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Die Angst vor dem biblischen Exodus – FRONTEX und die EU-Abschottungspolitik
von Stephanie Deimel, Julia Hofmann

Im Zuge der Konflikte in Nordafrika steigt der Flüchtlingsandrang nach Europa. Auf der italienischen Insel Lampedusa sind erst Anfang Juli wieder mehr als 1000 Bootsflüchtlinge angekommen. Da die Zunahme von (irregulärer) Migration der EU ein Dorn im Auge ist, hat sie eigens dafür eine Agentur namens FRONTEX eingerichtet. Diese soll dabei helfen die Migration nach Europa zu stoppen und MigrantInnen wieder zurückzuschicken. Welche Befugnisse FRONTEX genau hat, welche konkreten Operationen die Agentur derzeit durchführt und was gegen die Verschärfungen im Asyl- und Migrationsbereich getan werden kann, besprach Julia Hofmann mit Stephanie Deimel

Seit den erschreckenden Bildern aus den Aufnahmelagern in Griechenland und der Ankunft von tausenden Bootsflüchtlingen aus Nordafrika ist FRONTEX ja wieder in aller Munde. Welche Operationen führt die Agentur aktuell durch? 

Die aktuellste auf der Homepage1 von FRONTEX zu findende gemeinsame Grenzschutzoperation (JO) ist Poseidon, also die Nachfolgeoperation des RABIT-Einsatzes am Ebros. Poseidon wird als Operation gegen Schmuggler verkauft. IIkka Laitinen, der FRONTEX Executive Director, argumentiert, dass Poseidon dem Schutz der MigrantInnen dient und dass es die zentrale Aufgabe der Operation ist den Schutz der Menschenrechte zu gewährleisten – ein für FRONTEX typisches Argumentationsmuster. MigrantInnen sind innerhalb dieser Logik also gleichzeitig TäterInnen und Opfer krimineller Prozesse. Opfer der Machenschaften von Schmugglerbanden und TäterInnen, weil sie ja illegal ins Land kommen und dementsprechend auch zurückgeschickt werden müssen. 

Welche anderen zentralen Einsätze gab es in den letzten Jahren noch? 

Sehr, sehr viele, aber zwei sind besonders hervorzuheben. Einerseits Hera, eine Erfolgsoperation sowie andererseits Nautilus, eine gescheiterte JO. Hera läuft seit fünf Jahren auf den Kanaren und ist mittlerweile permanent. Das heißt, es gibt täglich Einsätze in diesem Gebiet. Gehostet wird die Operation von Spanien. Das Land hat zahlreiche bilaterale Abkommen mit den Kapverden, Senegal und Mauretanien abgeschlossen, die die gemeinsamen Patrouillen mit dem Grenzschutzpersonal der beteiligten Staaten in deren Hoheitsgewässern möglich machen. Dabei handelt es sich vor allem um Rückübernahmeabkommen und Patrouilleabkommen. Hera ist deswegen so eine Erfolgsoperation, weil die Zahl der auf den Kanaren ankommenden MigrantInnen durch die starke Überwachung, Kontrolle und das Umleiten von Flüchtlingsbooten (ohne Einzelfallprüfung) massiv zurückgegangen ist.
Nautilus ist demgegenüber das klassische Beispiel einer gescheiterten FRONTEX-JO. An der Operation waren nämlich Italien und Libyen beteiligt. Gescheitert ist sie daran, dass Italien nicht die passenden Abkommen mit Libyen abschließen konnte. Es gab zwar Rückübernahmeabkommen, aber die wurden von libyscher Seite nicht ernst genommen. Ein Abkommen allein heißt nicht, dass es funktionsfähig ist. Patrouilleabkommen gab es gar nicht. Während Nautilus, die von 2006 bis 2009 im zentralen Mittelmeer stattfand, kam es daher zu einer massiven Zunahme der Migration in die EU, da es keine Rückeskortierungen gab und dies MigrantInnen zusätzlich zur Überfahrt motivierte. Das heißt, Italien musste MigrantInnen ankommen lassen, weil Libyen nicht tolerierte, dass europäische Boote in libyschen Hoheitsgewässern operieren. 

