Artikel drucken Twitter Email Facebook

Der neoliberale Leviathan
von Julia Hofmann

Rezension: Wacquant, Loïc: Bestrafen der Armen. Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit, Opladen: Verlag Barbara Budrich 2009, 359 Seiten, € 30,80

In seinem Buch Bestrafen der Armen geht der franco-amerikanische Soziologe Loïc Wacquant der Frage nach, warum das Gefängnis als Bestrafungsund Disziplinierungsinstrument in den letzten Jahrzehnten so stark an Zuspruch gewonnen hat. Wurde bis in die 1970/80er Jahre immer wieder versucht, alternative Formen der Bestrafung zu finden, wird der Ausbau der Gefängnisse seither massiv in Gang gesetzt, konstatiert Wacquant. Der Soziologe erklärt sich dieses Comeback des Gefängnisses mit dessen integrativer Rolle für den neoliberalen Staat. Entgegen klassischer Annahmen würde der Neoliberalismus nämlich keinen schlanken, sondern einen strafenden Staat benötigen, vor allem um die Opfer, die er selbst produziert, in Zaum zu halten.
Wacquant zufolge besteht eine enge Verknüpfung zwischen bestimmten Phasen kapitalistischer Entwicklung und der zu dieser Zeit dominanten sozial- und innenpolitischen Linie. Diese Verknüpfung ist jedoch nicht rein politökonomisch zu verstehen. Aufgabe von Sozial- und Innenpolitik ist es zwar einerseits, für die Regulierung und Reproduktion der ArbeiterInnenklasse zu sorgen, jedoch andererseits auch, diese zu disziplinieren und „in unwürdige und würdige ArbeiterInnen“ (16) zu spalten. Um dieses politische Argument auch theoretisch zu begründen, empfiehlt Wacquant eine Integration materialistischer Ansätze, die dem Verhältnis von Produktions- und Strafssystem nachgehen, mit symbolischen Ansätze, welche die Rolle von sozialen Demarkationslinien besonders betonen: „[Wir] müssen den Bruch mit der eng materialistischen Sicht der politischen Ökonomie des Strafens vollziehen, um die nachhaltigen Wirkungen des Systems der Strafjustiz als kultureller Motor und Ursprung von sozialen Grenzziehungen, gesellschaftlichen Normen und moralischen Aufwallungen erfassen zu können.“ (17) In den vier Haupteilen des Buches („Elend des Wohlfahrtsstaates“, „Größe des Strafrechtsstaates“, „Primäre Zielgruppen“ und „Europäische Deklinationen“) versucht Wacquant diesem Integrationsanspruch gerecht zu werden. Der Wandel des amerikanischen Wohlfahrtstaates vom fürsorgenden zum strafenden Staat wird daher beispielsweise einerseits auf die notwendigen ökonomischen Anpassungen im Übergang vom Fordismus zum Postfordismus zurückgeführt, sowie andererseits auf seine symbolische Kontroll- und Sanktionsfunktion in Zeiten wachsender sozialer Unsicherheit.
Spannend ist Wacquants konsequentes
Zusammendenken von sozial- und innenpolitischen Maßnahmen. Prisonfare und workfare sind für ihn nur zwei Seiten derselben Medaille. Beide sind Instrumente des neoliberalen Staates zur Wiederherstellung von sozialer Ordnung. Beide zielen auf die gleiche Gruppe von Personen ab: auf die vom neoliberalen System Ausgestoßenen. Zwar ist dieser Gedanke, Wacquant zufolge, gar nicht so neu. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass das Gefängnis seit dem 16. Jahrhundert dafür da war, die Nicht-Besitzenden und Vagabunden unter Kontrolle zu halten, doch wurde seit dem 18. Jahrhundert konsequent versucht, Sozial- und Innenpolitiken auseinander zu dividieren. Gerade der moderne Wohlfahrtsstaat zielte in seiner Sozialpolitik ja auch auf andere Teile der Bevölkerung ab, als das moderne Bestrafungssystem. Durch den Neoliberalismus fällt jedoch ein größerer Teil der Bevölkerung aus der Zone der sozialen Integration hinaus. Diese gilt es aus Sicht der Herrschenden nun zu disziplinieren und zu bestrafen. (61ff.)
Das Buch sticht insbesondere durch seinen Reichtum an empirischem Material hervor. Wacquant hat sich die 4800 Strafanstalten des amerikanischen Gefängnissystems genau im Hinblick auf den Verlauf der Häftlingspopulationen, der Arten der Strafen sowie der sozialen Zusammensetzung der Häftlinge angesehen. Er beobachtet seit den 1970er Jahren nicht nur eine Strafverschärfung (bei gleichbleibender Kriminalität), sondern auch eine zunehmende strafrechtliche Überwachung außerhalb der Gefängnisse. Besonders afroamerikanische Jugendliche werden von der Polizei vermehrt überwacht. Wie andere GefängnisforscherInnen betont auch Wacquant die Rolle von privatisierten Gefängnissen für die US-Wirtschaft. Weniger die Resozialisierung der Häftlinge ist die Funktion der Gefängnisse, sondern die Bereitstellung billiger Arbeitskräfte. (131ff.) Hinsichtlich der Zielgruppen amerikanischer Gefängnisse identifiziert Wacquant zwei als zentral: das (vorwiegend afroamerikanische) Subproletariat der urbanen Ghettos sowie Sexualstraftäter. Wacquant argumentiert, dass das Gefängnissystem daher wohl die Aufgabe hat, die „aufgeweichte Kastenspaltung zwischen Weißen und Schwarzen neu zu zementieren“ (207). Gegen Sexualstraftäter wird Wacquant zufolge deswegen so stark vorgegangen, weil die Beschwörung ihres Gefahrenpotentials die moralische Geschlossenheit der puritanischen Mehrheitsgesellschaft bestärken hilft.
Die Fülle an empirischem Material kann aber nicht über das große Manko von Bestrafen der Armen hinwegtäuschen. Wacquant kann auf die an seine Untersuchungen anschließenden politischen Fragen keine Antwort geben. Politischer Widerstand gegen die rassistische, auf eine Spaltung der ArbeiterInnenklasse abzielende Bestrafungs- und Disziplinierungspolitik, wie beispielsweise in Form von Gefängnisrevolten oder Antirepressionskampagnen, wird in diesem Buch ebenso wenig thematisiert wie Strategien grundlegender politischer Veränderung. Gerade in Zeiten von zunehmender Überwachung, Zero-Tolerance-Politiken und wachsenden Sicherheitsdiskursen ist Bestrafen der Armen trotzdem ein absolut aktuelles und lesenswertes Buch.





Artikel drucken Twitter Email Facebook