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1968 oder Der Konflikt um die Demokratie
von Alex Demirovic

Alex Demirovic über den demokratischen Charakter der Studierendenbewegung in Westdeutschland 1968 und die falschen Vorwürfe, die ihr vierzig Jahre später gemacht werden.

Vierzig Jahre nach 1968 gibt es erneut einen Streit um die politische Bedeutung der Protestbewegung der späten 1960er Jahre. Götz Aly, selbst aus der damals sich wieder formierenden radikalen Linken kommend und mittlerweile ein angesehener Historiker des Nationalsozialismus, geht, wie andere vor ihm, auf Distanz zu seiner Geschichte, indem er in seinem jüngsten Buch, in Artikeln und Interviews nahegelegt, dass es zwischen der studentischen Protestbewegung und dem Nationalsozialismus eine intergenerationelle Gemeinsamkeit gegeben habe. Diese Gemeinsamkeit sieht er in der Kritik am System, in der politischen Form der Bewegung, im Antiamerikanismus, im Antisemitismus. Die Reaktion auf Alys Provokation fällt angemessen aus, der Mangel an Seriosität dieser formalen Analogien wird zurecht zurückgewiesen. Doch bedeutend an dem Vorgang ist, dass die „Ideen von 1968“, wie so oft in den vergangenen Jahrzehnten, wieder einmal Gegenstand einer geschichtspolitischen Auseinandersetzung geworden sind und dass es nicht gelingt, diese Jahre Vergangenheit sein zu lassen. Darin besteht tatsächlich mehr als eine Analogie: wie der Nationalsozialismus verlangt auch „1968“, historisch und gesellschaftspolitisch Position zu beziehen – und dies ist der Fall, weil sie in einem inneren Zusammenhang stehen. „1968“ war der Gegensatz zum Nationalsozialismus. Dieses Schlüsseljahr steht für die gesellschaftspolitische Alternative: nachdem der Nationalsozialismus die sozialistische Linke in Deutschland vernichtet hatte, entstand sie „1968“ von innen und auf der Höhe der Zeit wieder neu. Das ließ sie manchmal triumphalistisch und moralisierend-autoritär werden, so als könne sie nachträglich die tiefe Niederlage der deutschen und europäischen Linken, so als könne sie die Barbarei des millionenfachen Mordes durch den deutschen Staat die Protestbewegung aus der Geschichte streichen. Aber sie machte erfahrbar, dass die Normalität des Kapitalismus, dass auch der Nationalsozialismus und seine Verbrechen politisch hergestellt war und es Entwicklungsperspektiven jenseits des Bestehenden gibt. Den Konflikt um „1968“ muss die Linke austragen, aber die Vorwürfe, die Aly erhebt, kann sie gelassen zur Kenntnis nehmen, denn kein einziger ist neu und wird durch Wiederholung nicht wahrer. Sie wurden innerhalb der Linken über viele Jahre immer wieder diskutiert, die Zeitschrift „links“ des Sozialistischen Büros veröffentlichte seit den 1970er Jahren viele Artikel zu diesem Problemkontext. Schon während der Jahre der Protestbewegung gab es unter den akademischen Lehrern der Protestierenden diese Vorbehalte: Horkheimer sah in der Kritik am US-amerikanisch geführten Krieg in Vietnam Antiamerikanismus, der an die Stelle des offiziell verbotenen Antisemitismus getreten war, Habermas warf den Sprechern der Proteste angesichts ihres laxen Verhältnisses zur Gewalt als Propagandamittel Linksfaschismus vor, Adorno beklagte sich, dass die Protestierer mit ihren Protestmethoden die Wissenschaftsfreiheit einschränkten.