Welche Rolle spielen Länder wie Libyen genau? Wie ist deren Verhältnis zu ihrer Migration bzw. zu den europäischen Staaten? Hat sich hier etwas seit den Revolten in Nordafrika verändert? 

Gaddafi hat sich von der EU kaufen lassen. Von Italien wurden 1,5 Milliarden Euro gefordert und zusätzlich von der Europäischen Union 50 Millionen Euro. Beim letzten EU-Afrika Gipfel im vergangenen Herbst hat Gaddafi weitere 1,5 Milliarden von der EU gefordert. Das war immer seine Strategie. Für viele Drittstaaten ist Grenzschutz ein wichtiges politisches Druckmittel geworden. Gerade Länder in relevanten geographischen Lagen, sprich in EU-Nähe, erlangen so eine bessere Verhandlungsposition. Sie setzen auf die Migrationskarte um Geld, Visumserleichterungen oder Entwicklungsgelder im Gegenzug zu ihrer Kooperation bei der Migrationssteuerung fordern zu können.
Gerade im Zuge der Umbrüche in Nordafrika ist das natürlich extrem problematisch. Aus Libyen finden derzeit sogar Zwangsdeportationen nach Italien statt. Die libysche Polizei geht in der Nacht in Wohnviertel von MigrantInnen und GastarbeiterInnen, setzt diese in Schiffe und schafft sie nach Lampedusa. Gaddafi hat immer gesagt, er überschwemmt Europa mit subsaharischen MigrantInnen. Je aussichtsloser seine Lage wird, desto mehr setzt er auf dieses Druckmittel. Wenn man sich jedoch die realen Zahlen anschaut, ist die Angst der Europäischen Union vor einer „Überschwemmung“ durch Flüchtlinge einfach nur absurd, schließlich passiert alles andere als ein biblischer Exodus. Es handelt sich bisher nur um einige tausend Menschen, die vor dem Hintergrund der Umbrüche in Nordafrika vorrangig aus Tunesien in die EU gekommen sind. Aus Libyen beispielsweise kommt nicht einmal ein Prozent der gesamten Flüchtlinge in die EU, sondern die Mehrheit reist in die Nachbarländer Ägypten und Tunesien, die es mit einigen hunderttausend Flüchtlingen zu tun haben – also eine ganz andere Kategorie. Da diese Länder mit den aktuellen Flüchtlingsbewegungen maßlos überfordert sind, ist die Situation in den grenznahen Flüchtlingslagern, wie z.B. im tunesischen Coucha, sehr schrecklich.2 Dort gab es bereits viele Tote durch Brände, Polizeigewalt und Gewalt durch Anrainer, sodass vielen Flüchtlingen keine andere Wahl blieb als nach Libyen zurückzukehren, wo ihr Leben ebenfalls auf dem Spiel steht. Was man hier beobachten kann, ist der Mangel an Solidarität der Europäischen Gemeinschaft, nicht nur in Lampedusa, wo Italien großteils allein gelassen wird, sondern auch gegenüber Ägypten und Tunesien. 

Lassen sich zentrale Strategien der Migrationssteuerung seitens der Europäischen Union identifizieren, die über FRONTEX-Operationen hinausgehen bzw. dahinter liegen? 

In der EU dreht sich seit neuestem viel um Migration und Entwicklung. Den Migration Development Nexus findet man seit 2005 in allen policy papers. Die EU will Migration unterbinden, in dem sie die „Entwicklung“ in Herkunfts- und Konfliktstaaten durch gezielte Kooperation und „Partnerschaftsabkommen“ fördert. Migration wird hier nicht positiv in Bezug auf Entwicklung gesehen, sondern es gilt: Hilfe bei Migrationssteuerung und -kontrolle gegen Entwicklungskooperationssummen und –projekte. Blöd ist nur, dass dabei meist korrupten Diktaturen zugespielt wird und die entwickeln denkbar wenig. Nachdem sich die Lage in Tunesien stabilisiert hat, war das Erste, was die EU gemacht hat, neue Abkommen auszuverhandeln, weil sie Angst hatte, die alten würden nicht mehr gelten. 

