Was tun, wenn ein rentables Werk aus Spekulationsgründen geschlossen und die Belegschaft entlassen werden soll? Am besten „fare come alla Innse“ – es wie die INNSE machen. Andreas Fink analysiert die erfolgreiche Besetzung der Mailänder Fabrik im Sommer 2009 und zeigt, welche Rolle Standortwettbewerb, Stadtentwicklung, eine Tradition radikaler ArbeiterInnenkämpfe und nicht zuletzt ein Kran spielen.
Es war noch nie ein Vergnügen, die mit „Kapital und Arbeit“ betitelten Rubriken der wenigen italienischen Zeitungen durchzublättern, die noch immer versuchen, sich dem Herrschaftsdiskurs von Wirtschaft und politischer Ökonomie zu verweigern und Arbeitskämpfen den Aktienkursen vorzuziehen. Dennoch war es besonders beklemmend zu sehen, wie in den letzten Jahren auf diesen Seiten täglich ein kleines Stück ArbeiterInnenbewegung zu Grabe getragen wurde – von den Todesanzeigen weiter hinten nur durch den fehlenden schwarzen Rahmen unterscheidbar: Die Serie von Niederlagen in Form von Lohnsenkungen, steigenden Arbeitslosen- und Prekärbeschäftigtenzahlen, Stellenabbau, Betriebsschließungen und wirkungslosen Streikgebärden wiegt umso schwerer angesichts der Stärke dieser Bewegung und der linken Vielfalt von Theorie und Praxis, die das Land noch vor wenigen Jahrzehnten hervorgebracht hatte. Und fernab von theoretischen Verrenkungen um ein dahinsiechendes revolutionäres Subjekt ist es vor allem großes menschliches Leid, welches damit verbunden ist.
Aber etwas hat sich seit letztem Sommer verändert: Nicht dass die Meldungen in der Substanz anders wären, im Gegenteil hat sich die Lage durch die Krise noch verschärft. Doch – so verklärend es auch klingen mag – ein Funke Hoffnung ist zurückgekehrt: In unzähligen Betrieben gibt es harte Auseinandersetzungen um Löhne bei den einen, gegen drohende Werksschließungen bei den anderen. Viele haben neuen Mut geschöpft, wollen es so machen wie die INNSE, „fare come alla Innse“ ist zum geflügelten Wort geworden. Am 13. August 2008 konnten die ArbeiterInnen dieses Montagewerks für Schwermechanik, das Werkzeugmaschinen und Anlagen für die Eisenindustrie produziert, eine schmerzvolle, doch letztendlich siegreiche Auseinandersetzung für vorläufig beendet erklären – was über die Grenzen Italiens hinaus hohe Wellen geschlagen hat. Dieser Text versucht nun im ersten Teil den sich über Monate hin ziehenden Kampf nachzuzeichnen und nach den dahinter liegenden Ursachen zu fragen; im zweiten Teil werden einige Überlegungen zu den wichtigsten Faktoren des Erfolgs angestellt. Es wird darum gehen, die beiden sich um Produktionsmittel und Boden entwickelnden Konfliktlinien und die darin eingebetteten AkteurInnen hervorzuheben: Genta in seiner Rolle als Eigentümer strebte den Verkauf der Maschinen an und bediente sich der damit verbundenen Machtinstrumente (d.h. des staatlich garantierten Schutzes des Privateigentums); die Immobiliengesellschaft AEDES wollte den Grund zwecks einer höheren Mehrwertrate umgestalten; die staatlichen Institutionen waren einerseits an die strukturelle Grundlage der Gesetze gebunden, verfolgten andererseits personenspezifische Eigeninteressen. Für die von einer Mitte-Rechts-Koalition regierte Stadt Mailand stand vor allem die Umsetzung des Bauleitplanes im Sinne einer kapitalorientierten Modernisierung im Vordergrund; einzelne Kräfte konnten hingegen ihre Position für die ArbeiterInnen geltend machen. Letztere stellten sich – später mit Unterstützung der Gewerkschaft – den Kapitalinteressen entgegen und forderten die Weiterführung der Produktion unter einem/einer neuen Eigentümer/in ein.
