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Klassen im Widerspruch
von Katherina Kinzel, Hanna Lichtenberger

Marxistischen Klassentheorien wird häufig vorgeworfen, sie würden die Realität vielfältiger sozialer Identitäten und Konfliktlinien auf die einfache Gegenüberstellung von Bourgeoisie und Proletariat reduzieren. Katherina Kinzel und Hanna Lichtenberger stellen dieser Kritik einen differenzierten Klassenbegriff entgegen, der die Debatten um das „Problem der Mittelklasse“ aufgreift und sich auf die Marxsche Methode stützt.

„Hier bricht das Manuskript ab“, so Engels’ lakonischer Kommentar, wenige Seiten nachdem Marx im dritten Band des Kapital explizit die Frage der Klassentheorie in den Raum stellt: „Die nächst zu beantwortende Frage ist die: Was bildet eine Klasse?“1 Marx beantwortet diese Frage selbst nicht, auch wenn sich seine Arbeiten immer wieder um Klassenanalysen drehen und voll von den entsprechenden Begrifflichkeiten sind. So ist richtig, was der jüngst verstorbene französische Philosoph Daniel Bensaïd festhält: „Klassenkampf steht im Zentrum des Marxschen Denkens“2; die Bestimmungsversuche von Klassen, die theoretischen Instrumentarien, die dabei zum Einsatz kommen und die Analyseebenen, auf denen Klassen zum Gegenstand der Untersuchung werden, variieren innerhalb des Marxschen Werkes jedoch stark.
In dem frühen, zu Marxens Lebzeiten unveröffentlichten Werk Die deutsche Ideologie etwa, beschreibt Marx den Ursprung der Klassen in der Arbeitsteilung: „[…] durch die Teilung der Arbeit bereits bedingten Klassen, die in jedem derartigen Menschenhaufen sich absondern und von denen eine alle anderen beherrscht.“3 Außerdem hält er darin fest, dass „[d]ie Individuen […] nur insofern eine Klasse [bilden], als sie einen gemeinsamen Kampf gegen eine andre Klasse zu formieren haben“4. Damit unterstreicht er, dass „Klasse“ eine relationale Kategorie ist – sie bezeichnet ein Verhältnis, keinen für sich existierenden Gegenstand. Weil die Bestimmung von Klassen über die Arbeitsteilung auch für Marx ungenügend ist, entwickelt er später weitere Begrifflichkeiten wie Ausbeutung, die den Blick schärfen sollen. Daher ist es zunächst wichtig, nach der Herangehensweise an eine Klassentheorie in Marx’ systematischer Analyse der kapitalistischen Produktionsweise in seinem Hauptwerk, Das Kapital, zu suchen.
Wenn die Frage nach der Anwesenheit von Klassen im Kapital gestellt wird, so begegnet man jedoch einem Paradoxon: Klassen sind und sind nicht dessen Gegenstand. Einerseits sind sie Gegenstand des Kapitals, insofern die von Marx eingeführten ökonomischen Begriffe auch stets soziale Begriffe sind. Nicht nur die Ausbeutung – zentrale Kategorie in der Bestimmung der ArbeiterInnenklasse – und der sich daraus ergebende fundamentale Interessenkonflikt zwischen Arbeit und Kapital, sondern auch die Dimensionen von Herrschaft und Kontrolle werden auf Basis einer Analyse der Struktur der kapitalistischen Produktionsweise sichtbar. Andererseits lässt sich auf dieser Ebene nichts über konkrete Klassenstrukturen und Dynamiken aussagen. Analysen konkreter Dynamiken von Klassenkämpfen finden sich eher in den politisch-strategischen Schriften Marxens, so etwa in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Marx geht hier nicht nur auf den „horizontalen“ Klassenkampf zwischen Arbeit und Kapital ein, sondern widmet sich auch den Widersprüchen innerhalb der herrschenden Klasse und unterscheidet wischen zahlreichen Fraktionen der Bourgeoisie (so etwa Großgrundbesitzer, Geldaristokratie, Kleinbürgertum, Industriebourgeoisie, Mittelklasse)5 und ihren unterschiedlichen Interessen. Statt einer eingehenden systematisch-theoretischen Auseinandersetzung mit diesen und anderen Begriffskategorien konzentriert sich Marx hier darauf, die komplexe Skizze einer historisch konkreten Gesellschaftsformation zu zeichnen. Kämpfe zwischen den einzelnen Gruppen, ihr Verhältnis zum Staat sowie die Veränderungen im Staat durch die unterschiedlichen Kämpfe werden beschrieben.6
Dieses ausdifferenzierte Bild verschiedener Klassen und Klassenfraktionen steht in deutlichem Kontrast zu der im Manifest der Kommunistischen Partei ausgesprochenen These einer zunehmenden Polarisierung: „Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.“7 Das KleinbürgerInnentum oder die Mittelklasse, die, so Marx, im Bonapartismus8 „die Stärke dieser bürgerlichen Ordnung ist“9, sei eine Art „historisches Überbleibsel“ oder eben eine Übergangsklasse. So hält Marx dazu im dritten Band des Kapitals fest: „In England ist unstreitig die moderne Gesellschaft in ihrer ökonomischen Gliederung am weitesten, klassischsten entwickelt. Dennoch tritt diese Klassengliederung selbst hier nicht rein hervor. Mittel- und Übergangsstufen vertuschen auch hier (obgleich auf dem Lande unvergleichlich weniger als in den Städten) überall die Grenzbestimmungen. Indes ist dies für unsere Betrachtung gleichgültig.“10 Auch wenn Marx an anderer Stelle schreibt, es gäbe eine Tendenz zum Wachstum der Mittelklasse11, so bleibt unklar, wo diese größer werdenden Mittelklassen in seiner Darstellung der Struktur der kapitalistischen Produktionsweise unterzubringen sind12: Hier scheint nur die Opposition von Arbeit und Kapital sichtbar zu sein.

Systematische Probleme
Hinter den verschiedenen Bestimmungen und Analysen von Klassen in den Schriften Marxens steht nicht einfach theoretische Inkonsistenz. Vielmehr verweist dies auf ein systematisches Problem, das sich jedem Versuch, einen brauchbaren Klassenbegriff zu entwickeln, stellt. Im Werk Marxens selbst finden wir einerseits eine strukturelle Analyse der polaren Klassenpositionen, die sich aus der Struktur und Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise ergeben, andererseits aber konkrete Beschreibungen von Klassenkämpfen und den gesellschaftlichen Akteuren, die in diesen Kämpfen auftreten. So stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die abstrakt bestimmten Klassenpositionen zu den konkreten Mustern von Klassenformierung und Klassenkämpfen stehen. Marx selbst entwickelt keine Antwort auf die Frage, wie eine systematische Verbindung zwischen diesen beiden Bereichen aussehen könnte.
In den klassentheoretischen Debatten der 1970er Jahre versuchte der marxistische Soziologe Erik Olin Wright, diese Lücke durch eine Reihe von Unterscheidungen in den Griff zu bekommen. Tatsächlich, so das Argument, haben wir es mit zwei unterschiedlichen, aber zusammenhängenden Problemen zu tun: Erstens geht es um die Frage, wie sich eine Analyse der aus der Struktur der Produktionsverhältnisse bestimmten Klassenpositionen zur Frage der Klassenformierung – sprich der Konstitution von Klassen als organisierte, handlungsfähige Kollektive – verhält.13 Die „Leerstellen“, die in die Struktur der Produktionsverhältnisse eingeschrieben sind, gehen nicht automatisch mit bestimmten Formen der kollektiven Organisierung von Klasse einher: „Die soziale Klassenstruktur eterminiert nicht mechanisch politische Repräsentation und Konflikte.“14 Gleichzeitig aber bleiben Klassenstrukturen in den konkreten Formierungsprozessen gesellschaftlicher Akteure stets als deren Bedingungen anwesend. „In der Dynamik der Klassenverhältnisse kann sich die Subjektivität des Bewusstseins nicht arbiträr von der Struktur emanzipieren, ebenso wenig können die objektiven Bedingungen passiv vom Bewusstsein abgespalten werden. Diese Problematik steht jeder mechanistischen Konzeption eines notwendigen Übergangs vom ,an-sich‘ zum ,für-sich‘ entgegen.“15
Zweitens stellt sich das Problem der Verbindung zwischen den unterschiedlichen Abstraktionsebenen der Klassenanalyse: Der Antagonismus zwischen Arbeit und Kapital wird schon auf Ebene der kapitalistischen Produktionsweise – der Darstellung der Struktur und inhärenten Dynamik gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse in ihrem idealen Durchschnitt – sichtbar. Auf Ebene der Gesellschaftsformation treten hingegen auch andere Klassenlagen auf. Der Begriff der Gesellschaftsformation verweist auf Gesellschaft als spezifische Kombination verschiedener Produktionsweisen, die zueinander in hierarchischen Verhältnissen stehen. Die Anwesenheit vorkapitalistischer Klassen innerhalb kapitalistischer Gesellschaften, aber auch die verschiedenen Organisationsformen kapitalistischer Produktionsverhältnisse selbst, können auf dieser Ebene in den Blick genommen werden. Konjunkturelle Analysen schließlich müssen die Vielfalt an historisch kontingenten Umständen, institutionellen Gegebenheiten und ideologischen Faktoren sowie die Verhältnisse zwischen Klassen und anderen, nicht-klassenförmigen Herrschaftsverhältnissen, wie Geschlechterverhältnissen und Rassismen, mit einbeziehen.16 Es ist dies auch die Ebene, auf der sich das Problem der Klassenformierung erstmals konkret stellt. Auf Ebene der kapitalistischen Produktionsweise und der Gesellschaftsformation haben strukturelle Analysen ihren Ort. Die Frage, wie Klassen sich als Klassen organisieren und zu historisch handlungsfähigen Akteuren werden, kann auf diesen Ebenen jedoch nicht beantwortet werden. Wie zuvor vermerkt, sind formierte Klassen nicht einfach Ausdruck von Strukturpositionen, sondern politische Subjekte, die sich in Konflikten konstituieren und dies in Abhängigkeit von staatlich-institutionellen Verortungen, spezifischen politisch-ideologischen Konfigurationen, kurz- und längerfristigen Bündnisstrategien, etc. Will man zu einer Einschätzung der dynamischen Prozesse der Klassenformierung in einer gegebenen gesellschaftlichen und politischen Situation gelangen, muss man also notwendigerweise die Abstraktionsebenen „hinunterwandern“. Aber wie?

