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Wo arbeitet die argentinische Demokratie?
von Tobias Boos

Rezension:Blank, Martina: Zwischen Protest und trabajo territorial. Soziale Bewegungen in Argentinien auf der Suche nach anderen Räumen, Berlin: Verlag Walter Frey 2009, 300 Seiten, € 28,00

Der Vergleich zwischen der Krise sowie den Aufstände in Griechenland und den Ereignissen 2001 in Argentinien wird derzeit viel bemüht. Der Fokus liegt hierbei zumeist auf den wirtschaftspolitischen Problemstellungen und der Rolle internationaler Finanzinstitutionen. In Bezug auf Argentiniendominierte jedoch nicht immer ein derart makroperspektivischer Blick. Vielmehr galt Argentinien vielen Linken deshalb als interessant, weil es sich von einem Versuchslabor für neoliberale Umstrukturierungspläne zu einem Experimentierfeld für neue Formen kollektiver Organisierung gewandelt hatte. Dass mit der Zeit immer weniger von Projekten wie den Tauschringen oder fabricas recuperadas (besetzte und selbstverwaltete Fabriken) zu vernehmen war, lag u. a. an der erfolgreichen Doppelstrategie der Regierung(en) Kirchner, radikale Bewegungsteile zu kriminalisieren, gemäßigtere hingegen (klientelistisch) in ein neues hegemoniales Projekt einzubinden.
Im Zuge der Aufarbeitung, die auf die erste Ernüchterung folgte, eröffneten sich neue Fragen: Woher kamen die Massen? Wo und wie organisierten sie sich? Wo waren die unterschiedlichen Bewegungsteile räumlich verankert? Und vor allem „[w]o wurde wann mit wem oder was wie interagiert und wie entwickelte sich diese Interaktion langfristig?“(90) Diesen Fragen geht Martina Blank in ihrer 2009 erschienenen Dissertation nach. Von besonderem Interesse ist für sie hierbei die räumliche Dimension kollektiver Praktiken. Deshalb führt Blank zunächst in zentrale Konzepte der sozialwissenschaftlichen Raumdebatte wie place, scale oder David Harveys Klassifizierung der community “in itself” und “for itself” ein. Mit Hilfe dieser Begriffswerkzeuge versucht sie sich dann den 2001 entstandenen sozialen Bewegungen zu nähern. Dabei macht sie zunächst drei zentrale Konfliktfelder mit unterschiedlichen Protestformen aus: Die neoliberalen Strukturanpassungen, denen sich die Arbeitslosenbewegung mit der Form des piquete (Straßensperren) entgegenstellte; die Straflosigkeit der letzten Militärdiktatur, gegen die in Form der escrache (Markierung der Wohnorte der StraftäterInnen) protestiert wurde; sowie die Enttäuschung über die in den 1980ern neu geschaffenen demokratischen Institutionen, die zur Selbstorganisierung in asambleas barriales (Stadtteilversammlungen) führte. Alle diese neuen Protest- und Organisierungsformen beziehen sich zentral auf die Räumlichkeit des barrios (Viertel). Raum ist Blank zufolge in diesem Zusammenhang jedoch nicht als geographisches Territorium zu verstehen, sondern vielmehr als „verortete Verdichtung sozialer Interaktion“(89). Ihre zentrale These lautet daher: „Trabajo territorial [die kollektive Arbeit im barrio, Anm. TB] […] ist der Versuch zur Schaffung neuer Handlungsräume, die Verortung im Stadtviertel zielt auf die Konstruktion sozialer Räume, die ein „más alla“ („darüber hinaus“) des Protests ermöglichen sollen.“(11)
Zur Untersuchung dieser These betrachtet die Autorin die Arbeit der Asamblea Popular de Florida Este in deren barrio. Die asamblea stellt in ihren Augen die radikalste Form der Schaffung und kollektiven Aneignung von öffentlichen Räumen dar (142). Zentrale Triebfeder der asamblea sei das Verlangen nach Kommunikation im und mit dem barrio. Ähnlich dem österreichischen Grätzl ist der Raum des barrios weit davon entfernt, in kartographischen Begriffen wie des Viertels oder der Nachbarschaft erfasst zu werden. Blank zufolge handelt es sich vielmehr um einen „place-spezifischen Erfahrungshorizont, einer für Buenos Aires typischen Tradition“ (141). Dieser Erfahrungshorizont sei nicht zuletzt der Geschichte einer chaotischen und prekären Urbanisierung geschuldet, die neben der Konstruktion eines privaten Raumes einen kollektiven, lokalen und öffentlichen Raum ausgebildet habe. Eben jenes barrio, das in den unterschiedlichen Etappen in der Geschichte Argentiniens zahlreiche Transformationsprozesse durchlief und stets ein politisch umkämpfter Raum war. Insofern richtet sich die Arbeit der asamblea für die Autorin auch nicht auf ein kartographisch fest zu bestimmendes Gebiet, sondern „[d]as Territorium, auf das sich die eigenen Arbeit richtet, ist selbst Produkt dieser Arbeit.