Der letzte Rest
Die INNSE Presse, die sich in der ehemaligen Industriezone Lambrate im Nordosten Mailands befindet, ist ein Überbleibsel des einst mächtigen Innocenti-Konzernes. Dieser erlebte seine Glanzzeiten in der Nachkriegszeit bis in die 1960er-Jahre durch sein Engagement im Metall- und Automobilsektor und durch die Produktion der berühmten Lambretta-Kleinmotorräder. Die INNSE selbst entstand 1971 durch das Abtreten des Schwermechaniksektors an die staatliche I.R.I.1 bei gleichzeitiger Fusion mit der Sant’Eustachio aus Brescia (daher der Name INNocenti Sant‘Eustachio). Zwar beschäftigte das Unternehmen noch über 2.000 ArbeiterInnen, doch setzte sich sein Niedergang sukzessive fort. Im Zuge der Privatisierungswelle in den 90er-Jahren kam die INNSE 1995 in den Besitz der deutschen SMS Demag, welche sie vier Jahre später an die Manzoni Group weiterverkaufte. Diese verpflichtete sich, die mittlerweile auf 100 ArbeiterInnen zusammengeschrumpfte Belegschaft weiter zu beschäftigen, doch schon ein Jahr später wurde die gesamte Manzoni Group und damit auch die INNSE Presse wegen finanzieller Schwierigkeiten unter administrative Verwaltung gestellt. Die INNSE selbst hingegen schrieb schwarze Zahlen und hatte eine solide Auftragslage, da die Konkurrenz in dieser stark spezialisierten Branche auch europaweit sehr überschaubar ist.2
Wie eine Wohnung in Mailand
Im Jahre 2006 tauchte der Turiner Unternehmer Silvano Genta, der auf den An- und Verkauf gebrauchter Industriegerätschaft spezialisiert ist, als Interessent an dem Unternehmen auf und wurde nach zwei Jahren der Unsicherheit und des Verhandelns mit offenen Armen empfangen. Dank eines Gesetzes der Prodi-Regierung, welches für die Übernahme angeschlagener Betriebe besonders günstige Konditionen vorsieht, erwarb Genta unter der Auflage, die Produktion für den Zeitraum von zwei Jahren weiterzuführen und die ArbeiterInnen zu beschäftigen den Betrieb um rund 750.000 Euro. Der Preis – in etwa so hoch wie der für eine Wohnung in Mailand – wurde erst später bekannt und lag natürlich weit unter dem eigentlichen Marktwert, da es sich bei den Maschinen um High-Tech-Präzisionsgeräte handelte. Trotz dieser günstigen Konditionen blieb der Neuanfang aus: „Das Management Genta hat, wie die Zeitungen berichten, keinerlei relevante Investitionen für den Aufschwung des Unternehmens getätigt, aber die INNSE lief trotzdem mit zufriedenstellenden Ergebnissen weiter.“3 Nach zwei Jahren, kurz nach Ablauf der Zwei-Jahres-Frist, erhielten die ArbeiterInnen schließlich das Telegramm in welchem ihnen die unmittelbare Einstellung der Produktion mitgeteilt wurde. Die Fabrik sollte geschlossen, die Maschinen verkauft und die Hallen für ein Großprojekt der AEDES Immobiliare S.p.A., in deren Besitz sich das gesamte, weitgehend brach liegende Gelände „Ex-Maserati“ befindet, niedergerissen werden.
Kristallpalast statt dröhnender Maschinen
Diese Immobiliengesellschaft hatte sich in den letzten Jahren auf Immobilienfonds und Stadtentwicklungsprojekte konzentriert und musste im Zuge der Immobilienkrise 2007 gewaltige Verluste verzeichnen, sodass sie nun mit 800 Millionen Euro bei diversen Banken in der Schuld steht.4 Im Jahr 2006 erwarb AEDES die Mehrheitsanteile der Rubattino 87 S.r.l., jener Gesellschaft, in deren Besitz sich der Grund und die Gebäude der INNSE befanden, um „ein wichtiges Entwicklungsprojekt im Osten von Mailand zu verwirklichen.“5 Dieser Plan ist schon seit 1998 im „Programm für städtische Wiederinstandsetzung“ der Gemeinde Mailand vorgesehen und sollte in zwei Phasen verwirklicht werden.6 Im Ostteil sind 245.000 m2 für Wohnungen, eine Universitätsaußenstelle und einen Business Park vorgesehen, die nach Fertigstellung einen Wert von mehr als einer Milliarde Euro haben sollen. Inklusive des Westteils mit 177.000 m2 und den Grün- und Wasserflächen umfasst das Gebiet rund 610.000 m2. Für AEDES ist das Projekt bedeutend, da dieses „wahrscheinlich mit größerer Leichtigkeit die Schulden verringern [könnte], die sie durch ihre Immobilienspekulation angehäuft haben, wenn sie ein Gelände ohne INNSE in ihrem Portfolio hätten.“7 Die erste Phase, die Errichtung der Anlage im Westen mit zahlreichen Wohngebäuden, ist schon teilweise abgeschlossen. Bezüglich der zweiten lässt die Gemeinde Mailand verlauten: „Im April 2006 hat der Ausführende einen neuen Vorschlag der Raumordnung vorgestellt, welche vorsieht: die Verlegung der produktiven Anlage der Ex-INNSE in Hallen neuerer Bauart, angelegt im nördlichen Sektor des P.R.U“.8 Ganz unmissverständlich wird hier die Schließung der INNSE angekündigt, da eine Verlegung der gewaltigen Maschinen ein sehr zeit- und kostenaufwendiges Unterfangen sei. Dieser Aspekt verweist in Hinblick auf den Wirtschaftsstandort Mailand und die geplante Expo 2015 auf eine höhere Ebene, wodurch die Konfliktkonstellation eine weitere Facette erhält: die städteplanerische Entwicklung der Region.