Methodische Überlegungeny
Eine mögliche Antwort lässt sich aus methodischen Überlegungen zum Kapital gewinnen. Marx verfährt im Kapital nicht, indem er Definitionen oder Kriterien etwa dafür anführt, was „Mitgliedschaft“ in der ArbeiterInnenklasse bedeutet. Stattdessen holt er schrittweise eine Reihe von Bestimmungen der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem idealen Durchschnitt ein.17 Der oft zitierte Aufstieg „vom Abstrakten zum Konkreten“18 bezieht sich auf dieses Einholen von neuen Bestimmungen. Von den einfachen Begriffen Ware und Wert ausgehend nähern sich „die Gestaltungen des Kapitals […] schrittweis der Form, worin sie auf der Oberfläche der Gesellschaft […] auftreten.“19 In der Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie von 1857 erklärt Marx, dass und warum das Konkrete notwendigerweise komplex ist: „Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen. Im Denken erscheint es daher als Prozeß der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt.“20 Louis Althusser hat darauf hingewiesen, dass es sich bei diesem Prozess schrittweiser Konkretion nicht um ein deduktives Ableitungsmanöver handelt: „ganz fern von jeder Selbst-Herstellung der Begriffe“ verfährt Marx im Kapital vielmehr „durch die Setzung eines Begriffs und die anschließende Erforschung (Analyse) des durch diese Setzung zugleich erschlossenen und geschlossenen (begrenzten) Raumes, usf.: Bis hin zur Konstitution theoretischer Felder eines äußersten Komplexitätsgrades.“21 Das Kapital stellt also einen mehrstufigen Analyseprozess dar, in dem bei jedem Schritt neue und komplexere Bestimmungen eingeführt werden. Diese erlauben es, Sackgassen aufzulösen und theoretische Schwierigkeiten zu beheben, die in früheren Phasen der Analyse aufgetreten sind. Die schrittweise Konkretion und Komplizierung der theoretischen Instrumentarien hat dabei auch zur Folge, dass bereits entwickelte Begriffe und Kategorien durch spätere Analyseschritte modifiziert und mit neuer Bedeutung angereichert werden. Daniel Bensaïd argumentiert, dass dieser Prozess nicht künstlich zu einem Schluss gebracht werden soll: das Kapital ist in gewisser Hinsicht ein „unendliches“ Buch, das über die von Marx selbst in drei Bänden behandelten Themen hinausweist. Dass Marx in seinem ursprünglichen Konzept für Das Kapital weitere Bände, darunter einen zum Staat und einen zum Weltmarkt geplant hatte, weist in diese Richtung.

Das Kapital: ein unendliches Buch
Bensaïd zeichnet nach, wie auch der Klassenbegriff auf der „langen Reise des Kapitals“22 einen Prozess schrittweiser Konkretion und Modifikation durchmacht. Im ersten Band des Kapitals wird das Ausbeutungsverhältnis zwischen freier Lohnarbeit und Kapital analysiert. Die Ausbeutung stellt aber nur die erste und abstrakteste der Bestimmungen des Klassenverhältnisses dar. Der Klassenbegriff ist kein statisches Konzept, denn Klassenverhältnisse stehen im Zusammenhang mit der Akkumulationsdynamik des Kapitals. Das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital gewinnt im zweiten Band des Kapitals die zusätzliche Dimension des Kaufs und Verkaufs der Ware Arbeitskraft. „Das Kapitalverhältnis während des Produktionsprozesses kommt nur heraus, weil es an sich im Zirkulationsakt existiert, in den unterschiedlichen ökonomischen Grundbedingungen, worin Käufer und Verkäufer sich gegenübertreten, in ihrem Klassenverhältnis.“23 Der Klassenbegriff wird in Folge um die Begriffe der produktiven und indirekt produktiven Arbeit erweitert. Produktive Arbeit nimmt die Form des Mehrwerts an und wird in dieser Form vom Kapital angeeignet.24 Diejenige Arbeit, die gegen Revenue25 getauscht wird und keinen Mehrwert erzeugt, ist hingegen unproduktiv. Im dritten Band werden die bisherigen Bestimmungen in eine Analyse der Dynamik der Kapitalkonkurrenz, der Angleichung der Durchschnittsprofitraten und der Distribution der Revenue integriert. Vom Standpunkt gesamtgesellschaftlicher Reproduktion erscheinen Klassen nun nicht mehr alleinig über Ausbeutung und produktive/indirekt produktive Arbeit bestimmt: Ausbeutungsverhältnis, Lohnverhältnis, Produktivität und die Distribution von Revenuen im Prozess gesamtgesellschaftlicher Reproduktion treten als Bestimmungen zusammen. Es wird nun auch deutlich, dass das Ausbeutungsverhältnis die Dynamik der Kapitalkonkurrenz, die Ausbildung einer Durchschnittsprofitrate und die Bestimmung gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit voraussetzt. Erst von diesem Standpunkt aus wird es möglich, dass „Klassen als etwas anderes [erscheinen], denn als eine Summe von Individuen, die eine ähnliche gesellschaftliche Funktion erfüllen.“26 Es ist dies der Punkt, an dem sichtbar wird, dass der Klassenantagonismus nicht auf den Konflikt zwischen einzelnen ArbeiterInnen und KapitalistInnen am Arbeitsplatz reduzierbar ist. Aufgrund der Angleichung der Durchschnittsprofitraten ist der Mehrwert, den ein Einzelkapital einfährt, stets Anteil des gesamtgesellschaftlich produzierten Mehrwerts. Auf diese Weise konstituiert sich das Kapital in seiner Gesamtheit über die Reproduktionsdynamiken gegen die Gesamtheit der ArbeiterInnenklasse. „Aus dem Gesagten ergibt sich, daß jeder einzelne Kapitalist, wie die Gesamtheit aller Kapitalisten jeder besondern Produktionssphäre, in der Exploitation der Gesamtarbeiterklasse durch das Gesamtkapital und in dem Grad dieser Exploitation nicht nur aus allgemeiner Klassensympathie, sondern direkt ökonomisch beteiligt ist, weil, alle andern Umstände, darunter den Wert des vorgeschoßnen konstanten Gesamtkapitals als gegeben vorausgesetzt, die Durchschnittsprofitrate abhängt von dem Exploitationsgrad der Gesamtarbeit durch das Gesamtkapital.“27