Selbstaufklärung und Selbsreflexivität

Man muß solche Kritiken ernst nehmen und die Geschichte und Gegenwart der Linken wieder und immer wieder auf autoritäre Tendenzen prüfen. Das ist im Interesse der (sozialistischen) Linken selbst und ihres Projektes. Sie will die Gesellschaft emanzipieren und verändern; es gehört zu ihrem Anspruch, für ihre Ziele und ihr Handeln wissenschaftliche, also überprüfbare, allgemein einsehbare, kritische, verwerfbare Argumente zu haben. Doch was wäre, wenn die, die für Emanzipation eintreten, selbst autoritär sind? Es gehört zu den bitteren Erfahrungen der Kritischen Theorie in den 1930er Jahren, daß viele derjenigen, die aufgrund ihrer Parteimitgliedschaft als Sozialisten oder Kommunisten gelten konnten, autoritär orientiert und Mitläufer der Macht egal welcher Richtung waren. Der sich aus einem solchen Wissen ergebende, selbstaufklärerische Impuls, diese reflexive Wendung auf die eigene politische und theoretische Praxis sollten nicht aufgegeben werden. Sie sind ein ganz wesentliches Element, das die Protestbewegung der bundesdeutschen Linken erschlossen hat – diese sollte sich durch die Dummheit manipulatorischer Geschichtspolitiker die Praxis der Selbstaufklärung nicht enteignen und dumm machen lassen. Selbstverständlich muß die Linke sich misstrauisch prüfen, ob in ihr autoritäre Tendenzen enthalten sind. Das war 1968, in den proletarisch gewendeten Organisationen der Neuen Linken, den Grünen der Fall: es gab Antisemitismus, es gab politischen Kadavergehorsam, es gab Wendehälse – aber es gab auch reale Aufklärungs- und Emanzipationsprozesse. Es gab die Befreiungsversuche hin zu einer radikalen Alltagskultur in den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, zwischen den Geschlechtern, eine Zurückweisung des Heterosexismus und der Homophobie, Kritik an der Zerstörung der Natur und der sinnlosen Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft; Schule, Hochschule, Geschlechterverhältnis sollten emanzipiert und demokratisiert werden. Wenn Götz Aly sagen will, daß die Kräfte dieser Emanzipation noch zu sehr der Geschichte verhaftet blieben, noch zu wenig radikal waren, manches immer noch zu autoritär war, dann muß man sagen: recht hat er. Es hat nicht ausgereicht. Aber seine Kritik diskreditiert nicht das, was geleistet wurde, sondern die Kräfte und Verhältnisse, die verhindert haben, dass nicht mehr erreicht wurde.