Ein neues Gesicht für die Stadt
Mailand gehört neben Turin und Rom zu den drei wichtigsten Wirtschaftsregionen Italiens, da dort die Börse und zahlreiche bedeutende Unternehmen angesiedelt sind. Die Industrie- und Finanzmetropole gilt mit ihrer näheren Umgebung – der Metropolregion „Grande Milano“, in der rund 7,5 Millionen Menschen leben – für viele nicht umsonst als „heimliche Hauptstadt Italiens“, die jedoch in letzter Zeit Boden an die Konkurrentin Rom verloren hat: „Lange Zeit [ist] in Mailand ohne Masterplan gebaut worden, schlicht nach verfügbarem Raum und dem Scheckbuch des Bauherrn entschieden worden.“9 Im Zuge der EXPO 2015, für die die Stadt den Zuschlag erhalten hat, will sie sich ein neues Gesicht verpassen. Zahlreiche urbane Projekte werden vorangetrieben, darunter die Errichtung dreier Hochhäuser durch internationale Stararchitekten, der Ausbau des Straßen- und Verkehrsnetzes und die Begrünung der Stadt. Wie immer vor Großereignissen, die Milliardengelder in die Austragungsorte spülen, blühen Baugewerbe und Immobilienspekulation, was das Ex-Innocenti-Gelände umso attraktiver macht. Diesen architektonischen Veränderungen liegt ein urbaner Umstrukturierungsprozess zugrunde, bei dem sich zugleich die letzten Momente des Überganges vom fordistischen zum postfordistischen Akkumulationsregime (vor allem die Auflösung sozialer Milieus und die Verlagerung der Industrie) vollziehen, die auf eine Optimierung des „Produktivitätsfaktors Stadt“ zielen. Es ist vor allem der regionale und interregionale Druck der Standortkonkurrenz, der die städtebaulichen Entwicklungen dominiert. In Mailand, wo die industrielle Produktion fast vollständig aus der Stadt vertrieben wurde, um Platz für neue Bürotürme und Finanzzentren zu schaffen, zeigt sich dies besonders deutlich. Angesichts der schon lange bestehenden Pläne, aus dem Gelände der INNSE ein pulsierendes Business- und Wohnviertel zu machen, überrascht das Auftreten Gentas ebenso wenig wie seine Absichten, die Fabrik zu schließen; denn überhaupt erst ins Spiel gebracht hatte ihn Roberto Castelli, ein hoher Funktionär der Lega Nord und Untersekretär für Infrastruktur, der ihn als vertrauenswürdig empfohlen hatte. Die Schließung der Fabrik, die den Beschäftigten am 31. Mai 2008 mitgeteilt wurde, sollte den Weg frei machen für ein weiteres Stück neues „grünes Mailand“.