Wie sieht eine FRONTEX-Grenzschutzoperation konkret aus? 

Es gibt verschiedene JO-Typen, besonders bekannt sind die Operationen an den Seeaußengrenzen. FRONTEX erstellt im Normalfall eine Risikoanalyse über die Lage an einem bestimmten Grenzabschnitt und muss dann darauf warten, dass ein Mitgliedstaat eine gemeinsame Operation anfordert. Im Küstenmeer von Drittstaaten – dort gibt es besondere Rechtsunsicherheit – werden zum Beispiel gemeinsame Patrouillen auf hoher See durchgeführt. Boote, die im Küstenmeer von Drittstaaten oder auf Hoher See erwischt werden, werden sofort rückeskortiert. Das ist besonders praktisch für die EU, weil sie dann die MigrantInnen nicht rein lassen und Asylanträge bearbeiten muss. Das kann dann noch mit der Menschenrechtsrhetorik gerechtfertigt werden, weil die MigrantInnen auf den Booten ja quasi gerettet wurden, da sie ja wirklich in Gefahr gewesen wären durch die Überfahrt. Solche Patrouillen gehen jeden Tag raus. 

Bei solchen Patrouillen werden ja häufig auch Menschenrechtsverletzungen dokumentiert… 

Das stimmt – Menschenrechtsorganisation dokumentieren beispielsweise bei den Bootsflüchtlingen aus Nordafrika, dass so einiges versucht wurde, um eben diese Boote nicht auf dem italienischen Festland ankommen zu lassen, z.B. dass Schlauchboote zerstochen wurden, dass Trinkwasser konfisziert wurde, etc. Das ist aber nicht der Regelfall! Dennoch sind in den letzten Monaten rund tausend Menschen im Mittelmeer ertrunken und das bei einer zahlenmäßig ausgesprochen hohen Präsenz von Booten im Mittelmeer durch den Libyen-Einsatz. In vielen Fällen wurden Hilferufe von Flüchtlingsbooten in Seenot einfach ignoriert und das ist schon eher gängige Praxis. Natürlich passiert viel und es geht rough zu, aber einfach versenken kann man die Leute ja doch nicht – das wäre ein zu großer Skandal für die EU. Es handelt sich schließlich um zig tausende Leute, wobei man dazu sagen muss, dass der Großteil aller irregulären Migrationen in die EU nicht über den Seeweg stattfindet. 

Trotzdem werden ja immer wieder menschenrechtliche Grauzonen ausgenützt. Ich denke da beispielsweise an die Boote aus Nordafrika, die im Mittelmeerraum hin- und hergeschickt wurden (zwischen Italien, Griechenland und Malta), weil kein Land sie aufnehmen wollte. 

Ja genau. Menschenrechtlichen Grauzonen gibt es vor allem bei den Seeoperationen, während die anderen Bereiche z.B. Sammelabschiebungen leider rechtlich großteils abgedeckt sind. Das Zurückeskortieren von Booten zum Herkunftshafen ohne Einzelfallprüfung verstößt aber gegen die internationale Menschenrechtskonvention.3 Darüber hinaus untergräbt es das Asylrecht, weil der/die MigrantIn keine Möglichkeit mehr hat einen Asylantrag zu stellen. Anträge dürfen ja bekanntlich nicht im Herkunftsland gestellt werden, sondern nur im (Erst-)Asylland. Menschen- Asyl- und Seerecht gelten natürlich auch auf offener See, was von Seiten der Politik (z.B. vom deutschen Innenministerium) immer wieder bestritten wurde, aber von zahlreichen JuristInnen in Rechtsgutachten bestätigt ist. 

 

Welche Rolle spielt eigentlich Österreich bei FRONTEX-Einsätzen? Das Land hat ja zumindest keine EU-Außengrenze mehr. 