Komplexe Bestimmungen
Eine bedeutende Konsequenz dieser Bestimmung ist, dass nun auch Arbeiten, die in vorangegangenen Stadien der Analyse als unproduktiv erschienen, als Teil des gesellschaftlichen „Gesamtarbeiters“ auftreten. Zu den bisher entwickelten Bestimmungen antagonistischer Klassenpositionen tritt das Kriterium der Einkommensquellen hinzu, welche sich im Fall der KapitalistInnen aus Revenuen, im Fall der ArbeiterInnen aus Lohnarbeit speisen. Wie Marx selbst vermerkt, darf aber die letztere Bestimmung von Klassenpositionen aus Einkommensquellen nicht verabsolutiert werden. „Indes würden von diesem Standpunkt aus z.B. Ärzte und Beamte auch zwei Klassen bilden, denn sie gehören zwei unterschiednen gesellschaftlichen Gruppen an, bei denen die Revenuen der Mitglieder von jeder der beiden aus derselben Quelle fließen.“28 Wären Einkommensquellen das vorrangige und einzige Kriterium, so würden sich Klassen in Status- und Berufsgruppen auflösen. Stattdessen müssen, wie Bensaïd vermerkt, die Bestimmungen, die in den drei Bänden des Kapitals aufgezeigt wurden, in ihrer Einheit gefasst werden: „das Ausbeutungsverhältnis, das den Mehrwert erklärt, das Lohnverhältnis, […] direkt und indirekt produktive Arbeit, die gesellschaftliche Arbeitsteilung und die Natur und Höhe des Einkommens“29 erzeugen erst in ihrem inneren Zusammenhang die Perspektive, von der ausgehend Klassen als dynamische, antagonistische Kräfte erfasst werden können. Bensaïd argumentiert, dass damit die Bestimmung des Klassenbegriffs jedoch noch keineswegs abgeschlossen ist: „Bestimmt auf Ebene des Produktionsprozesses im Gesamten, können Klassen immer noch neue Bestimmungen erhalten, von Analysen der Familie, Ausbildung, des Staates und des politischen Kampfes selbst.“30
Wenn die unterschiedlichen Abstraktionsebenen der Klassenanalyse aus Erik Olin Wrights Perspektive als durch tiefe Gräben getrennt erscheinen, was eine gewisse Ratlosigkeit darüber erzeugt, wie diese Gräben denn systematisch zu überbrücken sind, so erscheint der Weg vom Abstrakten zum Konkreten bei Daniel Bensaïd als organischer Prozess des schrittweisen Einholens zusätzlicher Bestimmungen.
Im Folgenden werden wir uns dem Problem der Bestimmung der Mittelklassen zuwenden und dies als Beispiel nutzen, um zu zeigen, was es bedeutet, die Abstraktionsebenen „hinunterzuwandern“. Die Frage der Mittelklassen ist nicht nur „essentiell, wenn die klassischen Anliegen des Marxismus – ein Verständnis der Entwicklung der Widersprüchedes Kapitalismus und der Voraussetzungen einer revolutionären Transformation kapitalistischer Gesellschaften – in rigoroser Weise analysiert werden sollen“, wie Wright festhält.31 Sie erfordert auch eine zunehmende Konkretion der Klassenanalyse. Unsere Darstellung theoretischer Positionen zur Einschätzung der Mittelklassen wird notwendigerweise selektiv verfahren und bescheidener sein als Bensaïds Entwurf zunehmender Konkretion. Es ist aber sinnvoll, im Folgenden die Idee eines über den Text des Kapitals hinausgehenden Bestimmungsprozesses im Kopf zu behalten und sich zu vergegenwärtigen, dass jede der zusätzlich eingeführten Bestimmungen auch eine Rückfrage nach den zuvor bereits entwickelten Begriffen und Kategorien notwendig macht.

Marx und die Mittelklassen
Marx und Engels gehen, wie bereits beschrieben, im Manifest der Kommunistischen Partei und im dritten Band des Kapital davon aus, dass es eine Tendenz zur Polarisierung der zwei Hauptklassen gibt, und dass der Widerspruch zwischen diesen sich immer deutlicher ausprägt. Eine systematische Bestimmung von Mittelklassen finden wir bei ihnen darum nicht vor – auch nicht im 18. Brumaire, in dem Marx selbst den Begriff der Mittelklasse verwendet. Wenn das traditionelle KleinbürgerInnentum, also die einfachen WarenproduzentInnen, eine historisch entstandene Übergangsklasse aus dem Feudalismus ist und es eben eine Tendenz zur Polarisierung gibt, kann der Eindruck entstehen, als würde eine Theorie der Mittelklasse im Laufe der Entwicklung des Kapitalismus unnötig werden. Diese Prognose erwies sich jedoch als historisch inadäquat. Auch ohne der bürgerlichen „Mittelstands“-Ideologie aufzusitzen, lässt sich die historische Ausdifferenzierung von Gesellschaftsschichten, Positionen und Interessenlagen vermerken, die weder in die Konzeption des Proletariats, noch in jene der Bourgeoisie passen. Marxistische Klassenanalysen wurden von bürgerlicher Seite oft dahingehend kritisiert, dass die Vorstellung eines bipolaren Klassenantagonismus aufgrund dieser Entwicklungen historisch überholt sei. Schon alleine als Defensivstrategie gegen solche Angriffe ist es notwendig, eine marxistische Bestimmung der Mittelklassen zu entwickeln, die mit der Diagnose vereinbar ist, dass der zentrale Interessenkonflikt in kapitalistischen Gesellschaften zwischen Arbeit und Kapital verläuft.
Andererseits aber kann der Ruf nach einer klassentheoretischen „Einordnung“ der Mittelklassen misstrauisch machen, erinnert er doch stark an „positivistische“ Vorstellungen, welche den Klassenbegriff als Klassifikationsschema zur Zuordnung unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen gemäß ihrer „Eigenschaften“ missverstehen. Eine solche Auffassung des Klassenbegriffs ist oft genug – und zu Recht – kritisiert worden. Klassen sind keine Dinge, keine Berufs- oder Einkommensgruppen, sie existieren nicht außerhalb jener gesellschaftlichen Verhältnisse, die sie konstituieren. Klassen gibt es nur in ihren Konfliktverhältnissen zu anderen Klassen.32 Letztlich ist der Klassenbegriff auch nicht ein bloßes Analyseschema zur Beschreibung der Struktur kapitalistischer Gesellschaften, sondern ein theoretisches Instrument, um soziale Konflikte und die Triebkräfte gesellschaftlicher Transformation fassen zu können. Die klassentheoretische Analyse und Einschätzung der Mittelklassen ist daher auch politisch relevant: Denn die Frage nach den Mittelklassen ist immer mit der Frage nach den Grenzen der ArbeiterInnenklasse und damit nach den politischen Voraussetzungen einer revolutionären Transformation kapitalistischer Gesellschaften verbunden. Eine Antwort auf das Problem der Klassenposition von jenen Gesellschaftsgruppen, die weder einfach der Bourgeoisie noch dem Proletariat zuordenbar sind, stellt also zugleich einen Beitrag zur Diskussion um politische Bündnisse und Strategien dar.

