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Poulantzas verstehen
von Mario Becksteiner

Rezension: Lars Bretthauer/Alexander Gallas/John Kannankulam/ Ingo Stützle: Poulantzas lesen. Zur Aktualität marxistischer Staatstheorie. Hamburg: VSA 2006. 21,40 €

Der Sammelband „Poulantzas lesen“ ist eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Werk des griechisch-französischen Marxisten Nicos Poulantzas. 1936 in Athen geboren und ab Anfang der 60er Jahre in Frankreich tätig, beschäftigte er sich zu Beginn seiner akademischen Laufbahn vor allem mit Fragen des Rechts. Bald jedoch, inspiriert vor allem von Louis Althusser (aber auch anderen Theoretikern – etwa Michel Foucault) entwickelte er intensive Forschungstätigkeiten zu den Fragen des Staates und der Klassen in kapitalistischen Gesellschaften, die er bis zu seinem vorzeitigen Tod 1979 fortsetzte.

Das für viele wichtigste Werk von Poulantzas ist das 1978 erschienene „L’Etat, Le Pouvoir, Le Socialisme“ („Der Staat, die Macht, der Sozialismus“ – auf Deutsch 2002 schlicht als „Staatstheorie“ neu aufgelegt). Marx folgend war seine wichtigste Erkenntnis, dass der Staat die materielle Verdichtung gesellschaftlicher Verhältnisse sei. Damit stellte er sich klar gegen deterministische Verkürzungen, die den Staat in einem starren Basis-Überbau-Schema zu fassen versuchten. Poulantzas verwarf diese Auffassungen und entwickelte ein Verständnis des Staates, das der Widersprüchlichkeit staatlicher Politik und den Gegensätzen der im Staat vertretenen Klassen und Klassenfraktionen Rechnung trägt.

Poulantzas lieferte scharfsinnige marxistische Analysen zu einer Zeit, in der sich die fordistischen Gesellschaften in einer tiefen Krise befanden. „Er thematisierte die Auflösungserscheinungen der fordistischen Entwicklungsweise, bevor es infolge des Bruchs von 1989 zu tektonischen Verschiebungen innerhalb linker Diskurse kam“ (8). Nach den dunklen Dekaden der 1980er und 1990er Jahren haben heute marxistische Debatten wieder Eingang gefunden in breitere gesellschaftliche Zusammenhänge. Im Zuge der antikapitalistischen Bewegung rücken auch die Fragen von Staat und gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Der vorliegende Diskussionsband trägt diesem neuen Interesse Rechnung. Er bietet eine hervorragende und kritische Auseinandersetzung mit Poulantzas’ Werk.

Der erste Teil des Buches beschäftigt sich mit methodischen und erkenntnistheoretischen Fragen. Poulantzas’ Schaffen wir dabei innerhalb der marxistischen Tradition in der Nähe Louis Althussers verortet, es wird aber auch aufgezeigt inwiefern Poulantzas über den klassischen marxistischen Strukturalismus hinausgeht. Clyde W. Barrow etwa zeichnet in seinem Beitrag die theoretische Entwicklung von Poulantzas nach und betont dabei seine Nähe zum „historischen Strukturalismus“ (32-47). In einem weiteren Beitrag dieses ersten Teils wird das Verhältnis von Poulantzas’ Staatstheorie zur deutschen „Staatsableitungsdebatte“ näher erläutert. Dabei wird versucht, zwei marxistische Ansätze zur Fassung des kapitalistischen Staates einander näher zu bringen. Während Poulantzas auf Ebene der Formbestimmung laut Hirsch und Kannankulam einige Lücken aufweist, die mit Hilfe der Staatsableitung geschlossen werden können, kann der Ansatz von Poulantzas die hohe Abstraktionsebene der Staatsableitung relativieren (65-81).

Im zweiten Abschnitt wird zunächst diskutiert, wie nach Poulantzas Macht und Herrschaft mit dessen Klassen- und Strukturanalysen gedacht werden können (Koch, 120-136). Im Anschluss daran konfrontieren die AutorInnen Poulantzas mit anderen theoretischen Strömungen und versuchen, ihn in einer konstruktiven Auseinandersetzung etwa mit feministischen Theorien (Nowak, 137-153), Michel Foucault (Lindner, 154-170) oder den Rechtstheoretikern Franz Neumann und Eugen Paschukanis (Buckel, 171-187) zu positionieren.

Im dritten Teil werden die Dimensionen Raum und Zeit für den kapitalistischen Staat behandelt. So zeigt Hans Jürgen Bieling in seinem Beitrag, dass Poulantzas für die Fassung des europäischen Integrationsprojekts einen wichtigen Beitrag liefern kann, besonders in der Frage von Verdichtung von Kräfteverhältnissen jenseits von Nation (223-239).

Im letzten Teil wird ein schärferer Blick auf die Konzeptionen von (Staatlichkeits-) Krise und Transformation sowie auf die sich daraus ableitenden politischen Strategien geworfen. Peter Thomas diskutiert in seinem Beitrag (307- 322) Poulantzas‘ Gramsci-Rezeption und dessen Kritik an Gramscis Strategiebegriff, den Poulantzas im Leninschen Konzept der „Doppelherrschaft“ gefangen sieht. Dass Poulantzas und Gramsci in Fragen der Strategie jedoch gar nicht so weit auseinander liegen, wie es scheinen mag, unterstreicht Thomas, indem er die Gemeinsamkeiten des strategisch-relationalen Denkens von Poulantzas und Gramsci in Bezug auf den Begriff des integralen Staates betont.

An diesem Buch Kritik zu üben ist wahrlich kein leichtes. Einerseits gibt es einen hervorragenden Einblick in das Schaffen von Nicos Poulantzas, gleichzeitig ist es für den/die LeserIn beinahe unmöglich, sich die Texte zu erschließen, wenn nicht schon ein gewisses Vorwissen vorhanden ist. Das Buch ist dezidiert kein EinsteigerInnenbuch, und wer sich eine leicht verdauliche Einführung in das Werk von Poulantzas erwartet, wird sicherlich enttäuscht. Des Weiteren ist klar zu erkennen, dass die meisten AutorInnen einen bundesdeutschen akademischen Hintergrund haben. Durch den gesamten Band ziehen sich immer wieder Anmerkungen und Referenzen die sehr stark von der spezifischen deutschen Debatte rund um die „Staatsableitung“ (vgl. die Rezension zu Joachim Hirsch: Materialistische Staatstheorie, in: Perspektiven Nr. 1) geprägt sind. Dies ist sicherlich spannend, erleichtert allerdings das Lesen nicht gerade für jemanden, der/die sich noch nicht mit der Marxschen Formanalyse beschäftigt hat. Was allerdings nicht unbedingt ein Nachteil sein muss – der Band ist ohne Zweifel eine große Anregung zum Weiterlesen. Nicht nur, um sich intensiver mit Nicos Poulantzas zu beschäftigen, sondern auch um in andere Bereiche marxistischer Theoriebildung vorzustoßen.





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