Drei Monate der Selbstverwaltung
Doch mit der Reaktion der zu diesem Zeitpunkt nur mehr 50 ArbeiterInnen, drei von ihnen mit migrantischem Hintergrund und 14 weiblich, hatte wohl niemand gerechnet. Da die um Hilfe gebetene Mailänder Metallgewerkschaft zuerst abwarten wollte, gingen sie auf eigene Faust vor: Sie verschafften sich Zutritt zur verschlossenen und von Sicherheitsleuten bewachten Fabrik und riefen eine permanente Betriebsversammlung aus. Genta sollte dazu bewegt werden, alle Entlassenen wiedereinzustellen und die Produktion fortzusetzen. Daher nahmen die ArbeiterInnen ab dem 3. Juni die Arbeit in Selbstverwaltung wieder auf – in ihren Augen eine notwendige aber temporäre Strategie, einerseits um Druck auf den Eigentümer auszuüben, andererseits um die Maschinen in Gang zu halten. Die beiden Hauptabnehmer wurden verpflichtet, die konstante Auftragslage nicht abzubrechen: Erst wenn diese neues Rohmaterial anlieferten, wurde die fertige Ware verschickt. Die Einkünfte flossen freilich weiterhin an Genta im guten Glauben, dieser würde seine Position doch noch ändern. Ganz offensichtlich wurde dessen Entschlossenheit ebenso wie die Tragweite des Konfliktes unterschätzt, sodass die ArbeiterInnen auf eine innerbetriebliche Lösung hinarbeiteten. Auffallend sind jedoch die gute Organisationsfähigkeit und die Geschlossenheit, mit welcher die gesamte Belegschaft die Selbstverwaltung mitgetragen hat: „Niemand ist […] ausgeschert und hat den individuellen Ausweg gewählt, alle sind geblieben, auch die Kaderangestellten. Der Ingenieur hat Seite an Seite mit den Arbeitern die Pfannen der selbstverwalteten Werkskantine gespült.“10 An der internen Arbeitsteilung änderte sich nur wenig, die Handlungsabläufe waren eingespielt: „Was die Arbeiten betraf, so bedurfte es keiner großen Entscheidungen, wenn einer frei war ging er einem anderen zur Hand; wir haben uns ohne große Schwierigkeiten organisiert.“11 Bis zum 17. September wurde die Produktion so fortgeführt. Dann griff Genta zu unerwartet harten Mitteln: Er ließ die Fabrik in den Morgenstunden von Polizeihundertschaften räumen. Trotz des Rückschlages führten die ArbeiterInnen den Protest fort und errichteten in einem ehemaligen Pförtnergebäude am Werkstor ein Lager mit Küche, Wohnraum und Mensa.
Räumung durch die Polizei
Ein erster Höhepunkt wurde im Winter erreicht: Nach einem misslungenen Versuch, unter Polizeischutz mit der Demontage der Maschinen zu beginnen, probierte es Genta im Januar erneut, doch eine eilig zusammengerufene Menschenmenge versperrte den Lastwägen den Weg. Die in Kampfmontur erschienenen Polizeikräfte griffen ein, die Situation eskalierte und mehrere ArbeiterInnen wurden verletzt, aber Gentas Vorhaben war vereitelt worden. Die öffentliche Resonanz war dementsprechend groß, und damit auch die Aufmerksamkeit für den Arbeitskampf der INNSE-Belegschaft. Die ArbeiterInnen sahen ein, dass der Unternehmer zu keinen Verhandlungen bereit war, sondern sein Ziel mit Gewalt zu erreichen trachtete, weshalb sie verstärkt versuchten, über politische Institutionen Druck auszuüben. So bekam der Arbeitskampf eine neue Dimension. Die Metallergewerkschaft FIOM12, die sich zuvor sehr zurückgehalten hatte, bekundete ihre Solidarität und intervenierte offensiver. Gleichzeitig intensivierten die ArbeiterInnen ihre Medienarbeit und richteten ihren Protest verstärkt auch gegen die Immobiliengesellschaft, um Gespräche zu erwirken. „Die Technik war einfach: Ein Arbeiter in Zivil klopfte an die Tür. Das Fräulein öffnete ohne Probleme und in einem Augenblick war die Eingangshalle voll von Arbeitern der INNSE.“13 In dieser Phase wuchs auch das UnterstützerInnennetzwerk (v.a. Menschen aus den Centri Sociali14, dem gewerkschaftlichen Umfeld, anderen Betrieben und linken Parteien), viele Solidaritätsbekundungen trudelten ein, doch eine massenhafte Unterstützung aus dem ArbeiterInnenmilieu oder der Stadtbevölkerung blieb aus. Auch aus Betrieben mit ähnlichen Problemen, von denen es in Mailand etliche gibt, blieb die Unterstützung relativ gering.
Da der Fall an die Präfektur weitergeleitet wurde, sollte der Sommer ruhig bleiben.15 Doch die Lage spitzte sich zu: Am 2. August nutzte Genta die Gunst der Stunde – Mailand war urlaubsbedingt leer, einige ArbeiterInnen in Ferien – und ließ durch ein Aufgebot von 300 Polizei- und Carabinieri-Einheiten das Lager der ArbeiterInnen am Werkstor räumen. Von Genta eigens engagierte ArbeiterInnen begannen in der Fabrik mit der Demontage der Maschinen . Das Kräfteverhältnis hatte sich durch diesen Vorstoß plötzlich zu Ungunsten der protestierenden ArbeiterInnen verschoben, die ihren Kampf nun auf der Straße vor dem Tor weiterführten.