Neue Klasse oder Neue ArbeiterInnenklasse?
In den 1970er und -80er Jahren versuchten verschiedene TheoretikerInnen Antworten auf die Problematik der „Mittelklasse“ bei Marx zu formulieren. Sie reagierten damit auch auf gesellschaftliche Transformationsprozesse im Fordismus, die eine quantitative Ausweitung von nicht eindeutig zuordenbaren Klassenpositionen bedeuteten, wie etwa hierarchische Funktionen (ManagerInnen, leitende Angestellte und andere Überwachungs- und Verwaltungsaufgaben), Staatsangestellte, Scheinselbstständige, etc.33 Unter den verschiedenen Konzeptionen zum Verständnis der Mittelklasse können vier grundlegende Stränge ausgemacht werden. Erstens, das Konzept der Neuen Klassen. Beispielhaft für die Theorie, wonach die Mittelklasse eine völlig neue Klasse mit eigenen Interessen ist, die weder mit jenen der Bourgeoisie noch denen der ArbeiterInnenklasse übereinstimmen, sind die Überlegungen von Barbara und John Ehrenreich. Sie bezeichnen diese Neue Klasse als „Professional Managerial Class“34. In den Konzeptionen einer Neuen Klasse ist jedoch völlig unklar, ob „die recht unterschiedlichen Soziallagen, die unter dieser Flagge zusammengefasst sind, objektive Klasseninteressen teilen.“35 Auch wenn TheoretikerInnen der Neuen Klasse den Aspekt der Kontrolle, etwa von Wissen, einbeziehen, so bleibt dies meist auf die Ebene des Produktionsprozesses beschränkt, andere Dimensionen gesellschaftlicher Verhältnisse, die Klassen konstituieren, fallen weg. Der griechisch-französische Marxist Nicos Poulantzas hat die Konzeption einer „ManagerInnenklasse“ daher als „für die marxistische Theorie undenkbar“36 abgetan. Die Vorstellung, vom Zuwachs und steigenden Einfluss bestimmter Managementstrukturen ließe sich unmittelbar auf das Entstehen einer Neuen Klasse schließen, hat dennoch immer wieder theoretische Konjunktur. So kann ein ähnlicher Versuch in neogramscianischen Ansätzen innerhalb der Internationalen Politischen Ökonomie ausgemacht werden, die im Anschluss an Robert Cox von einer „transnationalen ManagerInnenklasse“ sprechen.37
Ein zweiter analytischer Ansatz ist das Konzept der Neuen ArbeiterInnenklasse. Die Erweiterung des Begriffs der ArbeiterInnenklasse und die Konzeptualisierung eines Großteils der gesellschaftlichen Kämpfe als jene der ArbeiterInnenklasse wurde etwa vom Sozialphilosophen André Gorz, der alle Lohnabhängigen ohne Verfügung über Kapital zur ArbeiterInnenklasse zählt38, oder dem Soziologen Serge Mallet39
vertreten. Auch diese Idee und die damit verbundene These, man habe es bei den Mittelklassen nicht mit „echten“ Zwischenlagen zu tun, sondern schlicht mit neuen Formen des Proletariats, gewinnt immer wieder neue theoretische Attraktivität. Besonders deutlich wird dies in Ansätzen, welche die ArbeiterInnenklasse ausschließlich über das Kriterium der freien Lohnarbeit – also die Notwendigkeit, die eigene Arbeitskraft am Markt feilzubieten – bestimmen. So findet sich ein Nachhall der These von der Neuen ArbeiterInnenklasse z.B. im post-operaistischen Konzept der Multitude, wie es prominent von Toni Negri und Michael Hardt entwickelt wurde. Gemein ist vielen dieser Konzeptionen die problematische Konsequenz, die gesamte Masse der Lohnabhängigen als revolutionäres Subjekt anzurufen und dabei die großen Interessensunterschiede innerhalb derselben zu verdecken.40
Fruchtbarer als die Konzepte der Neuen Klassen und der Neuen ArbeiterInnenklasse erscheinen uns zwei weitere Ansätze, das Konzept des Neuen KleinbürgerInnentums, das von Nicos Poulantzas vorgeschlagen wurde, sowie jenes der widersprüchlichen Klassenpositionen von Erik Olin Wright. Da uns beide Ansätze trotz gewisser Kritikpunkte politisch anschlussfähig erscheinen, möchten wir im Folgenden näher auf sie eingehen.

Poulantzas und das Neue KleinbürgerInnentum
Poulantzas’ theoretische Ausgangsüberlegung lautet, dass es nicht ausreicht, Klassen allein durch ihre ökonomische Verortung zu bestimmen. Es gehe vielmehr auch darum, „soziale Klassen durch ihre Stellung im Ganzen der gesellschaftlichen Praxis-Arten zu definieren“41 – also nicht nur durch ihre Stellung in der Arbeitsteilung, sondern auch über politische und ideologische Verhältnisse. Konkret versucht er, das Problem der Mittelklasse durch Erweiterung und Umdeutung der traditionellen Klasse des KleinbürgerInnentums und ihrer inneren Differenziertheit zu lösen. Die ökonomischen Merkmale des traditionellen KleinbürgerInnentums beschreibt Poulantzas als Einheit des Besitzes der Produktionsmittel und deren Verarbeitung: „[D]iese Kleinproduktion macht Profit aus dem Verkauf der Waren und durch die Beteiligung an der totalen Rückverteilung des Mehrwerts, presst aber nicht unmittelbar Mehrwert ab.“42 Das Neue KleinbürgerInnentum hingegen bestehe aus den nichtproduktiven LohnempfängerInnen und MitarbeiterInnen des Staates und dessen Staatsapparate, „ihre Ausbeutung erfolgt durch direkte Abschöpfung von Mehrarbeit und nicht durch die Produktion von Mehrwert.“43 Das KleinbürgerInnentum sei der Ausbeutung nur in Form des Lohnes und der Konkurrenz ausgesetzt, nicht aber innerhalb des Produktionsprozesses. Laut Poulantzas führt dies zu einer Reihe von politischen und ideologischen Merkmalen, die das neue KleinbürgerInnentum auszeichnet: „kleinbürgerlicher Individualismus“, Neigung zum Status Quo und Furcht vor der Revolution, „Mythos des gesellschaftlichen Aufstieges“ und Streben nach bürgerlichem Status44 – sowie Vertrauen in einen neutralen, über den Klassen stehenden Staat und die Bindung an bonapartistische Regierungsformen. In seiner Analyse anderer Klassen weist Poulantzas wiederholt auf die Inhomogenität von Ideologie und Interessen hin. Ob sich auch die Ideologie des Neuen KleinbürgerInnentums durch Widersprüche und Unterschiede auszeichnet, bleibt unklar und in seinen Schriften ambivalent. Wie auch in der ArbeiterInnenklasse und der Bourgeoisie lassen sich laut Poulantzas im KleinbürgerInnentum bei genauer Betrachtung der politisch-ideologischen Divergenzen zahlreiche Fraktionen ausmachen. So hält Poulantzas z.B. fest, „dass die kleinbürgerliche Fraktion der nicht-produktiven Lohnempfänger der Arbeiterklasse näher ist als die des traditionellen KleinbürgerInnentums“45. Weil Poulantzas Begriff des Neuen KleinbürgerInnentums so breit gefächert ist und so viele verschiedene Lebensrealitäten umfasst, stellt sich hier die Frage, wie homogen die von ihm angenommene kleinbürgerliche Ideologie überhaupt sein kann.