“(226) Daher schlussfolgert Blank: „Trabajo Territorial ist keine place-Konstruktion im Sinne einer Einhegung, einer community ‚for itself ‘. Es ist vor allem anderen auch ein beständiger Versuch, Grenzen zu überschreiten, politische und soziale Grenzen, die in den vermeintlich privaten Alltag eingelassen und in die Territorien der barrios eingeschrieben sind.“(248)
Insgesamt merkt man dem Buch seinen Dissertationscharakter an. Dies hat teilweise Vorteile: So ermöglicht der grobe Überblick über die wichtigsten Konzepte und Begriff der sozialwissenschaftlichen Raumdebatte auch Außenstehenden den Einstieg in das Thema. Selbiges gilt für die Vorgeschichte und die Ereignisse rund um das Jahr 2001, die prägnant zusammengefasst werden. Allerdings – und hier zeigt sich die Schwäche des Buches – stehen die einzelnen Teile etwas unvermittelt nebeneinander. Die sehr lange Beschreibung der auftauchenden Protestformen ist zwar spannend, hätte aber angesichts der späteren Begrenzung auf das empirische Beispiel der asamblea kürzer ausfallen können. Dafür wären in Bezug auf die asamblea selbst weitere Ausführungen interessant gewesen. Immer aufschlussreich wird es nämlich dann, wenn die Autorin sich ein paar Seiten Raum nimmt, um auf spezifische Teilaspekte einzugehen. So zeigt sie etwa eindrucksvoll, wie sich der „von Klassismus und Rassismus durchzogene Sicherheitsdiskurs“ (242) in das barrio einschreibt. Hier und auch im Bezug auf die von ihr so stark gemachte Figur des vecino (Nachbar), den sie als „Träger eines hundert Jahre alten emanzipatorischen Horizonts von sozialem Aufstieg, Solidarität und Partizipation“ (166) beschreibt, wäre eine genauere Aufarbeitung der Klassenzusammensetzung und -transformation und deren räumliche Dimensionen nötig gewesen. So bleiben die Eigenheiten des Großraums Buenos Aires in dieser Hinsicht für LeserInnen, die nicht schon vorab mit diesen vertraut sind, etwas unklar.
Auch die abschließende demokratietheoretische Bewertung des von ihr beschriebenen scale-Wechsel hin zum barrio bleibt offen. Handelt es sich hierbei um einen Rückzug auf das Lokale, der als Reaktion auf das Abgeschnitten-Sein breiter Bevölkerungsteile von politischen Institutionen folgt? Liegt ein freiwilliger Selbstausschluss vor, der neue und emanzipatorische Formen der Selbstorganisierung ermöglicht? Oder wird ein Perspektivwechsel vollzogen, in dessen Folge der Nationalstaat nicht länger als Adressat für Emanzipationsbestrebungen wahrgenommen wird? Unscharf bleibt darüber hinaus ihr Versuch, trabajo territorial mit der Transformation des argentinischen Staates in Verbindung zu setzen: Für ihre Annahme „[t]rabajo territorial ist vor allem anderen eine Verortung in Territorien fragmentierter Staatlichkeit“ (257) mag es gute Argumente geben, allerdings müssten diese weiter ausgeführt werden. So bleibt dieser Teil zu thesenhaft.
Alles in allem ist Zwischen Protest und trabajo territorial durchaus empfehlenswert und gerade für LeserInnen, die sich erstmalig mit den Ereignissen in Argentinien von 2001 auseinandersetzen möchten, ein gelungener Einstieg. Für jene, die sich bereits intensiver mit der Thematik auseinandergesetzt haben, werden durch die räumliche Perspektive zwar neue, interessante Aspekte zutage gefördert, allerdings würde man sich an manchen Stellen tiefer gehende Ausführungen wünschen.





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