eingestellt, ihre Revolution sei ihnen gestohlen worden. Die zentralen Forderungen waren daher: eine Beschleunigung des Verfahrens gegen Mubarak, seine Söhne und engen Komplizen; die Entlassung und strafrechtliche Verfolgung von Polizisten, die während der Revolution an der Tötung von DemonstrantInnen beteiligt waren (was vor allem von den Familien der MärtyrerInnen gefordert wird); die Abschaffung von Militärtribunalen und die Freilassung aller seit Februar vom Militär inhaftierten und verurteilten Personen (was mehrere Tausende betrifft). Eine prominente Forderung aus der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung war auch die Durchsetzung eines nationalen Mindestlohns. Linke und radikal-demokratische Kräfte forderten außerdem im Gegensatz zum Militärrat und der Muslimbruderschaft eine Verschiebung der für den frühen Herbst angesagten Parlamentswahlen. Der Grund ist, dass die frühe Abhaltung der Wahlen vor allem den bereits gut organisierten Parteien Vorteile bringt, insbesondere der Muslimbruderschaft. Neue politische Bewegungen und Organisationen, die aus dem revolutionären Prozess entstanden sind, haben hingegen zu wenig Zeit um sich vorzubereiten und einen intensiven Wahlkampf zu führen. Außerdem besagt das neue Parteiengesetz, dass jede Partei die zu Wahlen antritt mindesten 5000 eingeschriebene Mitglieder braucht, sowie in mindestens zwei nationalen Zeitungen Annoncen geschaltet haben muss. Diese Einschränkung verunmöglicht für viele eine tatsächliche Beteiligung, vor allem da die finanziellen Ressourcen kaum vorhanden sind.

Neue Doppelstrategie
Zumindest die erste Forderung, nämlich dass Mubarak vor Gericht gestellt werden soll, wurde mittlerweile erfüllt. Die Bilder von Mubarak, der hinter Gittern dem Richter vorgeführt wird, gingen durch die Welt und stehen, allen Schwierigkeiten und Herausforderungen der revolutionären Bewegung zum Trotz, für ein neues historisches Kapitel in der arabischen Welt. Selbst die am längsten herrschenden „Pharaonen“ müssen damit rechnen, früher oder später für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen zu werden. Bezeichnend ist aber auch, dass die Erfüllung dieser vielfach gestellten Forderung nur einen Tag nach der gewalttätigen Räumung des Tahrir Platzes und der Verhaftung mehrerer DemonstrantInnen am ersten Tag des Ramadan kam.

Dies beweist, dass die aktuellen Herrschenden eine Doppelstrategie fahren: Einerseits versuchen sie, mit aller Kraft die Zügel der Macht nicht aus der Hand zu geben und reagieren sensibel auf jegliche Herausforderung. Andererseits geben sie kleine Zugeständnisse und bringen Bauernopfer, um die Leute zu beschwichtigen und radikale AktivistInnen mit einem Interesse an grundsätzlichen und systemischen Veränderungen zu isolieren.

Risse und Lagerbildungen
Und tatsächlich gerieten die progressiven Teile der Bewegung in den letzten Wochen unter zunehmenden Druck. Dies zeigte sich einerseits am 23. Juli, als eine Demonstration, die in Richtung des Verteidigungsministeriums zog um gegen den Obersten Militärrat und die schleppenden Entwicklungen zu demonstrieren, von Schlägern attackiert wurde. Das Militär schaute dabei zu, wie DemonstrantInnen mit Brandsätzen, Steinen und Messern angegriffen und sogar von Häusern aus beworfen wurden. 300 Menschen wurden verletzt; ein Demonstrant erlag einige Tage später seinen Verletzungen. Diese Ereignisse alarmierten die revolutionäre Bewegung, eine neue Stufe der Eskalation wurde erreicht. Außerdem wurde deutlich, dass zwar viele der AngreiferInnen zu organisierten Schlägertrupps gehörten, es hatte jedoch auch einige lokale AnwohnerInnen an der Attacke teilgenommen. Es ist ein Zeichen für die zunehmenden Risse und die sich verschärfende Lagerbildung in der ägyptischen Bevölkerung. Gleichzeitig erhöht sich der Druck auf die revolutionäre Bewegung auch in der Auseinandersetzung mit islamistischen Kräften. Besonders deutlich wurde dies am 29. Juli, als Salafiten2 und Muslimbrüder Zehntausende auf den Tahrir-Platz und nach Alexandria mobilisierten.