Produktive und unproduktive Arbeit
Darüber hinaus ergeben sich aus dem von Poulantzas getroffenen, zentralen Unterscheidungsmerkmal für das Neue KleinbürgerInnentum, die unproduktive Arbeit, einige Probleme für seine Klassentheorie. Die Debatte um produktive und unproduktive Arbeit ist eine wichtige Frage in der Marxschen politischen Ökonomie. Ob Arbeit als produktiv oder unproduktiv bezeichnet wird, „hängt nicht vom Charakter des produzierten Gebrauchswerts ab, sondern davon, ob die Ware, die ich produziere, […] zugleich Mehrwert enthält“46 oder nicht. Poulantzas bezieht sich in seinen Analysen vor allem auf Marxens Definition von produktiver Arbeit im ersten Band des Kapitals: „Die kapitalistische Produktion ist nicht nur Produktion von Ware, sie ist wesentlich Produktion von Mehrwert. […] Steht es frei, ein Beispiel außerhalb der Sphäre der materiellen Produktion zu wählen, so ist ein Schulmeister ein produktiver Arbeiter, wenn er nicht nur Kinderköpfe bearbeitet, sondern sich selbst abarbeitet zur Bereicherung des Unternehmers. Dass letzerer sein Kapital in einer Lehrerfabrik angelegt hat, statt in einer Wurstfabrik ändert nichts an dem Verhältnis. Der Begriff des produktiven Arbeiters schließt daher keineswegs bloß ein Verhältnis zwischen Tätigkeit und Nutzeffekt, Arbeiter und Arbeitsprodukt ein, sondern auch ein spezifisch gesellschaftlich, geschichtlich entstandenes Produktionsverhältnis, welches den Arbeiter zum unmittelbaren Verwertungsmittel des Kapitalisten stempelt.“47 Daraus ergibt sich, dass für Poulantzas etwa Lohnabhängige an der Kasse eines Supermarktes in jedem Fall „unproduktive Arbeit“ leisten würden und auch nach der hier von Marx dargelegten Definition, auf Grund der fehlenden Mehrwertproduktion, nicht zur ArbeiterInnenklasse gehören. Im dritten Band des Kapitals analysiert Marx jedoch die Frage von produktiver und unproduktiver Arbeit in Bezug auf die „kommerziellen ArbeiterInnen“, und argumentiert hier gegen eine Bestimmung allein auf Grund der Mehrwertproduktion: „Wie die unbezahlte Arbeit des Arbeiters dem produktiven Kapital direkt Mehrwert schafft, schafft die unbezahlte Arbeit der kommerziellen Lohnarbeiter dem Handelskapital einen Anteil an jenem Mehrwert.“48 Deutlich wird hier, dass auch unproduktive Arbeit ausgebeutet wird: „Der kommerzielle Arbeiter produziert nicht direkt Mehrwert. Aber der Preis seiner Arbeit ist durch den Wert seiner Arbeitskraft, also deren Produktionskosten, bestimmt, während die Ausübung dieser Arbeitskraft, als eine Anspannung, Kraftveräußerung und Abnutzung, wie bei jedem anderen Lohnarbeiter, keineswegs durch den Wert seiner Arbeitskraft begrenzt ist. Sein Lohn steht daher in keinem notwendigen Verhältnis zu der Masse des Profits, die er dem Kapitalisten realisieren hilft. Was er dem Kapitalisten kostet, und was er ihm einbringt, sind verschiedene Größen. Er bringt ihm ein, nicht indem er direkt Mehrwert schafft, aber indem er die Kosten der Realisierung des Mehrwerts vermindern hilft, soweit er, zum Teil unbezahlte, Arbeit verrichtet.“49 Das heißt, auch „unproduktive“ Arbeit kann ausgebeutet werden, wenn sie zur Realisierung des (im strikten Sinne nicht von ihr produzierten) Mehrwerts beträgt. Poulantzas Begriff von produktiver Arbeit und die sich für ihn daraus ergebende Definition der ArbeiterInnenklasse ist demnach zu eng gefasst.

Neues KleinbürgerInnentum und revolutionäre Politik
Die Einengung der ArbeiterInnenklasse auf produktive ArbeiterInnen, durch welche zugleich das Neue KleinbürgerInnentum zum Auffangbecken für all jene Klassenpositionen wird, die nicht mehr in die Kategorie der ArbeiterInnenklasse passen, ist auch politisch hochgradig problematisch. Gerade im Hinblick auf die politischen Schlussfolgerungen einer Klassentheorie wirft Poulantzas aber durchaus interessante Fragen auf. Er legt den Schwerpunkt auf die ideologische und politische Verortung der Mittelklassen, im Bewusstsein, dass eine klassentheoretische Bearbeitung der Mittelklassen enorm wichtig für die Frage politischer Bündnisse und Allianzen in revolutionärer Perspektive ist.50 Poulantzas erkennt, dass auch andere Klassen oder Klassenfraktionen als die ArbeiterInnenklasse selbst für die Formierung eines transformativen politischen Projektes gewinnbar sind und letztlich in ein revolutionäres politisches Projekt eingebunden werden müssen, soll dieses erfolgreich sein. Die Aufgabe der ArbeiterInnenklasse in Bündnissen sei es demnach, die Interessen der von ihm so genannten „Volksmassen“ zu beachten, aber auch die Widersprüche innerhalb dieser zu erkennen, ohne dabei das revolutionäre Ziel aus den Augen zu verlieren. Nur durch temporäre, von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen abhängige Bündnisse komme die ArbeiterInnenklasse ihrem Ziel näher.
Die Diagnose, dass ein revolutionäres Projekt nicht ohne Bündnispolitik auskommt, ist korrekt. Mit Poulantzas lässt sich allerdings nur schwer erfassen, wie sich gemeinsame Interessen und Zielvorstellungen zwischen der ArbeiterInnenklasse und bestimmten Fraktionen des Neuen KleinbürgerInnentums herausbilden können. Die Vorstellung einer gemeinsamen Ideologie der Mittelklassen scheint den von Poulantzas selbst geforderten Bündnissen geradezu entgegengesetzt. Auf Basis welcher geteilten Interessen solche Bündnisse möglich sind, bleibt in Poulantzas Konzeption vage.

Theorie der widersprüchlichen Klassenpositionen
Erik Olin Wrights Klassenanalyse hat sich vor allem in der Auseinandersetzung mit Poulantzas und den Leerstellen innerhalb seines theoretischen Entwurfes herausgebildet. Mit dem Begriff objektiv widersprüchlicher Klassenpositionen nimmt Erik Olin Wright eine Problemverschiebung vor, die wichtige politische Implikationen hat: Im Unterschied zu Poulantzas Konzeption und anderen Theorien der Mittelklassen, geht er nicht davon aus, dass alle sozialen Positionen einer einzigen Klasse zuordenbar sein müssen. Statt nach der Klassenzugehörigkeit von Gesellschaftsgruppen zu fragen, die sich schlecht in das bipolare Schema Bourgeoisie versus Proletariat einfügen lassen, versucht er auf Basis einer Analyse der ausdifferenzierten Struktur der Produktionsverhältnisse eine „Landkarte“ möglicher Klassenpositionen zu gewinnen. Seine Hauptthese ist, dass sich in diesen Strukturen Klassenpositionen ausmachen lassen, die widersprüchlich sind – insofern, als sie sich teils mit Positionen der Bourgeoisie und teils mit Positionen des Proletariats überschneiden. Um diese widersprüchlichen Positionen zu erschließen, ist es erforderlich, sich genauer mit den gesellschaftlichen Prozessen und Strukturen, die Klassenverhältnisse auf Ebene der Produktionsverhältnisse konstituieren, auseinanderzusetzen. Die von Poulantzas eingeführte Unterscheidung zwischen ökonomischem Eigentum und Besitz wird von Wright weiter ausdifferenziert. Wright argumentiert, dass es in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften zu einer Ausdifferenzierung von Kapitalfunktionen und zu einem Auseinandertreten dieser Funktionen gekommen ist, wodurch diese in Folge nicht mehr in den Händen einzelner KapitaleigentümerInnen konzentriert sind, sondern über komplexe Management-Hierarchien aufgeteilt werden.51 Zunächst unterscheidet Wright zwischen juridischem Eigentum, also dem formalen rechtlichen Titel auf Kapitaleigentum, der auch in Form von Aktienteilhabe bestehen kann, und ökonomischem Eigentum. Solange kapitalistische Produktionsverhältnisse in rechtliche Formen des Privateigentums eingebettet sind, stellt formales juridisches Eigentum eine notwendige Bedingung für ökonomisches Eigentum dar. Es ist allerdings keine hinreichende Bedingung für ökonomisches Eigentum.52 Des Weiteren bedingt die Konzentration und Zentralisation von Kapital im Akkumulationsprozess ein Auseinandertreten von Funktionen des ökonomischen Eigentums und des Besitzes. Während ökonomisches Eigentum die Kontrolle über Investitionen und Ressourcenallokation, vereinfacht ausgedrückt, die Kontrolle darüber was produziert wird, bezeichnet, bezieht sich Besitz auf die Kontrolle über den Produktionsprozess selbst, also darüber, wie produziert wird. Die Konzentration von Kapital macht zugleich aber auch interne Differenzierungen und komplexe Hierarchien innerhalb der Dimension des Besitzes, also der Kontrolle über den Produktionsprozess, erforderlich: Die Funktion der Kontrolle über die Produktionsmittel, die von unterschiedlichen Ebenen des Managements übernommen wird und die Kontrolle über die Arbeit, die von VorarbeiterInnen und anderen Aufsichtsorganen exekutiert wird, treten auseinander. Für die Bestimmung widersprüchlicher Klassenpositionen sind drei Faktoren ausschlaggebend: Die Kontrolle über die Produktionsmittel (Besitz), die Kontrolle über Arbeit (Besitz) und die Kontrolle über Investitionen und Ressourcenallokation (ökonomisches Eigentum).53
Erik Olin Wright argumentiert, dass der Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit eine Polarisierung dieser drei Aspekte darstellt: Kapital und ArbeiterInnenklasse sind jeweils am entgegengesetzten Ende dieser Kontrollverhältnisse angesiedelt. „KapitalistInnen kontrollieren den Akkumulationsprozess, bestimmen wie die materiellen Produktionsmittel verwendet werden sollen, und kontrollieren die Autoritätsstruktur innerhalb des Arbeitsprozesses. ArbeiterInnen hingegen sind von der Kontrolle über Autoritätsverhältnisse, die materiellen Produktionsmittel, und den Investitionsprozess ausgeschlossen. Diese zwei Kombinationsformen der drei Prozesse von Klassenverhältnissen konstituieren die zwei grundlegenden antagonistischen Klassenpositionen in der kapitalistischen Produktionsweise.“54