Demokratisches Potential und sozialistische Traditionen

Mit der parlamentarischen Demokratie arrangierten sich die Besiegten, die nur widerwillig Befreite sein wollten; auf vielen verantwortlichen Positionen der Politik, der Wirtschaft, der Justiz waren weiterhin frühere Nazi-Funktionäre aktiv, die nun absurderweise in Anspruch nehmen durften zu definieren, was Demokratie sei. Das Verständnis von Demokratie blieb paternalistisch, formal, konventionell und autoritär. Die Protestbewegung machte mit der Demokratie Ernst. Unter den Studierenden hatten nach einer Studie, die Jürgen Habermas und Ludwig von Friedeburg Ende der 1950er Jahre am Institut für Sozialforschung durchgeführt hatten, gerade einmal neun Prozent ein definitiv demokratisches Potential, 16 Prozent aber ein definitiv autoritäres Potential, der Rest von 66 Prozent erwies sich als mehr oder weniger unprofiliert, war also empfänglich für gesellschaftliche Veränderungen in die eine oder andere Richtung. In einem solchen als Restauration erfahrenen Klima verbot 1961 die SPD ihren Parteimitgliedern, im SDS oder seiner Förderergesellschaft Mitglied zu sein. Mit der Einschränkung der innerparteilichen Demokratie wollte man nach der Godesberger Wende der Partei den unbequemen Studentenverband und die sozialistischen und marxistisch orientierten Mitglieder der Partei loswerden. Gerade durch den Unvereinbarkeitsbeschluß jedoch wurde der SDS in den 1960er Jahren das Zentrum der gesellschaftlichen Opposition. Denn er bot einen politischen und Erkenntniszusammenhang, der es ermöglichte, sich Marx, die Erfahrungen der sozialistischen Bewegung wieder anzueignen, also jene Tradition, die das deutsche Bürgertum zu vernichten versucht hatte. Kritische Intellektuelle wie Georg Lukács, Leo Kofler, Ernst Bloch, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno konnten hier auf überraschende Weise Resonanz für ihre Probleme und Argumente finden. Von bürgerlicher Seite wurde der Verdacht geäußert, dass der SDS eine Organisation sei, die dem östlichen Totalitarismus zuarbeiten würde. Doch selbst der CDU zuneigende Wissenschafter wie Rudolf Wildenmann und Max Kaase mussten als Ergebnis einer 1968 durchgeführten Befragung feststellen, dass keine Gruppe der westdeutschen Gesellschaft so genau die Prinzipien der Demokratie verstand und so entschieden für sie eintrat wie die Mitglieder des SDS. Dieser hatte seine demokratische Haltung schon längst bewiesen mit seiner Kampagne gegen die Notstandsgesetze, die ihn mit der IG-Metall unter Otto Brenner und mit linken Liberalen in einem Bündnis zur Verteidigung der Demokratie gegen ihre angeblichen Repräsentanten zusammenbrachte. Ein erster Höhepunkt war der in Frankfurt im Oktober 1966 durchgeführte Kongress „Notstand der Demokratie”, der das Ziel hatte, den befürchteten Anfängen zu wehren. An der Abschlusskundgebung nahmen 25.000 Menschen teil. Die große Koalition unter dem früheren Nazi-Funktionär Kissinger löste als eine zweifelhafte Allianz, von der befürchtet wurde, dass sie hinter der parlamentarischen Fassade die Demokratie abwickeln würde, Proteste aus: „Notstandsgesetze: Kapitalismus führt zum Faschismus” war eine der Parolen. Demokratie, so hieß es in einem Flugblatt gegen die verbreitete Hetze gegen die Protestbewegung, heiße nicht Friedhofsruhe. Am 11. Mai 1968, in der Hochphase der weltweiten Protestbewegung, kam es in Bonn anlässlich der bevorstehenden dritten parlamentarischen Lesung der Notstandsgesetze zu einem Sternmarsch, an dem sich 60.000 Demonstranten beteiligten. In den folgenden Tagen fanden bundesweit Proteste, Kundgebungen, Demonstrationen, teach-ins, Universitätsbesetzungen statt. Erklärt wurde, dass ein Staat zu bekämpfen sei, der die Demokratie beseitigen wolle. Diese Demonstrationen, die Sensibilisierung für Gefährdung demokratischer Prozesse und Verfahren, die Entstehung gegenkultureller Zusammenhänge und Alltagsgewohnheiten – das alles hat dazu beigetragen, dass sich mehr Menschen in den Parteien und Gewerkschaften organisierten und neue demokratische Beteiligungsformen etabliert wurden; die sozialen Bewegungen haben in den folgenden Jahrzehnten Millionen Menschen in den demokratischen Prozess hineingezogen.

Wider die Denunziation

Unter den Studierenden der 1990er Jahre war die Gruppe der Autoritären nicht kleiner als Ende der 1950er Jahre, aber der Anteil der demokratisch Studierenden hatte deutlich auf ein Viertel zugenommen; und die am entschiedensten demokratisch Orientierten sahen sich auch am deutlichsten auf der linken Seite des politischen Spektrums. Dabei wird man sich nicht beruhigen können, der Zugang zu gesellschaftlichen Machtpositionen, die sich aus Prozessen der Gesellschaftsveränderung im Namen der Freiheit ergeben, kann autoritäre Anwandlungen begünstigen. Doch die Linke und die politische Form der Bewegung umstandslos als autoritär und nationalsozialistisch zu denunzieren – davon zu sprechen, der Nationalsozialismus sei eine Bewegung gewesen, sitzt selbst schon der Nazi-Propaganda auf –, schwächt nicht nur die Praxis demokratischer Veränderung, sondern auch die darin enthaltenen Möglichkeiten selbstkritischer Überprüfung und Korrektur.

Alex Demirovic lehrt Politikwissenschaft an der TU Berlin. Zuletzt ist von ihm erschienen: Demokratie in der Wirtschaft. Positionen – Probleme – Perspektiven, Münster 2007 sowie Nicos Poulantzas. Aktualität und Probleme materialistischer Staatstheorie, Münster 2007.





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