Zwölf Meter über der Erde
Am 4. August schien die Situation sowohl am Verhandlungstisch als auch direkt vor Ort festgefahren, die Kräfte der ArbeiterInnen erschöpft. Nachdem fest stand, dass die Demontage der Maschinen so nicht mehr aufzuhalten war, starteten vier Arbeiter und ein FIOM-Gewerkschafter eine außergewöhnliche Aktion: Es gelang ihnen, die Polizeikräfte zu umgehen, in die Fabrik einzudringen und sich auf einer zwölf Meter hohen Kranbrücke zu verbarrikadieren. Vincenzo Acerenza, einer der vier, beschreibt dies folgendermaßen: „Wir wussten schon länger, dass der finale Akt nur eine symbolische Besetzung sein konnte. […] Um nicht geschnappt zu werden, haben wir gerufen: ‚Oh, machen wir einen Abstecher zur Versammlung der Arbeiterkammer?‘, und sind zu fünft langsam weggegangen.“ Über einen Hintereingang gelangten sie hinein: „Wir haben beschlossen [auf den Kran] hinaufzusteigen, während wir in die Fabrik hineingegangen sind. Was tun, wenn wir schon einmal drinnen sind? Sie hätten uns hinaus zerren können. Wir sind auf den Kran gestiegen.“16 Die Demontage wurde aus Sicherheitsgründen sogleich eingestellt – ein erster Erfolg für die Arbeiter auf dem Kran. Begleitet wurden sie durch eine Intensivierung der Protestaktionen und einer neuen Welle von Solidaritäts- und Unterstützungserklärungen.
Nationale sowie internationale Medien, darunter alle großen italienischen Tageszeitungen, berichteten über diese Aktion und ihre Vorgeschichte, die „gruisti“17 waren in aller Munde. Die regierenden PolitikerInnen sahen sich doppelt unter Zugzwang: Einerseits durch die Opposition, die eine fehlende Arbeitsplatzpolitik kritisierte, andererseits durch die unberechenbaren ArbeiterInnen auf der Kranbrücke. Sollten diese ihre Drohung, sich etwas anzutun, wahr machen, würden auch sie zur Verantwortung gezogen werden.
Über eine Woche harrten die fünf Arbeiter auf dem kleinen Plateau aus, aßen, schliefen, wuschen sich dort oben so gut es eben ging, unerreichbar für die Polizeikräfte und bald auch für ihre KollegInnen und Verwandten, da der Strom abgeschaltet wurde, und sie so ihre Mobiltelefone nicht mehr aufladen konnten. Hinzu kam die Hitze, die bei über 30°C auf der Straße unter dem Hallendach um einiges höher gewesen sein dürfte.
Die hinter verschlossenen Türen wieder aufgenommenen Verhandlungen, welche angesichts des öffentlichen Interesses viel ernster als zuvor geführt wurden, dauerten an. Zwar war schon am 6. August mit der Camozzi-Gruppe aus Brescia ein neuer möglicher Käufer gefunden, doch Genta stellte sich weiter quer. Erst als für dessen Angebot ein Ultimatum ausgesprochen wurde und diese einmalige Chance zu entgleiten drohte, wurde der Druck auf Genta zu groß und es konnte eine Einigung erzielt werden: Attilo Camozzi, ein Ex-Gewerkschafter, erwarb den Maschinenpark der INNSE ebenso wie den zur Produktion benötigten Grund von AEDES und versicherte die Wiedereinstellung der 49 Entlassenen und die Nutzung des Gebietes zu industriellen Zwecken bis 2025; weitere Investitionen und die Angliederung früher erworbener Unternehmen sollten folgen. Der Immobiliengesellschaft wiederum wurde die Umzonung des restlichen Geländes von der Mailänder Bürgermeisterin zugesichert.18 Für die INNSE-Belegschaft war das Verhandlungsergebnis ein voller Erfolg und die Freude beim Empfang der fünf Arbeiter entsprechend groß. Über den Eingang hängten UnterstützerInnen ein Transparent mit den Worten: „Hic sunt leones“ – „die Löwen sind hier“ – ein Satz, mit dem antike KartographInnen die Gefährlichkeit unbekannter Gebiete markierten. Zweifelsohne war für den Unternehmer Genta und seine Helfer die Fabrik in den Monaten des Kampfes ein nicht ungefährliches Terrain.