Jenseits der Hauptklassen
Auf Ebene der Produktionsweise sind auch nur diese beiden Klassenpositionen sichtbar. Wenn man aber die Stufenleiter der Abstraktion „hinunterwandert“ und sich auf die Ebene von Gesellschaftsformationen begibt, taucht eine Vielzahl anderer Klassenpositionen auf. Wright nennt zwei Gründe, warum sich das Spektrum möglicher Klassenpositionen erweitert:
Erstens umfassen Gesellschaftsformationen mehr als nur eine einzige Produktionsweise. Mindestens eine zusätzliche Klasse tritt damit aufs Tapet der Analyse: das KleinbürgerInnentum, das auf einfacher Warenproduktion als einer untergeordneter Produktionsweise beruht. Bauern/Bäuerinnen wären weitere mögliche KandidatInnen für „vorkapitalistische“ Klassen in kapitalistischen Gesellschaften.55
Zweitens gehen die drei oben beschriebenen Dimensionen der Kontrolle nicht immer Hand in Hand. Kontrolle über Arbeit impliziert nicht automatisch auch Kontrolle über die Investitionsflüsse, und umgekehrt. Aus solchen Verwerfungen ergeben sich jene Positionen, die Erik Olin Wright als widersprüchliche Klassenpositionen bezeichnet: Diese weisen Überschneidungen mit verschiedenen Klassen auf und sind quasi „zwischen ihnen“ angesiedelt. Zwischen den drei „Hauptklassen“ oder reinen Klassenpositionen in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften (Bourgeoisie, Proletariat, KleinbürgerInnentum) macht Wright eine Reihe solcher widersprüchlicher Klassenpositionen aus.
1. Zwischen Bourgeoisie und Proletariat ist ein ganzes Spektrum von Positionen angesiedelt, die entweder der Bourgeoisie oder dem Proletariat näher stehen: Top-ManagerInnen stehen der Bourgeoisie am nächsten, da sie zwar über kein ökonomisches Eigentum an Produktionsmitteln verfügen, aber Kontrolle über Arbeit und Produktionsmittel innehaben. Funktionen des mittleren Managements, „TechnokratInnen“ und Aufsichtsorgane haben ein Minimum an Kontrolle über die eigene Arbeit und die von „Untergebenen“, üben aber kein Kommando über den Produktionsprozess aus. Am anderen Ende des Spektrums, nahe der Position des Proletariats, sind VorarbeiterInnen angesiedelt, die zwar keine oder nur eine geringe Kontrolle über die Produktionsmittel innehaben, allerdings Kontrolle über Arbeit ausüben, wenn auch nur als Transmissionsriemen für Anordnungen „von Oben“.56
2. Zwischen KleinbürgerInnentum und Proletariat macht Wright die widersprüchliche Klassenposition der semiautonomen Lohnarbeit aus. Dies betrifft alle Gesellschaftsgruppen, die zwar lohnabhängig sind, die jedoch in ihrer unmittelbareren Arbeitsumgebung eine zumindest minimale Kontrolle über ihre Arbeitsbedingungen innehaben, also ein gewisses Maß an Entscheidungskapazität darüber, was und wie sie produzieren. Wright vermerkt, dass ein Großteil der Angestellten – „white-collar workers“ – höchstens eine triviale Form der Kontrolle über die eigene Arbeit ausübt und darum nicht der semi-autonomen Lohnarbeit, sondern dem Proletariat zuzurechnen ist.57
3. Zwischen KleinbürgerInnentum und Bourgeoisie sind die KleinunternehmerInnen angesiedelt. Diese beuten zwar freie Lohnarbeit aus und verfügen über die Kontrolle über Arbeit und Produktionsmittel, leisten jedoch auch durch die eigene Arbeit einen Beitrag zum Mehrprodukt.
Die Liste widersprüchlicher Klassenpositionen wäre sicherlich erweiterbar. Relevanter als die Frage, welche Gesellschaftsgruppen wie in Wrights Analyseschema eingeordnet werden können, ist allerdings die, wie sich der von Wright gewählte Fokus auf Funktionen der Kontrolle über Arbeit, Produktionsmittel und Investitionen mit anderen Bestimmungen von Klasse, vor allem jenen, die über das Ausbeutungsverhältnis verlaufen, vereinen lässt. Erik Olin Wrights Ansatz wurde oft dahingehend kritisiert, dass er die Frage der Ausbeutung zu Gunsten einer Analyse von Kontrollfunktionen und Herrschaft aufgebe.58 Ausgehend von Bensaïds methodischem Vorschlag, die schrittweise Einführung zusätzlicher Bestimmungen als Prozess zunehmender Konkretion und Komplexität zu denken, lässt sich allerdings nach einer Perspektive suchen, von der aus die Einheit dieser Bestimmungen deutlich wird.

Das Problem der Ausbeutung
Der britische Marxist Alex Callinicos weist mit seinen Anmerkungen zur „Neuen Mittelklasse“ in diese Richtung: er übernimmt Wrights Begriff der widersprüchlichen Klassenpositionen und setzt diesen zum Konzept der Ausbeutung in Beziehung. Callinicos argumentiert mit Wright, dass auch unproduktive Arbeit vom Kapital ausgebeutet werden kann, sofern Mehrarbeit extrahiert wird, die zwar nicht auf Kapitalseite als Mehrwert aufscheint, aber die Kosten für die Realisierung des Mehrwerts für das Kapital senkt.59 Diese Analyse trifft laut Callinicos aber nicht auf jene widersprüchlichen Klassenpositionen zu, die für das Kapital Funktionen der Kontrolle über Arbeit und Produktionsmittel übernehmen. „Das Ausmaß, in dem jene, die widersprüchliche Klassenpositionen einnehmen, ihre Position von der Entscheidungsfreiheit erhalten, die ihnen das Kapital zuspricht, reflektiert sich im großen Gefälle zwischen ihrem Einkommen und dem Einkommen von normalen Angestellten und ArbeiterInnen.“60 Das Einkommen von ManagerInnen und Aufsichtsorganen enthält ein Element, das weit über die Kosten der Reproduktion der Ware Arbeitskraft hinausgeht. Dieses Argument lässt sich aus Perspektive der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion zuspitzen: Das Einkommen, das InhaberInnen von Kontrollfunktionen beziehen, bemisst sich nicht am Wert der Ware Arbeitskraft, sondern an der Ausführung von Funktionen des Gesamtkapitals und speist sich direkt aus Revenuequellen. Das bedeutet, dass bestimmte Segmente der „Mittelklassen“ nicht ausgebeutet werden. Wie im dritten Band des Kapitals ausgeführt, verweisen die Funktionen des Gesamtarbeiters und des Gesamtkapitals auch auf zwei verschiedene Einkommensquellen: Während die ArbeiterInnenklasse auf ein Einkommen durch Lohnarbeit angewiesen ist, speist sich das Einkommen der KapitalistInnen aus den Revenuen der Kapitalakkumulation. Die Widersprüchlichkeit von Klassenpositionen kann also auch in der Dimension von Einkommensquellen gedacht werden, wenn sich etwa das Einkommen bestimmter zwischen Bourgeoisie und Proletariat angesiedelten Klassenlagen sowohl aus Lohnarbeit, als auch aus Revenuequellen speist.
Auch wenn diese Anmerkungen kursorisch bleiben, so geht aus ihnen doch hervor, dass die unterschiedlichen Elemente einer Bestimmung von Klassenverhältnissen – Ausbeutungsverhältnis, Lohnarbeitsverhältnis, produktive/unproduktive Arbeit, Kontrollfunktionen, Einkommensquellen – nicht voneinander abgespalten und einzeln verabsolutiert werden dürfen, sondern erst in ihrer Einheit zu einer Bestimmung der Klassenstruktur entwickelter kapitalistischer Gesellschaften beitragen können. Was in Erik Olin Wrights Analyse fehlt – und hier auch nicht geleistet werden kann – ist eine Auseinandersetzung mit der Rolle der Staatsapparate und eine Ausdehnung der Konzeption widersprüchlicher Klassenpositionen auf Staatsangestellte und Reproduktionsarbeit. Darüber hinaus wurde oft kritisiert, dass Wrights Ansatz auf die formale und statische Ausarbeitung einer „Landkarte“ von Strukturpositionen hinausläuft. Diese wäre weder in der Lage, die historischen Prozesse, durch die bestimmte Klassenverhältnisse geschaffen, aufrechterhalten oder transformiert werden, zu analysieren, noch könne sie die konkreten Dynamiken der Klassenformierung erfassen.61 Dass die Konzeption widersprüchlicher Klassenpositionen dennoch bedeutende Implikationen für den Versuch hat, zu einer Einschätzung von Klassenformierungsprozessen und der Herstellung strategischer Klassenbündnisse zu gelangen, wollen wir im Folgenden zeigen.

