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Stimme der Ungehörten – Die Makellosigkeit der Grande Nation?
von Ann-Marie Peter

Rezension: Kollektiv Rage (Hg.): Banlieues. Die Zeit der Forderungen ist vorbei, Berlin: Assoziation A 2009, 280 Seiten, € 16,50

Die Aufstände in den französischen Banlieues gehen bis weit in die 70er Jahre zurück. Schon damals stellten Medien brennende Autos und die Verwüstung öffentlicher Gebäude in den Vorstädten von Paris als Zeichen blinder Gewaltausbrüche dar, statt das Aufbegehren gegen die prekären Lebensumstände in den Banlieues zu kritisieren. Dabei sind die soziologischen Hintergründe der fortdauernden und immer wiederkehrenden Ausschreitungen immer mit zu berücksichtigen. Diese sind zum einen in der gesellschaftlichen Marginalisierung der ImmigrantInnen und zum anderen in deren Ghettoisierung begründet. Als billige Arbeitskräfte nach Frankreich geworben, kamen die meisten der heutigen BanlieuebewohnerInnen aus den ehemaligen französischen Kolonien,
zumeist mit französischer Staatsbürgerschaft. So entstanden um Paris und andere Großstädte Trabantenstädte, deren BewohnerInnen fast ausschließlich MigrantInnen waren. Sowohl die Banlieues, als auch ihre BewohnerInnen wurden fortan nicht nur geographisch an den Rand der französischen Gesellschaft gedrängt. Diese Manifestation einer Zweiklassengesellschaft – mit der Bourgeoisie innerhalb der Stadtmauern und dem davon abgegrenzten Prekariat weit weg von den Augen des arrivierten Bürgertums – wird paradoxerweise gerade in einem Land vollzogen, welches sich als Grande Nation so sehr selbst beweihräuchert: jeder Mensch sei gleich, mit gleichen Rechten und Pflichten, mit Anspruch auf Chancengleichheit unabhängig von Herkunft. In der Beobachtung der historisch-ökonomischen Entwicklung scheint es jedoch, als sei die Grande Nation im Zustand wirtschaftlichen Abschwungs noch weniger in der Lage, ihre so hoch gehaltenen Grundwerte in die Tat umzusetzen. Vielmehr fordert die Wirtschaftskrise hier verstärkt ihren gesellschaftlichen Tribut. Die großen Aufstände 2005 oder auch die letzten Unruhen 2009 können somit nicht als vereinzelte Kämpfe Jugendlicher aus den Banlieues isoliert werden, sondern sind im Kontext jahrzehntelanger Vernachlässigungspolitik als deren fatale Folgen zu sehen. Die Auslöser der überregionalen Revolten waren jedesmal Todesfälle jugendlicher ImmigrantInnen. Diesen, in Auseinandersetzungen mit der Polizei zu Tode gekommenen, kam als „Opfern des Systems“ Symbolcharakter zu: Im November 2005 verunglückten zwei Jugendliche in Clichy-sous-Bois während einer Verfolgungsjagd mit der Polizei. 2007 war es Hakim Arama, der im März durch einen Polizeischuss tödlich verletzt wurde.
Rund um die Diskussion der sozialen Verhältnisse in den Banlieues schlossen sich deutsche und französische AktivistInnen zu der Gruppierung „Kollektiv Rage“ zusammen. Sie haben 2009 das Buch „Banlieus. Die Zeit der Forderungen ist vorbei“ herausgegeben, das die Aufstände aus soziologischer Sicht und aus der Perspektive der BanlieuebewohnerInnen beleuchtet. Den AutorInnen geht es in dieser Veröffentlichung nicht darum, die Ausschreitungen zu verherrlichen, sondern, auf Basis verschiedener Erfahrungen, soziale Auseinandersetzungen zu analysieren und diese in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext einzubetten.