Stimmt, viele glauben daher auch, dass Österreich deshalb keine relevante Rolle spielt. Insbesondere in punkto Abschiebung bzw. Sammelabschiebung agiert Wien allerdings als zentrale Drehscheibe. In den letzten Jahren geht der Trend europaweit dahin vermehrt Sammelabschiebungen durchzuführen, das kommt für alle beteiligten Länder am billigsten und passiert unter Ausschluss der Öffentlichkeit, da zu diesem Zweck eigene Flugzeuge gechartert werden. Diese landen oft nicht einmal auf regulären Flughäfen, sondern auf Cargo-Airports. Österreich tut sich hier besonders hervor, nicht ohne Eigennutz: Da der Staat, der die Operation hostet das halbe Flugzeug „gratis bekommt“, sind Sammelabschiebungen auch für das österreichische Innenministerium (BMI) von Vorteil, da es billig viele Flüchtlinge zurückschicken kann. Im Zuge dieser Sammelabschiebungen kommt es oft zu „Blitzidentifizierungen von MigrantInnen“, d.h. zu willkürlichen nationalen oder ethnischen Kategorisierungen. Da werden Menschen schon mal in fremde Länder abgeschoben. Auch in diesem Bereich ist FRONTEX aktiv. Seit neuestem befinden sich sogenannte „MenschenrechtsbeobachterInnen“ auf den Abschiebeflügen. Für Österreich macht das bekanntlich der Verein Menschenrechte Österreich, der vom BMI und der EU gefördert wird. Da sieht man, was für eine Farce das eigentlich ist.
 
Wohin gehen diese Sammelabschiebungen aus Österreich?
 

Kosovo und Nigeria sind klassische Abschiebeländer von Österreich aus. Ins französische Afrika geht es meistens über Frankreich, also über den Flughafen Paris Charles de Gaulles. Immer öfter sind dort das Flughafenpersonal und die Polizei mit zivilgesellschaftlichen Protesten konfrontiert, wenn Passagiere bemerken, dass auf ihren Flug eine Abschiebung gebucht wurde. Meines Wissens nach gibt es jede Woche solche Proteste und sie sind häufig erfolgreich. Das Prozedere ist simpel: Einfach aufstehen und so den Abflug der Maschine verzögern. Das letzte Wort liegt dann beim Piloten, aber oftmals entscheidet sich dieser gegen den unfreiwilligen Transport des/der MigrantIn. Auch aus diesem Grund sind Charter-Flüge für die EU-Staaten angenehmer.
 
Wie würde die EU-Grenzpolitik ohne FRONTEX aussehen?
 

Es wird ja oft behauptet, dass FRONTEX quasi der Ursprung allen Bösen ist, aber selbst wenn man FRONTEX abschaffen würde, würde die EU genauso oder sehr ähnlich weitermachen. FRONTEX erleichtert die Arbeit zwar, aber die Herzstücke der Agentur hatten schon vor ihrer Gründung Bestand. Es gab schon ein Risk Analysis Center (RAC) in Helsinki und Ilkka Laitinen war damals schon dessen Vorsitzender! Zusätzlich gab es noch ein anderes relevantes Komitee, das SCIFA4, ein ExpertInnengremium in der EU, das wichtige Vorarbeit geleistet hat und das Risikoanalysemodell, mit dem FRONTEX heute arbeitet (CIRAM) bereits entwickelt und getestet hat. Vor FRONTEX gab es sogar schon eine erste gemeinsame Grenzschutzoperation an der Seeaußengrenze im Bereich der Kanaren, die von Spanien gehostet wurde…
FRONTEX hat diese Prozesse lediglich vereinfacht, zentralisiert und weiterentwickelt, aber die Vorarbeit war bereits geleistet. Dennoch muss gesagt sein, dass der teils sehr intransparente und flexible Rechtsrahmen, in dem FRONTEX als Regulierungsagentur agiert bewusst gewählt wurde und bestens dazu geeignet ist Neues im Bereich der Grenzkontrolle zu entwickeln, zu testen und das unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit. Da die Agentur über geheimdienstliche Informationen und den Zugang zu polizeiliche Datenbanken verfügt, kann sie sich auch darauf berufen und nicht die Vollversion von Berichten oder Analysen veröffentlichen. Auch EUROPOL ist ja seit Januar 2010 eine Agentur und das mit der Begründung so schneller handlungsfähig zu sein. Für Agenturen gibt es also weniger Korrektive und Instanzen, die konsultiert werden müssen um Entscheidungen zu fällen.
 