Interessen, Erfahrungen, Bündnisse
Zunächst können wir uns mit dem erweiterten Konzept der widersprüchlichen Klassenpositionen gegen einige problematische Tendenzen in der (marxistischen) Klassentheorie wenden:
1. Die wohl bedeutendste Schlussfolgerung, die sich aus dem Vorkommen solcher widersprüchlichen Klassenpositionen ziehen lässt, ist die, dass der Begriff der Mittelklassen im Grunde verfehlt ist: Die Mittelklasse stellt keine eigene Klasse dar, zumindest nicht in dem Sinne, in dem sich Bourgeoisie und Proletariat als Klassen konstituieren. Widersprüchliche Klassenpositionen weisen darum auch keine zusammenhängenden Interessen auf. „ArbeiterInnen und KapitalistInnen haben jeweils eine ganz bestimmte und kohärente Menge von Interessen, die aus ihrer Position in den Produktionsverhältnissen hervorgehen. Dies ist nicht der Fall für die ‚Neuen Mittelklassen‘, gerade deshalb, weil sie widersprüchliche Klassenpositionen einnehmen, die sie in zwei entgegengesetzte Richtungen ziehen – im Falle von ManagerInnen und Aufsichtsorganen weg von oder hin zu Bourgeoisie oder Proletariat, im Falle von semi-autonomen Angestellten weg von oder hin zum KleinbürgerInnentum oder zum Proletariat.“62 Damit kann auch gegen Theorien argumentiert werden, die alle Lohnabhängigen, ohne jede innere Differenzierung, als Teil der ArbeiterInnenklasse definieren.
2. Umgekehrt haben wir versucht zu zeigen, dass die Theoretisierung der Ausbeutung und das Zusammendenken unterschiedlicher Bestimmungen von Klasse zentral ist, um der Reduktion der ArbeiterInnenklasse auf produktive ArbeiterInnen entgegentreten zu können.
3. Vom Begriff widersprüchlicher Klassenpositionen ausgehend lässt sich auch Poulantzas’ These einer gemeinsamen Ideologie des Neuen KleinbürgerInnentums neu bewerten: Einerseits scheint es unwahrscheinlich, dass sich die im Neuen KleinbürgerInnentum undifferenziert zusammengeworfenen Positionen – von prekarisierten semi-autonomen LohnarbeiterInnen bis zu ManagerInnen – gemeinsam als Klasse mit einer distinkten Ideologie formieren. Andererseits steht dem nicht entgegen, dass es ideologische Faktoren und Elemente gibt, welche die Selbstwahrnehmung bestimmter Gesellschaftsgruppen (einschließlich bestimmter Fraktionen der ArbeiterInnenklasse) und deren Selbsteinordnung in soziale Hierarchien mitbestimmen; so etwa die Trennung von manueller und kognitiver Arbeit, die Perspektive von Aufstiegsbiographien oder ein individualistischer Leistungsglaube. Diese Faktoren und Elemente erschweren eine gemeinsame Organisierung von ArbeiterInnen und InhaberInnen bestimmter, dem Proletariat nahestehender widersprüchlicher Klassenpositionen.
4. Zuletzt stellt sich die Frage, welchen Nutzen der Begriff widersprüchlicher Klassenpositionen auf der „konkretesten“ Abstraktionsebene hat, also jener der historischen Konjunktur, auf der die Fragen von Gesellschaftsstruktur und Klassenformierung notwendigerweise ineinander übergehen. Der Begriff der Erfahrung wird hier zu einem zentralen Element politisch strategischer Überlegungen. Wie zuvor ausgeführt, weisen widersprüchliche Klassenpositionen einerseits Interessenüberschneidungen mit dem Kapital auf, andererseits aber lassen sich politisch Gemeinsamkeiten mit proletarischen Interessen herstellen, wobei die relative Nähe zu Positionen dieser beiden Klassen für verschiedene widersprüchliche Positionen unterschiedlich ausfällt. Es ist freilich nicht ausreichend, bei einer Identifikation partieller Interessenkonvergenzen stehen zu bleiben. Objektive Interessen übersetzen sich nicht eins zu eins in konkrete politische Projekte. Interessenkonvergenzen lassen sich dort herstellen, wo geteilte Klassenlagen auch ähnliche Erfahrungen bedingen. Dieselben gesellschaftlichen Strukturpositionen erzeugen der Tendenz nach ähnliche Erfahrungen, so etwa jene, keine oder nur minimale Kontrolle über den eigenen Arbeitsprozess inne zu haben, die Erfahrung sozialer und ökonomischer Unsicherheit, oder die Erfahrung in permanente Konkurrenzverhältnisse gesetzt zu sein. Solche Erfahrungen ruhen auf ähnlichen Lebensrealitäten auf und werden durch die eigene Positioniertheit in gesellschaftlichen Verhältnissen geformt. Wie diese Erfahrungen aber erlebt, interpretiert, mit Bedeutung versehen und zu permanenten Haltungen – dem jeweiligen Selbst- und Weltverständnis – verdichtet werden, ist jedoch stets von gesellschaftlich verfügbaren Deutungsmustern und damit von politisch-ideologischen Kräfteverhältnissen abhängig. Die Erfahrung sozialer Unsicherheit etwa übersetzt sich darum nicht automatisch in ein emanzipatorisches politisches Projekt. Sie kann umgekehrt auch von rechts aufgegriffen mit z.B. Forderungen nach „Leistungsgerechtigkeit“ beantwortet werden. Im Kontext von Prozessen der Klassenformierung ist darum stets die ideologische Verarbeitung dieser Erfahrungen und die Entwicklung politischer Antworten auf dieselben ausschlaggebend.