Analyse & Schlussfolgerung
Trotz der grundsätzlich geschwächten strukturellen Machtposition der ArbeiterInnen, fällt zuallererst ihre Entschlossenheit auf, die nur durch die ausweglose Situation zu erklären ist, in der sie sich aufgrund der Entlassungen befanden.
Das traditionelle Hauptkampfmittel Streik wäre in diesem Fall gänzlich wirkungslos gewesen und hätte nur bei einer Erfassung anderer Unternehmenszweige oder Betriebe Wirkung erzeugt. Dies war aber aufgrund der besonders starken Fragmentierung der Reste der ArbeiterInnenschaft im Raum Mailand undenkbar: „Hier hat die Industrie und das soziale Gewebe, das mit ihr verbunden war, eine Verödung ohne Gleichen durchgemacht.“19 Die politischen Institutionen und die Öffentlichkeit stellten so die einzige Möglichkeit dar, eine Gegenmacht zu entwickeln und Druck aufzubauen.
Eine kämpferische Tradition
Es stellt sich natürlich die Frage, welchen Stellenwert die üblichen Strategien der Gewerkschaften in dieser Auseinandersetzung einnehmen. Neben der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung, die selbst eher konfliktorientiert war, gab es vor allem in den 60er- und 70er-Jahren eine starke autonomistische Bewegung („die glorreichen 77er“). Diese ist heute zwar theoretisch und praktisch nur mehr von geringer Bedeutung, dennoch stellt sie immer noch einen wichtigen Bezugspunkt für die Identität von ArbeiterInnen dar, insofern sie Handlungsmöglichkeiten aufzeigte. Nicht zuletzt steigerte sie die Akzeptanz radikalerer Maßnahmen nicht nur in der Belegschaft, sondern auch in deren Familien, den Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft. In korporatistisch geprägten Ländern hingegen ist die Schwelle, ab der ein Konflikt offen ausbricht, erheblich höher, zudem finden Impulse zu radikaleren Strategien im Betrieb oft keine Mehrheit oder werden durch die fehlende Unterstützung isoliert.
Darüber hinaus sind aber die konkreten Erfahrungen der ArbeiterInnen in kämpferischen Auseinandersetzungen wichtig: Die häufigen Wechsel der Fabrikeigentümer, die Kämpfe um den Erhalt der Arbeitsplätze und jene um ihre Rechte bewirkten einerseits eine hohe Verbundenheit mit der Fabrik, andererseits eine große Solidarisierung untereinander. „Wahrscheinlich ist eines der Motive jenes, dass wir hinter uns eine lange Geschichte, dass wir auf unseren Schultern Jahre des Kampfes haben. Zudem waren wir vorbereitet, wir haben unter uns darüber schon in den zwei vorhergegangenen Jahren gesprochen. Wenn man die Personen betrachtete, die da kamen, war dies zu erwarten.“20
Die Rolle von Parteien und Gewerkschaft
Die Organisierung einer Gegenmacht gelang aufgrund der defensiven Haltung der Gewerkschaft CGIL nur bedingt. Diese ist ihrer Aufgabe nicht gerecht geworden und hat nach anfänglich äußerst zögerlicher Unterstützung erst in der kritischsten Phase den ArbeiterInnen den Rücken gestärkt: „[D]ie Gewerkschaften haben uns Kompromisse vorgeschlagen, die wir nicht akzeptieren wollten. Am Ende ist es so gegangen, wie es gehen müsste: Wir Arbeiter haben alle Entscheidungen getroffen und die Gewerkschaft ist uns gefolgt.“21 Dass der mächtige Gewerkschaftsvorsitzende Gianni Rinaldini zu den gruisti in die Fabrik kommt, um mit diesen – „fast zärtlich“, wie sie schreiben – den weiteren Verlauf zu besprechen und ihr Einverständnis einzuholen, ist kennzeichnend für das sich veränderte Verhältnis zwischen RepräsentantInnen und Repräsentierten; selbst nachdem sich die Gewerkschaft offiziell in dieser Auseinandersetzung engagierte, behielten die ArbeiterInnen nicht nur ihre Autonomie, sondern auch die Entscheidungsbefugnis über das weitere Vorgehen in den Verhandlungen. Der Kampf der INNSE-Belegschaft ist demnach als ein autonomer Arbeitskampf einzuschätzen, bei dem die Gewerkschaft den ArbeiterInnen bloß unterstützend zur Seite stand und vor allem vermittelnd agierte.
Die politischen Parteien der Linken hingegen – die zumindest dem eigenen Anspruch nach die Interessen der ArbeiterInnenschaft vertreten – waren, abgesehen von wenigen Einzelpersonen, untätig.