Die Führung der Muslimbruderschaft hatte sich im Jänner erst relativ spät der Revolution angeschlossen. Nach der Revolution ging sie schnell dazu über, dem Obersten Militärrat ihre volle Unterstützung zuzusagen, woran sich bis heute nichts geändert hat. Daher überraschte es nicht, dass sie nur sehr widerwillig oder gar nicht an diversen Mobilisierungen teilnahm, sondern sich auch dezidiert gegen eine radikalere Kritik und die Wiederbesetzung des Tahrir-Platzes aussprach. Es wird immer offensichtlicher, dass zwischen Muslimbruderschaft und Militärführung eine neue Bündnisachse in Ägypten entstanden ist. Als Beispiel kann hier auch die Einigkeit in Bezug auf die Kontinuität neoliberaler Wirtschaftspolitiken genannt werden. So sprach sich die Muslimbruderschaft Anfang Juli für ein staatliches Sparpogramm, dem Beschneiden der öffentlichen Ausgaben und der Privatisierung der staatlichen Medien aus. Gleichzeitig gibt es ein grundsätzliches Bekenntnis zur freien Marktwirtschaft. Damit einher ging auch eine Annäherung zwischen der Muslimbruderschaft und den USA nachdem sich Außenministerin Hillary Clinton für eine Zusammenarbeit beider aussprach und dies von der Muslimbruderschaft positiv aufgenommen wurde.

Diese Positionen, insbesondere das Verhältnis zum Militärrat, verursachen aber nicht nur Konflikte mit den linken und liberalen revolutionären Organisationen, sondern auch innerhalb der Muslimbruderschaft. Hier ziehen sich die Konfliktlinien zwischen Führung und Basis bzw. vor allem der Jugend der Organisation. Viele Mitglieder widersetzten sich bereits mehrmals den Anordnungen der Führung, nahmen aktiv an Protesten teil und forderten eine Demokratisierung der Organisation ein. Neben der Haltung zum Militärrat führte vor allem die Gründung der „Freiheits- und Gerechtigkeitspartei“ durch die Führung der Bruderschaft zu Reibereien. So forderten große Teile der Jugend das Recht ein, anderen Parteien beitreten zu dürfen. Die Konflikte führten mittlerweile zu vielfachen Austritten sowie Ende Juni zur Gründung einer neuen Partei durch jüngere Mitglieder der Muslimbruderschaft.

Die islamistische Bewegung zeigt ihre Muskeln
Einen nachhaltigen Schock erlebte die revolutionäre Bewegung, die in den Wochen zuvor mehrere Demonstrationen und die Besetzung des Tahrir-Platzes organisiert hatte, am 29. Juli. Verschiedene salafitische Strömungen hatten eine Demonstration auf dem Tahrir Platz angekündigt, um die größtenteils säkularen Tahrir-BesetzerInnen zu diskreditieren. Mit ihrer Mobilisierung wollten sie die „islamische Identität“ Ägyptens verteidigen sowie für die Einführung der Scharia demonstrieren. Zwischen den Zeilen konnte man auch die Unterstützung für den Obersten Militärrat heraushören und stark sektiererische Tendenzen vernehmen. In den Tagen vor dem 29. Juli erhöhte sich die Spannung auf Seiten der Tahrir-BesetzerInnen die eine Konfrontation befürchteten. Schließlich kam es zu Gesprächen zwischen Repräsentanten der unterschiedlichen Lager, welche sich auf eine gemeinsame Kundgebung unter dem Motto der „nationalen Einheit“ einigten und kontroverse Forderungen wie die Einführung der Scharia einerseits, und die Kritik am Militär andererseits, aus den Forderungskatalogen strichen.