Der erste Teil des Buches besteht aus Analysen der aktuellen Situation und ihrer geschichtlichen Verankerung. So sind unter anderem der Contrat Première Embauche (Ersteinstellungsvertrag), der den Kündigungsschutz für Jugendliche und Heranwachsende abschaffte, ethnische und rassistische Diskriminierungen am Beispiel Schule und Arbeitsmarkt sowie die Neoliberalisierung der Sozialistischen Partei und deren Auswirkung auf die Banlieues Gegenstand der Diskussion. Ingrid Artus befasst sich in „Die Novemberrevolte in den französischen Banlieues: Blinde Wut oder soziale Bewegung“ mit den Dynamiken und Hintergründen der Revolte im November 2005. Besonderen Fokus findet die politische Sprachlosigkeit der Aufstände. Sprachlosigkeit bedeutet in diesem Sinnzusammenhang, dass es bei den Aufständen weder eine politische Führung gab, die die Aufstände initiierte, noch dass konkrete Forderungen an die politischen Institutionen gestellt wurden. Eben solche Forderungen, Verhandlungen und uneingelöste Versprechen gab es in den letzten Jahrzehnten zu genüge. „Wir wollen keinen Dialog mehr mit der Regierung. Unsere Väter, unsere Familien sind mehr als genug mit Gerede vertröstet worden. Der Dialog ist endgültig abgebrochen, versucht nicht mehr uns zu beruhigen.“ (Aufständische Kämpfer, S.156). Diese Verweigerung der verbalen Kommunikation wurde von den Medien als Ausbruch reiner Gewalt diffamiert und interpretiert, jedoch wurde dabei oftmals außer Acht gelassen, dass die Anschläge, die sich gegen die institutionellen Kräfte Staat, Polizei und Schule richteten, einer klaren Richtung folgten, nämlich der Auflehnung gegen die herrschenden Verhältnisse, der Auflehnung gegen soziale Ausgrenzung und Erniedrigung. Eine Auflehnung also gegen Einrichtungen, die als Symbole staatlicher Kontrolle wahrgenommen werden.
In einem Interview mit Laurent Mucchielli, Spezialist für Fragen der Sicherheitspolitik und Jugendkriminalität, wird auf die Sicht der Jugendlichen eingegangen. Laut seiner Aussage, sei die Chancenungleichheit, die schon in der Schule beginne und sich im Arbeitsleben fortsetze, mitverantwortlich für die Revolten. Grundlegende Möglichkeiten, sich in die Gesellschaft einzugliedern, wie ein Wohnung zu mieten, bei den Eltern auszuziehen und eine eigene Familie zu gründen, würden durch Arbeitslosigkeit von vornherein abgeschnitten.
In „Die Banlieues als politisches Experimentierfeld“ geht Emmanuelle Piriot auf die Entstehung und Veränderungen der Großsiedlungen, auf die Organisation der Arbeitsmigration und die neuen polizeilichen Kontrolltechniken gegen Illegalisierte ein.
Max Henninger setzt sich in „Der Unterschied, auf den es ankommt“ ebenso wie Ingrid Artus mit den Hintergründen der Novemberrevolte 2005 auseinander. Er legt den Schwerpunkt auf die politischen Entwicklungen in den Banlieues über die letzten Jahrzehnte und auf die Arbeitsmarktsituation der Jugendlichen heute. Dabei skizziert er die in den 1980er Jahren erprobte Reformpolitik der Sozialistischen Partei und zeigt gleichzeitig auf, dass diese Reformen die herrschenden Verhältnisse nie in Frage gestellt haben, was impliziert, dass sie nie im Sinne der BanlieuebewohnerInnen konzipiert worden waren.
Im zweiten Teil des Buches stehen konkrete Einzelschicksale von BanlieuebewohnerInnen in ihrem täglichen Kampf in der Arbeitswelt im Vordergrund. So finden sich hier Interviews mit gewerkschaftlich organisierten ArbeitnehmnerInnen, Ausschnitte aus dem Leben revoltierender BanlieuebewohnerInnen und deren Widersacher B.A.C (Brigade anticriminalité).
Anne Brügmann & Emanuelle Piriot setzen sich in ihrem Beitrag mit der Bewegung Ni putes ni soumises („weder Huren noch Unterworfene“) auseinander, die auf die Lage der Frauen in den Banlieus aufmerksam machen will. Diese – sich durch Sarkozy-Nähe auszeichnende und dadurch nicht unumstrittene Bewegung – könne sich ihnen zufolge oftmals auch des Vorwurfs des Pseudo-Feminismus nicht erwehren. Zum einen stünden der professionell erscheinenden Öffentlichkeitsarbeit von NPNS relativ wenige realisierte Projekte gegenüber: So verfügte NPNS im Jahre 2008 lediglich über zwei Zufluchtsstätten für misshandelte Frauen im Großraum Paris. Zum anderen vernachlässige der alleinige Fokus auf die Gewalt gegen Frauen auch deren Beteiligung an den sozialen und politischen Auseinandersetzungen und führe zu einer weiteren Verfestigung bestehender Klischees und Rassismen. Beispielhaft hierfür sei etwa die Tatsache, dass sich die NPNS klar gegen das Kopftuch ausspreche. Bei einer Großdemonstration im März 2003 wurden Kopftuch tragende Frauen von vornherein von der Demonstration ausgeschlossen. Fadela Amara, die Gründerin und erste Präsidentin von NPNS, ist mittlerweile Staatssekretärin im Stadtministerium der Regierung Sarkozy. Die NPNS ist ein Paradebeispiel dafür, dass nicht jede Organisation, die von sich behauptet, die Interessen der BanlieuebewohnerInnen zu vertreten und gegen Rassismus anzukämpfen, dies auch wirklich tut, sondern eher in eigenem Interesse handelt, um politische Salonfähigkeit zu erlangen.