Der Faktor Öffentlichkeit
So gelang es erst im Sommer 2009 durch mediales campaining eine breite Öffentlichkeit zu schaffen – und zwar nicht nur für die unmittelbare Situation, sondern vor allem auch für den vorausgegangenen Kampf: „Die Rolle der Kommunikationsmittel, und hauptsächlich des Fernsehens, war wichtig und positiv […].“22 RAI und Sky waren ab 2. August ständig mit einem Reporterteam vor Ort, um die Entwicklungen zu dokumentieren. „Die außergewöhnliche Aktion hat die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Doch das erklärt nicht alles […]. Hier, bevor die fünf auf den Kran gestiegen sind, hat es einen Kampf von langer Dauer gegeben.“23 Der öffentliche Diskurs formierte sich entlang der Frage, ob es legitim sei, eine wirtschaftlich rentable Fabrik für höhere Profitzwecke zu schließen. Auch die Finanz- und Wirtschaftskrise spielte eine bedeutende Rolle, da diese Finanz- und Immobilienspekulationen in Verruf brachte und PolitikerInnen umso mehr forderten, Arbeitsplätze zu erhalten: „Sie [die politischen Kräfte] haben verstanden, dass der Kampf der INNSE in der öffentlichen Meinung Popularität und wachsende Zustimmung erfuhr.“24 Die symbolische Besetzung wurde ab diesem Zeitpunkt eben nicht mehr nur als eine betriebsinterne Auseinandersetzung gesehen, sondern galt stellvertretend für viele andere ArbeiterInnen in ähnlichen Situationen – was diesen zusätzlich Kraft gab: „Für alle war die größte Angst, die uns nachts nicht schlafen ließ, nicht zeigen zu können, dass nicht immer der Herr [padrone] gewinnt. Ich dachte daran, welches Beispiel wir abgeben würden, wenn wir verlieren.“25 Erst diese Bedeutungszuschreibungen gaben dem Kampf eine symbolische Tragweite, wodurch sich die AkteurInnen zu einem Umdenken veranlasst sahen, da es nicht mehr bloß um irgendeine Fabrik in Mailand, sondern auch um die Industrie schlechthin ging. Die kämpfenden ArbeiterInnen hatten eine Frage aufgeworfen, bei der es keinen Kompromiss geben konnte, und die politischen AkteurInnen mussten sich daran messen lassen, auf welche Seite sie sich stellten.
Am 12. Oktober 2009, 17 Monate nach Ausbruch des Kampfes, setzten sich die gigantischen Maschinen wieder in Bewegung und die ersten ArbeiterInnen der INNSE nahmen ihre Arbeit wieder auf. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Geschlossenheit, kämpferische Tradition und unmittelbare Konflikterfahrungen, autonomes Vorgehen mit gewerkschaftlicher Unterstützung und vor allem ein erfolgreiches campaining in der Öffentlichkeit dies ermöglicht haben. Noch während die fünf auf der Kranbrücke ausharrten, hatte ihre Aktion Breitenwirkung gezeigt: Nahe Rom waren einige ArbeiterInnen auf einen Turm gestiegen, um gegen die Betriebsschließung zu protestieren. In der kurzen Zeit seit August 2009 gab es viele ähnliche Beispiele; die INNSE hatte Schule gemacht. Mitte Dezember etwa stiegen vier Arbeiter einer Yamaha-Niederlassung in Lesmo bei Mailand auf das Dach ihres Betriebes, harrten eine Woche lang in eisiger Kälte aus und konnten so zumindest die Aufnahme in die Lohnausgleichskasse erwirken. Die INNSE-Proteste sind also nicht nur deshalb interessant, weil sie einen sehr entschlossen und aktiv geführten Arbeitskampf im postindustriellen Mailand darstellen, sondern vor allem auch, weil sie eine starke Resonanz bei KollegInnen und über diese hinaus hervorgerufen haben. Ihre positiven Nachwirkungen, theoretisch wie praktisch, werden sich wohl erst in einiger Zeit zur Gänze zeigen.
Anmerkungen
1 I.R.I. steht für Istituto per la Ricostruzione Indutriale (Institut für den industriellen Wiederaufbau), eine staatliche Holding, die wesentlich an der Industrialisierung Italiens in der Nachkriegszeit beteiligt gewesen ist.