Dennoch sollte der 29. Juli zu einem Muskelspiel der islamistischen Kräfte, vor allem der Salafiten werden. Mit Bussen wurden aus dem ganzen Land Leute nach Kairo gebracht um an der Demonstration teilzunehmen. Salafitische Satellitensender, Facebook-Seiten und Prediger riefen ihre Anhänger auf, an den Protesten teilzunehmen. Trotz vorheriger Absprachen war die Demonstration eindeutig von den IslamistInnen und deren Sprüchen geprägt. Die Rufe nach einem islamischen Staat und der Implementierung der Scharia dominierten das Geschehen und richteten sich dezidiert gegen die säkularen revolutionären Kräfte. Der Schock über die Ereignisse saß bei vielen RevolutionärInnen tief. Noch am selben Tag erklärten 33 politische Gruppen der Liberalen und Linken ihren Rückzug vom Tahrir-Platz und kritisierten die islamistischen Gruppen für das Nichteinhalten vorher beschlossener Richtlinien bezüglich eines gemeinsamen Protests.

Reaktion und Verunsicherung
Diese Erfahrung trägt aktuell zur Verunsicherung von Teilen der revolutionären Bewegung bei. Einen Tag nach der islamistischen Mobilisierung zum Tahrir-Platz, gaben zahlreiche Organisationen bekannt, die Besetzung des Platzes während des Ramadan auszusetzen. Wiederum einen Tag später wurden, wie schon erwähnt, die restlichen DemonstrantInnen, inklusive einer großen Zahl von Familien der MärtyrerInnen, vom Militär gewaltsam und unter Einsatz von Panzern geräumt.

Für die salafitische Bewegung war es ein Signal an die Öffentlichkeit, dass man mit ihnen als politischem Faktor zu rechnen hat. Bisher jedoch war diese Bewegung nicht einheitlich organisiert und in sich relativ heterogen. Während einige Strömungen eher konservativ predigend auftreten, gibt es andere, die zunehmend politische Ambitionen äußern, wie zum Beispiel die Gründung der salafitischen al-Nour Partei („das Licht“) zeigt.

Aktivität der sozialen Bewegungen
Trotz der angespannten Lage und der relativen Rückschläge der progressiven Kräfte der Revolution machen die weiterhin starken sozialen Bewegungen in Ägypten Hoffnung. So legten Ende Juli ArbeiterInnen von 20 Betrieben einer „Free Economic Zone“ nahe der am Suez Kanal gelegenen Stadt Ismailiyya ihre Arbeit nieder, um für höhere Löhne zu streiken. Die Forderungen inkludierten die Implementierung eines Mindestlohns von 1200 ägyptischen Pfund (ca. € 140,-), eine volle Gesundheitsversicherung, und bessere Arbeitsbedingungen.
Gleichzeitig fanden Arbeitskämpfe in zahlreichen anderen Betrieben statt. Erst vor wenigen Wochen gingen die EisenbahnarbeiterInnen in den Streik. Das Personal am Kairoer Flughafen konnte nach einem entschlossenen Streik und der Blockade der Hauptzufahrtsstrasse zum Flughafen unter anderem bewirken, dass zum ersten Mal seit 50 Jahren anstatt einem Militärangehörigen eine zivile Person zum Manager bestellt wurde. Dieser Sieg wird von der Gründung zahlreicher unabhängiger Gewerkschaften in unterschiedlichen Branchen begleitet. Erst in den letzten Tagen kam es auch unter EisenbahnerInnen zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften. Laut einer kürzlich erschienen Statistik gab es seit Jänner mittlerweile 956 Aktionen (Streiks, Sit-ins, Demonstrationen) von ArbeiterInnen. Diese Trend wird sich, wenn auch sicherlich nicht linear, weiter fortsetzen. Schon jetzt haben LehrerInnen in Oberägypten einen Streik mit der Forderung nach einem Mindestlohn für Anfang des Schuljahres angedroht.