Welche Entwicklungen wird der europäische Grenzschutz deiner Meinung nach in den nächsten Jahren nehmen?
 

Grenzschutz wird zunehmend exterritorialisiert. Der Bereich der Migrationskontrolle befindet sich innerhalb von Schengen, an den Grenzen und außerhalb von Schengen. Überall dort finden Kontrollen statt, überall dort manifestiert sich die Grenze in verschiedenen Formen. Diese Tendenz besteht, weil es viel einfacher und angenehmer ist die Migrationskontrolle auszulagern. Dann ist auch der menschenrechtliche Widerspruch leichter aufzulösen. Die EU finanziert zahlreiche Auffanglager, auch in Libyen, einem Land, in dem Menschenrechte mit den Füßen getreten werden und das die Genfer Flüchtlingskonvention nie unterzeichnet hat. In die libyschen Lager darf nicht mal der UNHCR5, da wird gefoltert,…finanziert von der EU! Was passiert, wenn diese Lager überfüllt sind? Man nimmt LKWs und führt die MigrantInnen irgendwoanders hin. In letzter Zeit haben diese Wüstenrückschiebungen, vor allem bezüglich der Hera-Operation vor den Kanaren, mehr Aufmerksamkeit bekommen. Wöchentlich landen hunderte MigrantInnen und v.a. Jugendliche in der Wüste, ohne Lebensmittel und sind so dem Tod ausgeliefert, wenn das Rote Kreuz sie nicht rettet oder sie die unglaubliche Kraft haben die nächste Stadt zu erreichen. So versuchen afrikanische Staaten wie Mauretanien oder Algerien, die im Rahmen von FRONTEX-JOs abgefangene Flüchtlinge zurücknehmen müssen, das „Problem“ weiter in ihre Nachbarstaaten auszulagern – also das Phänomen der Kettenrückschiebung. Und dass dafür Gelder aus der EU verwendet werden, die z.B. den Entwicklungsstempel tragen, ist nicht auszuschließen. Die EU ist es auch, die beispielsweise in Westafrika Systeme zur Grenzüberwachung implementiert, Grenzübergänge errichtet und sogar Grenzschutzpersonal ausbildet. Auch von der EU gestaltete Anti-Emigrations-Spots und Plakate werden in Transit- oder Herkunftsstaaten platziert. An der malisch-mauretanischen Grenze beispielsweise habe ich ein von der EU aufgestelltes Schild mit der Aufschrift: „Stoppt irreguläre Migration – sie ist eine Gefahr für die malische Gesellschaft“ gesehen. So weit ist die Exterritorialisierung bereits fortgeschritten.
Das sind die wahren Konsequenzen der europäischen Abschottungspolitik: Zuerst in das Lager, wo du keine Rechte hast, keinen Lebensstandard, nicht mal eine Toilette, bis zur Rückschiebung an inner-afrikanische Grenzen, wo niemand zimperlich ist. Die Geschichte ist nach der Abschiebung nicht zu Ende. Die Menschen kommen traumatisiert zurück, wenn sie es überhaupt zurück schaffen. Nachdem die EU die Flüchtlingsbekämpfung auslagert hat, sind eben auch viel härtere Regimes und Diktaturen mit im Spiel, die mit Genfer Flüchtlingskonvention und Menschenrechten nichts am Hut haben. Das heißt in Folge auch, dass der Flüchtlingsschutz, der eigentlich oberste Priorität haben sollte, in Drittstaaten ausgelagert wird, wo er nicht gesichert ist.
 