Ferner versucht in dem Band das Ruhrgebiets Internationalismus Archiv Dortmund (RIAD) in ihrem Beitrag, die Verbindung zwischen den Aufständen und Rap nachzuvollziehen. Rechtskonservative geben dem Hip-Hop im Allgemeinen einen Großteil der Schuld an den Aufständen. Um dieses Bild in der Öffentlichkeit zu schärfen, wurden Kampagnen gestartet, in denen Textpassagen aus aggressiven und teils rassistischen Liedern zur Abschreckung veröffentlicht wurden. Diese Vorgehensweise führte in Großteilen der Bevölkerung zur Dämonisierung der gesamten französischen Rapszene. In „Die Zeit der Forderungen ist vorbei“ wird diese induktive Verallgemeinerung entkleidet. Ins Blickfeld rückt dabei vorwiegend die Rolle der Raperinnen, die, im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen, gegen Vergewaltigung, eheliche Gewalt, Sexismus in Vororten und die Rolle der Frau in der Gesellschaft ansingen. Raperinnen, wie Princess Aniès, Diam’s oder Keny Arkana nehmen hier zweifelsfrei eine wegweisende VorreiterInnenrolle ein.
Um die Problematik der Vorstädte im internationalen Kontext zu erläutern, wird ein Vergleich mit der Lage in Berlin herangezogen. Hierbei liegt der Fokus vorwiegend auf privaten Dienstleistern und ehrenamtlichen Engagements, die staatlich finanzierte Stellen und soziale Einrichtungen ersetzt haben. Hinter Programmen wie dem „Quartiersmanagement“ – QM – stehe nicht zuletzt die Übertragung der Verantwortung für soziale Exklusion auf die Betroffenen, die in diesem Sinne völlige Eigenverantwortung für ihre Situation tragen sollen. Diese werden in solchen Programmen als billige Arbeitskräfte eingesetzt und „bedürften“ von nun an nicht mehr der staatlichen Unterstützung. Diese Form der ökonomischen Selbstkontrolle, die nicht zuletzt zu einer weiteren Prekarisierung der BewohnerInnen führt, wird fast ausschließlich in Stadtteilen eingesetzt, die als „soziale Brennpunkte“ gelten.
Gerade diese Gegenüberstellung der beiden Metropolen ermöglicht es, soziale Prozesse in anderen Ländern zu erschließen und macht die Lektüre für den/die LeserIn nicht nur facettenreich, sondern physisch spürbar. Schließlich wird dem/der LeserIn mit einem geschichtlichen Überblick der Aufstände in Frankreich von 1971 bis heute vertiefend und abrundend anschauliche Orientierung zur Faktenlage geboten.
Das Buch ist somit eine kenntnisreiche Informationsquelle für interessierte LeserInnen, die sich mit den sozialen Missständen im urbanen Lebensraum auseinandersetzen möchten, gibt aber gleichzeitig auch Menschen, die sich schon eingehender mit den Banlieues beschäftigt haben, neue Denkanstöße: „Dis leur que je ne me plierai pas aux exigences du marché ou autre, Et que je crierai ce que je pense sur nos chers bâtards de dirigeants, Dis leur que c’est de la vérité que je compte mettre sur le tapis, En gros dis leur que mon rap est une menace pour les règles établies.“ („Sag Ihnen, dass ich mich niemals dem Markt oder etwas anderem anpassen werde, und dass ich schreien werde, was ich über unsere liebe Bastardelite denke, Sag Ihnen, dass ich die Wahrheit zur Sprache bringen werde, sag Ihnen, dass mein Rap die etablierten Regeln bedroht.“ Keny Arkana: le missile est lancé.)





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