Conclusio
Wir haben in diesem Artikel argumentiert, dass Erik Olin Wrights Konzept der widersprüchlichen Klassenpositionen eine überzeugende Grundlage für eine differenzierte marxistische Klassentheorie darstellt. Dafür sprechen ein theoretisches und ein politisches Argument.
Das theoretische Argument, das wir ausgeführt haben, geht von der Überzeugung aus, dass das Problem der Mittelklassen nur im schrittweisen Durchlaufen von verschiedenen Abstraktionsebenen bearbeitet werden kann. Die Konzeption widersprüchlicher Klassenpositionen erlaubt es einerseits an der Diagnose festzuhalten, dass der Antagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat – der auf der höchsten Abstraktionsebene, nämlich jener der Analyse der kapitalistischen Produktionsweise sichtbar wird – den für die gesamtgesellschaftliche Dynamik zentralen Interessenkonflikt darstellt. Andererseits aber ist sie dazu in der Lage, die Komplexität und konkrete Ausdifferenziertheit von Klassenpositionen in kapitalistischen Gesellschaften zu fassen. und ein politisches Argument.
Das theoretische Argument, das wir ausgeführt haben, geht von der Überzeugung aus, dass das Problem der Mittelklassen nur im schrittweisen Durchlaufen von verschiedenen Abstraktionsebenen bearbeitet werden kann. Die Konzeption widersprüchlicher Klassenpositionen erlaubt es einerseits an der Diagnose festzuhalten, dass der Antagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat – der auf der höchsten Abstraktionsebene, nämlich jener der Analyse der kapitalistischen Produktionsweise sichtbar wird – den für die gesamtgesellschaftliche Dynamik zentralen Interessenkonflikt darstellt. Andererseits aber ist sie dazu in der Lage, die Komplexität und konkrete Ausdifferenziertheit von Klassenpositionen in kapitalistischen Gesellschaften zu fassen.
Das politische Argument basiert auf der Feststellung, dass widersprüchliche Klassenpositionen auch widersprüchliche Erfahrungs- und Interessenlagen bedingen.
Es ist demnach eine zentrale politische Aufgabe, in konkreten Projekten, die Interessenkonvergenzen zwischen Proletariat und anderen Klassenpositionen als Grundlage gemeinsamer Bündnisse herauszustellen. Ein politisches Projekt, das an die gemeinsamen Interessen progressiver Teile der widersprüchlichen Klassenlagen anknüpft, muss dabei trotz der Pluralität organisierter Positionen von working class politics ausgehen und die Interessen jener, denen die kapitalistische Klassengesellschaft die Kontrolle über ihre eigene, lebendige Arbeit nimmt, ins Zentrum stellen.

Anmerkungen:
1 Marx, Karl: Das Kapital, Bd. 3, MEW 25, S. 893
2 Bensaïd, Daniel: Marx for Our Times. Adventures and Misadventures of a Critique. London: Verso 2002, S. 97
3 Marx, Karl/Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 30
4 Ebd., S. 52
5 Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW 8, S. 111
6 Ebd.
7 Marx, Karl/Engels, Friedrich: Das Manifest der kommunistischen Partei, MEW 4, S. 463.
8 Als „Bonapartismus“ werden, im Anschluss an Marxens Analyse der Diktatur Louis Bonapartes („Napoleon III.“), autoritäre Herrschaftsformen bezeichnet, die sich auf Basis eines Gleichgewichts der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse durchsetzen. Sie stellen „Ausnahmeformen“ bürgerlicher Herrschaft dar, in denen „die Staatsgewalt als scheinbare Vermittlerin momentan eine gewisse Selbständigkeit gegenüber beiden [kämpfenden Klassen] erhält“ (Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, MEW 21, S. 167). Vgl. Lichtenberger, Hanna/Duma, Veronika/Boos, Tobias: Hinter dem Faschismus steht… ?, in: Perspektiven Nr. 12 (2010), 28-37
9 MEW 8, S. 111
10 MEW 25, S. 892
11 Wright, Erik Olin: Was bedeutet neo und was heißt marxistisch in der neomarxistischen Klassenanalyse?. in: Strasser, Hermann/ Goldthorpe, John H. (Hg.): Die Analyse sozialer Ungleichheit. Opladen: VS Verlag 1985, S. 238-266, hier: 240f.
12 Bensaïd: Marx for our Times a.a.O., S. 99
13 Wright, Erik Olin: Classes. London: Verso 1985, S. 9-10
14 Bensaïd: Marx for our Times a.a.O., S. 114
15 Ebd., S. 114f.
16 Wright: Classes a.a.O. S. 10f.
17 Bensaïd: Marx for Our Times, a.a.O. S.97
18 Marx, Karl: Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13,
S.632
19 MEW 25, S.33
20 MEW 13, S. 632
21 Althusser, Louis: Marx‘ Denken im Kapital; in: Prokla 50 (1983), S.130-147
22 Bensaïd: Marx for Our Times a.a.O., S.111
23 Marx, Karl: Das Kapital Bd. II, MEW 24, S.37
24 MEW 23, S. 532
25 Revenuequellen sind die Quellen eines jeden regelmäßigen Einkommens, das für den Lebensunterhalt benutzt wird. In diesem allgemeinen Sinn ist auch der Lohn, den ArbeiterInnen beziehen, Revenue. KapitalistInnen entnehmen ihre Revenue dem am Markt realisierten Mehrwert. Der Begriff der Revenue wird bei Karl Marx (wie in der klassischen politischen Ökonomie) aber auch in einer engeren Definition verwendet und mit dem Einkommen der KapitalistInnen gleichgesetzt. Wir übernehmen in diesem Artikel die Diktion von Marx: wenn von „Revenue“ ohne zusätzlicher Qualifikation die Rede ist, so ist damit das Einkommen aus Mehrwert gemeint.
26 Bensaïd: Marx for Our Times a.a.O., S.108
27 MEW 25, S.207
28 Ebd., S.893
29 Bensaïd: Marx for Our Times a.a.O., S.111
30 Ebd.
31 Wright: Classes a.a.O. S.13
32 Bensaïd: Marx for Our Times a.a.O., S.100
33 Hirsch, Joachim: Materialistische Staatstheorie. Transformationsprozesse des kapitalistischen Staatensystems. Hamburg: VSA-Verlag 2005, S. 133-134
34 Ehrenreich, Barbara/Ehrenreich, John: The Professional Managerial Class, in: Radical America 11 (1977), S. 7-31
35 Wright: Was bedeutet…, a.a.O., S. 245
36 Poulantzas, Nicos: Zum marxistischen Klassenbegriff. Berlin: Merve-Verlag 1973, S. 25
37 Cox, Robert W.: Soziale Kräfte, Staaten und Weltordnungen. Jenseits der Theorie Internationaler Beziehungen, in: Opratko, Benjamin/Prausmüller, Oliver (Hg.): Gramsci global. Neogramscianische Perspektiven in der Internationalen Politischen Ökonomie. Hamburg: Argument 2011 (i.E.); Cox, Robert W.: Production, Power and World Order. Social Forces in the Making of History. New York: Columbia University Press 1987, S. 359f.
38 Wright: Was bedeutet…, a.a.O., S. 244
39 Mallet, Serge: Die neue Arbeiterklasse. Neuwied/Berlin: Luchterhand 1972, S. 16f.
40 Opratko, Benjamin: Sei spontan, träum’ den Kommunismus!, in: Perspektiven Nr. 3 (2007), S. 10-17
41 Poulantzas: Zum marxistischen Klassenbegriff, a.a.O., S. 7
42 Ebd., S. 23
43 Ebd., S. 24
44 Ebd.
45 Ebd., S. 25
46 Heinrich, Michael: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung. Stuttgart: Schmetterling 2004, S. 121
47 MEW 23, S. 532
48 MEW 25, S. 305
49 MEW 25, S. 311
50 Poulantzas, Nicos: Zum marxistischen Klassenbegriff, a.a.O., S. 17
51 Wright, Erik Olin: Class, Crisis and the State. London: Verso 1979, S.68-70
52 Ebd., S.69-79
53 Ebd., S.73
54 Ebd., S.73
55 Ebd., S.74
56 Ebd., S.75-79
57 Ebd., S.81
58 Vgl. z.B. Meiksins, Peter: A Critique of Wrights Theory of Contradictory Class Locations, in: Critical Sociology, 15(1) (1988), S. 73-82. Erik Olin Wright hat auf diese Kritiken selbst mit einem misslungenen Versuch geantwortet, die Ausbeutung als zentrales Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit wieder in den Blick zu bekommen. Allerdings fasst Wright den Ausbeutungsbegriff hier spieltheoretisch auf; Ausbeutung besteht ihm zu Folge dann, wenn der Reichtum einer Klasse kausal mit der Armut einer anderen Klasse verbunden ist. Indem Wright den Begriff der Ausbeutung auf Ebene der Distribution statt auf Ebene der Produktion ansiedelt, fällt er jedoch weit hinter die Marxschen Begrifflichkeiten zurück (vgl. das Postskript von Wright in „Was bedeutet…“, a.a.O., 256ff.).
59 Callinicos, Alex: The New Middle Class and Socialist Politics; in: ders./
Harman, Chris: The Changing Working Class. Essays on Class Structure
Today. London: Bookmarks 1987, S. 13-51, hier S.19-20
60 Callinicos: The New Middle Class, a.a.O. S. 33
61 Callinicos: The New Middle Class, a.a.O. S.29
62 Callinicos: The New Middle Class, a.a.O.S.35





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