In den Medien gibt es ja alle paar Monate wieder einen humanitären Aufschrei, wenn z.B. wieder ein Boot voller halb-verhungerter Flüchtlinge auf Lampedusa gestrandet ist. Warum passiert da eigentlich nicht mehr, z.B. von Seiten der lokalen Bevölkerung?
 

In den letzten Jahren wird vermehrt auf eine enorme Angstmache gesetzt. FischerInnen werden zum Beispiel kriminalisiert, wenn sie Flüchtlinge gerettet haben. Eigentlich sind sie nach internationalem Seerecht verpflichtet, Menschen, die in Seenot geraten sind, zu helfen. Die FischerInnen, die sich daran gehalten haben, haben dann Verfahren am Hals gehabt. Ihre Boote wurden konfisziert, sie konnten ihren Beruf nicht mehr ausüben und mussten jahrelange Verfahren wegen Schlepperei aushalten. Das öffentlichkeitswirksamste Verfahren war das der Cap Anamur, ein deutsches Hilfsschiff mit Elias Bierdel6 an Bord. Er und die Mannschaft hatten einen drei bis fünf jährigen Prozess wegen Schlepperei und wurden freigesprochen. Die Cap Anamur hatte vierzig Menschen aufgenommen. Trotz des Freispruchs sind die FischerInnen sehr eingeschüchtert, auch die Zivilgesellschaft greift deswegen selten ein.
 
Wie kann man gegen FRONTEX vorgehen? Auf Ebene der Realpolitik und der Verhandlungen ist schwer etwas zu machen, wenn FRONTEX auch rechtlich so unangreifbar ist. Kann es überhaupt von dieser Warte aus gehen?
 