2 Eine ausführliche Darstellung der Geschichte der Innocenti-Gruppe (in italienischer Sprache) liefert Andrea Gallazzi mit „Storia della Innocenti“ auf www.inno-mini-world.com/Innocenti/story/storiainnocenti/1.htm
3 Ferrario, Andrea 2009: “Il caso Innse: dieci mesi di lotta.” Online-Artikel im Blog Milano Internazionale vom 01.04.2009, http://milanointernazionale.it/2009/08/04/il-caso-innse-dieci-mesi-di-lotta/ (eingesehen am 14.07.2009).
4 Vgl. Ebd.
5 AEDES 2006: “Aedes acquista il 46,23% di Rubattino 87 da VICTORIA Italy Property GmbH.” Pressemitteilung der AEDES-Gruppe vom 16.07.2006, http://www.aedes-immobiliare.com/file_upload/CS_AcquistoRubattino_20060718.pdf (eingesehen am 24.07.2009).
6 Comune di Milano 2009: ggg
7 Ferrario, Andrea 2009: “Il caso Innse: dieci mesi di lotta.” Online-Artikel im Blog Milano Internazionale vom 01.04.2009, http://milanointernazionale.it/2009/08/04/il-caso-innse-dieci-mesi-di-lotta/ (eingesehen am 14.07.2009).
8 Comune di Milano 2009: ggg
9 Eder, Florian 2008: „Mailand macht sich für die Expo hübsch“, Online-Artikel von WeltOnline vom 07.04.2008, http://www.welt.de/welt_print/article1876310/Mailand_macht_sich_fuer_die_Expo_huebsch.html (eingesehen am 14.07.2009). Andreas Kipar war direkt an der Ausarbeitung der Entwürfe für den Westteil des Rubattino-Projekts beteiligt.
10 Thomann, Rainer 2009: „Betriebsbesetzungen als wirksame Waffe im gewerkschaftlichen Kampf – eine Studie aktueller Beispiele.“, Seite 34, http://www.netzwerkit.de/projekte/innse/innse.pdf (eingesehen am 05.07.2009).
11 Assemblea Lavoratori 2009: “Innse presse. La prima lezione è: non abbandonare mai la fabbrica!” Erschienen als Online-Artikel in Il pane e le rose am 01.02.2009, http://www.pane-rose.it/files/index.php?c3:o14165 (eingesehen am 15.07.2009).
12 FIOM steht für Federazione Impiegati Operai Metallurgici.
13 Gli operai della Innse 2009: „Giu le mani dalla INNSE – L’agenda 2010 degli operai della Innse“, Progetto comunicazione, Milano.
14 Die Centri Sociali, Soziale Zentren, sind die typisch links bis linksradikalen Zentren, welche in vielen italienischen Städten existieren und oft aus Hausbesetzungen hervorgegangen sind.
15 Cartosio, Manuela 2009a: „Innse: C’è un compratore, ma la destra non s’interessa” Artikel in Il manifesto vom 07.08.2009, Seite 7.
16 Maturi, Marlangela 2009: „L’unitá tra gli operai è stata la nostra forza” Interview mit Vincenzo Acerenza (INNSE-Arbeiter) in Il manifesto vom 13.08.2009, Seite 6
17 Vom italienischen Wort für Kran (gru).
18 Vgl. Cartosio, Manuela 2009b: „Il cavalier Attilo, ama il lavoro e somiglia ai suoi gruisti” Artikel in Il manifesto vom 13.08.2009, Seite 6f.
19 Cartosio, Manuela 2009c: „Una vittoria pulita che ridà speranza” Interview mit Gianni Rinaldini (FIOM-Generalsekretär) in Il manifesto vom 13.08.2009, Seite 7
20 Assemblea Lavoratori 2009: “Innse presse. La prima lezione è: non abbandonare mai la fabbrica!” Erschienen als Online-Artikel in Il pane e le rose am 01.02.2009, http://www.pane-rose.it/files/index.php?c3:o14165 (eingesehen am 15.07.2009).
21 Maturi, Marlangela 2009: „L’unitá tra gli operai è stata la nostra forza” Interview mit Vincenzo Acerenza (INNSE-Arbeiter) in Il manifesto vom 13.08.2009, Seite 6
22 Rinaldini 2009, ggg
23 Cartosio, Manuela 2009c: „Una vittoria pulita che ridà speranza” Interview mit Gianni Rinaldini (FIOM-Generalsekretär) in Il manifesto vom 13.08.2009, Seite 7
24 Ebd.
25 Maturi, Marlangela 2009: „L’unitá tra gli operai è stata la nostra forza” Interview mit Vincenzo Acerenza (INNSE-Arbeiter) in Il manifesto vom 13.08.2009, Seite 6