Als Zwischenresümee lässt sich festhalten: Nach der Revolution ist – nicht ganz – vor der Revolution. Große Teile der ägyptischen Gesellschaft sind nach wie vor aktiviert. Zahlreiche Initiativen und Organisationen sind entstanden und organisieren zuvor unorganisierte Menschen. Trotz der harten Reaktion gegenüber der revolutionären Bewegung, wurden dennoch einige Zugeständnisse gemacht. Der provisorische Premierminister Essam Sharaf sah sich gezwungen, die Säuberung des Polizeiapparates anzukündigen wie auch eine Umbesetzung des Innenministeriums durchzuführen. Die prominente Forderung nach einem nationalen Mindestlohn musste ebenfalls aufgegriffen werden, auch wenn anstatt der 1200 Pfund nur 700 zugesagt wurden. Die Bilder von Mubarak hinter Gittern zeigen nicht nur den anderen Ländern des Mittleren Osten die Möglichkeit auf, Diktatoren zu stürzen. Auch in Ägypten selbst könnten sie der revolutionären Bewegung neuen Mut und Enthusiasmus geben, um auch die anderen Überreste des alten Regimes weiter zu bekämpfen, um diese bald neben Mubarak in einer Zelle sitzen zu sehen.

Eine Revolution ist kein linearer Prozess sondern geprägt von vielen Brüchen, Auf- und Abschwüngen. Nachdem der Frühling eine relative Demobilisierung zeigte, waren die ersten Sommermonate von einem Aufschwung der revolutionären Kämpfe geprägt und es wurde über eine „zweite Revolution“ geredet. Ob die aktuellen relativen Rückschläge einer „dritten Revolution“ weichen werden, wird sich in den nächsten Monaten und vor allem im Kontext der kommenden Wahlen im Herbst zeigen.

Anmerkungen
Das Foto stammt von http://www.arabawy.org/photos/

1 Für eine frühere, ausführlichere Einschätzung der ägyptischen Revolution siehe http://www.perspektiven-online.at/2011/02/27/the-revolution-was-televised-2/

2 Die Salafiyya (Salafismus) ist eine konservative Strömung des Islam und ideologisch dem saudi-arabischen Wahabismus nahe. Die Salafiyya nimmt sich die ursprüngliche islamische Gemeinschaft zu Zeiten des Propheten Mohammed zum Vorbild und vertritt eine relativ wortgetreue Auslegung des Koran. In diesem Sinne müsste die Umma (die Gemeinschaft aller MuslimInnen), um aus der Krise der islamischen Gesellschaft herauszukommen, eine Rückkehr zu den ursprünglichen Werten und Praxen des Islams anstreben und eine islamische “Renaissance” einleiten.
Nichtsdestotrotz ist eine Verallgemeinerung der salafitischen Bewegung schwierig, da es keine tatsächlich einheitliche Bewegung darstellt, sondern sich an verschiedenen Predigern orientiert. So findet man eher apolitische Strömungen, welche eine Abkehr von der verwestlichten und dekadenten Gesellschaft anpeilen und sich auf religiöse Predigt konzentrieren wollen. Andere wiederum agieren dezidiert politisch, bauen Organisationen und Parteien auf und partizipieren am öffentlichen Diskurs zur Veränderung der Gesellschaft.
Historisch muss die Salafiyya als “moderne” Erscheinung im Kontext und als Antwort auf die Auseinandersetzungen mit Kolonialismus und den Auswirkungen des Kapitalismus auf die jeweiligen Gesellschaften analysiert werden und nicht, wie oft in Medien dargestellt, als traditionalistischer oder “mittelalterlicher” Überrest des Islam.





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