Innerhalb von FRONTEX oder des EU-Grenzschutzes wird es schwer sein etwas zu verändern. Außerdem hat FRONTEX in der EU ein gutes Standing. Das Budget der Agentur wird immer wieder erhöht, das heißt man ist mit der Arbeit im Großen und Ganzen zufrieden. Die Europäischen Grünen haben vor kurzem eine Studie herausgegeben, die die Vereinbarkeit von FRONTEX mit den Menschenrechten in Frage stellt. Diese Vorstöße sind sehr wichtig, aber haben sie momentan keine Mehrheit im Parlament.
Darüber hinaus gibt es innerhalb von FRONTEX und des europäischen Grenzschutzes auch gar kein Interesse daran die Entwicklungen in eine progressive Richtung zu verändern. FRONTEX ist eng verzahnt mit der europäischen Polizei und den Geheimdiensten. Das Problem ist also das System. Wenn man dieser Logik folgt, in der unsere Staaten und unsere Wirtschaft funktionieren und unser Markt, unsere Politik sich bewegen, die auf Profit, Konkurrenz, eigenem Vorteil und auf Ausbeutung basiert, wird sich nichts ändern. Wenn wir eine/n MenschrechtsbeobachterIn mehr in ein Abschiebeflugzeug schicken, ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Vielleicht bewirkt es Peanuts, aber das ist viel zu wenig. Die Strukturen sind viel zu festgefahren.
Es muss jetzt viel mehr darum gehen grundsätzliche Fragen zu stellen: Warum flüchten Menschen und finden keine Lebensgrundlage in ihren Herkunftsländern mehr? Da ist die Europäische Union mit ihren hohen Agrarsubventionen, dem Leerfischen von Meeren und dem Aufrechterhalten von Abhängigkeitsverhältnissen ja alles andere als unbeteiligt. Und wenn das klar ist, funktioniert auch ein Aufsplitten in „eure“ und „unsere“ Probleme nicht mehr. Eine solche Argumentation ist dann nicht mehr haltbar. Ein erster Schritt wäre meiner Meinung nach auch eine Überarbeitung der Genfer Flüchtlingskonvention aus dem Jahr 1951, die ich für veraltet halte und die Wirtschaftsflucht immer noch nicht als legalen Fluchtgrund anerkennt, auch wenn wirtschaftliche Not, Armut und Hunger in Realität lebensbedrohlich sind.
Aus jetziger Perspektive ist es meiner Meinung nach unverzichtbar ein breites Bewusstsein für die reale Situation von MigrantInnen an den EU-Außengrenzen und darüber hinaus zu erzeugen und die Mythen über AusländerInnen, die Einheimischen, die Jobs wegnehmen und kriminell sind – die ganze rechtspopulistische Propaganda eben – zu dekonstruieren. Es gibt ja auch Studien dazu. Das Wissen ist da. Je mehr Menschen, die Mythen als solche erkennen und einsehen, dass hier Unrecht passiert, desto besser. Da können auch kleine Aktionen, Flashmobs, Märsche, Diskussionen und jegliche Art der Bewusstseinsbildung helfen. MigrationsgegnerInnen argumentieren häufig damit, dass Zuwanderung eine Kostenfrage und unleistbar sei. Real zahlen MigrantInnen mehr ins österreichische Sozialsystem ein, als sie herausbekommen und verrichten vorrangig Tätigkeiten unter ihrer Qualifikation.
Die Verhältnisse werden sich nur durch öffentlichen Druck verändern lassen und ich denke, dass wir momentan eine sehr spannende Zeit der Umbrüche erleben. Über Nordafrika hinaus sind die Menschen in Spanien und Griechenland empört über die herrschenden Zustände und artikulieren ganz klar ihre Unzufriedenheit mit dem System, mit einer „repräsentativen Demokratie“, durch die sie sich nicht repräsentiert fühlen und mit der Kluft zwischen Arm und Reich, die immer größer wird, da an den falschen Ecken eingespart wird oder Geld einfach versickert. In Bezug auf die Migrationspolitik ist es an der Zeit die gesamtgesellschaftliche Haltung zu Einwanderung und zum Flüchtlingsschutz zu verändern, ein fremdenfreundliches Klima und eine offene Atmosphäre zu schaffen, in der mensch sich wohlfühlen kann und anerkannt wird. Also: Mythen dekonstruieren und Solidarität zeigen! 

Stephanie Deimel ist Politikwissenschaftlerin und hat ihre Diplomarbeit zu FRONTEX und den Auswirkungen des EU-Außengrenzmanagements auf Migrationsbewegungen geschrieben. Im Frühjahr 2011 nahm sie gemeinsam mit AktivistInnen des Netzwerkes Afrique-Europe-Interact an einer Karawane zum Weltsozialforum teil, die sich für Bewegungsfreiheit und gerechte Entwicklung einsetzt. 

Interessante Links:
Borderline Europa: http://www.borderline-europe.de/
Frontex-Watch: http://frontex.antira.info/Frontexplode: http://frontexplode.eu/Welcome to Europe: http://w2eu.net/Afrique-Europe-Interact: http://www.afrique-europe-interact.net/Migreurop: http://www.migreurop.org/?lang=fr

Traurige Links:
Frontex-Homepage: http://www.frontex.europa.eu/

Anmerkungen
1 http://www.FRONTEX.europa.eu/newsroom/news_releases/art109.html
2 http://afrique-europe-interact.net/index.php?article_id=462&clang=0
3 Artikel 13 (2): „Jeder Mensch hat das Recht jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen.”
4 „Strategische Komitee für Einwanderungs-, Grenz- und Asylfragen“, wurde im Rahmen der SCIFA die Common Unit („Gemeinsame Instanz von Praktikern für die Außengrenzen“) eingerichtet. Diese organisierten den Aufbau der Ad-hoc-Zentren für die Luft-, See- und Landgrenzen sowie die Risikoanalyse (RAC) und die gemeinsame Ausbildung von Grenzbeamten (ACT), die als Vorgänger von FRONTEX zu bezeichnen sind.
5 UN Refugee Agency
6 Elias Bierdel hat Borderline gegründet.





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