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Editorial
von Gruppe Perspektiven

Pünktlich zum 1. Mai stellt Perspektiven Nr. 11, akkurat und handlich wie immer, die Frage: „Wie rot ist Wien?“ Debatten darüber, welchen politischen Anstrich Wien historisch hatte, entzieht sich die Stadt längst erfolgreich. Das Rote Wien der Zwischenkriegszeit ist nicht nur in Form der gebauten Umwelt, etwa dem Karl-Marx-Hof, allgegenwärtig. Als mythisch überhöhtes Idealbild eines „Sozialismus in einer Stadt“ bildet es bis heute auch einen zentralen identitären Bezugspunkt der österreichischen Sozialdemokratie.
Einer solchen Romantisierung entgegen zu arbeiten, halten wir deshalb politisch für wichtig, weil der Verweis auf das Rote Wien für die SPÖ in doppelter Hinsicht eine entlastende Funktion hat: Zum einen lassen die sozialpolitischen Errungenschaften des Roten Wiens die politisch-theoretischen Fehleinschätzungen der Sozialdemokratie in der Zwischenkriegszeit in den Hintergrund treten. Und zum anderen suggeriert die Konstruktion einer Kontinuität vom historischen Roten Wien bis in das SPÖ-regierte Wien der Gegenwart das Fortbestehen politischer Inhalte aus einer Phase, in der die Sozialdemokratie ihre Politik zumindest noch an den kurzfristigen Interessen ihrer sozialen Basis ausrichtete.

Dass sich die SPÖ entgegen dieser Selbstdarstellung längst meilenweit von den Interessen der ArbeiterInnenklasse entfernt hat, ist nicht zuletzt eine wichtige Ursache für den Aufstieg der extremen Rechten in den letzten 20 Jahren. Gerade vor dem Hintergrund der Wiener Gemeinderatswahl im Oktober dieses Jahres und der angekündigten (stadt-)politischen Offensive der rechtsextremen FPÖ ist die Frage „Wie rot ist Wien?“ daher auch die Frage nach den Perspektiven der (radikalen) Linken.

Daher eröffnen wir den Schwerpunkt dieser Ausgabe mit unserem Thesenpapier zur Wien-Wahl. Darin stellen wir zur Diskussion, wie sich die politische Situation im Vorfeld der Wahl unseres Erachtens darstellt und worin wir die zentralen Herausforderungen für linke Politik in den kommenden Monaten sehen.
Daran anschließend zeigen Veronika Duma, Katharina Kinzel, Fanny Müller-Uri und Tobias Zortea anhand der Aufstände in den Wiener Vorstädten um die Jahrhundertwende, dass Klassenkämpfe auch im „gemütlichen“ Wien durchaus eine lange, aber verborgene Tradition haben. Dabei wird unter anderem deutlich, wie sehr die Sozialdemokratie bereits in ihren Anfängen mit den widerständigen Praxen ihrer eigenen sozialen Basis zu kämpfen hatte.
Dass nicht nur ihre Praxis, sondern auch ihre Theorie alles andere als widerspruchsfrei und progressiv ist, wird durch das Label “Austromarxismus” allzu oft kaschiert. Benjamin Opratko und Stefan Probst argumentieren, dass der Austromarxismus vor allem als Produkt einer historischen Niederlage und das Rote Wien als eine groß angelegte Erziehungsstrategie und spezifische Version eines bürgerlichen Modernisierungsprojektes anzusehen ist.
Obwohl also schon das historische Rote Wien keineswegs nur Anlass zum Jubeln gibt, lebt sein Mythos bis heute unvermindert fort. Um wie viel weniger „rot“ demgegenüber erst das heutige Wien ist, zeigen wir exemplarisch anhand dreier Beispiele. Zunächst befragen Assimina Gouma, Petra Neuhold, Paul Scheibelhofer und Gerd Valchars die Stadt Wien aus der Perspektive der Migration auf ihre soziopolitische und antirassistische „Integrationsfähigkeit“. Dann gibt Jakob Weingartner im Interview mit Katharina Hajek und Felix Wiegand am Beispiel des Brunnenviertels darüber Auskunft, warum in Wien trotz – oder gerade wegen – des Instruments der „Sanften Stadterneuerung“ Gentrifzierung stattfindet. Und schließlich räumt Florian Reiter anhand des Fonds Soziales Wien mit der Vorstellung auf, die Sozialpolitik der Stadt Wien wäre noch immer in „roter“ Hand.

Außerhalb des Schwerpunkts verlassen wir Wien: Anlässlich der Filmpremiere des Dokumentarfilms When the Mountain meets its Shadow (dt.: Im Schatten des Tafelbergs) sprach Franziskus Forster mit den FilmemacherInnen und zwei Protagonisten über den täglichen Überlebenskampf in den Armenvierteln von Kapstadt und über Formen solidarischen Widerstands.
Und: Wer ist eigentlich Schuld an der Krise in Griechenland? Antworten auf diese Frage hat Fabio de Masi bei einem Vortrag in Berlin gegeben. Auch wenn seine Ausführungen recht deutschlandspezifisch sind und wir seine politischen Schlussfolgerungen kontrovers diskutiert haben, finden wir es wichtig, seine präzise Analyse der polit-ökonomischen Ursachen der Krise in dieser Ausgabe zugänglich zu machen.

Passend zum Heftschwerpunkt startet der Rezensionsteil diesmal mit einem Rundgang durch die Ausstellung Kampf um die Stadt im Wien Museum. Ebenfalls nicht ohne Bezug zum Roten Wien: Thomas Etzemüllers Buch zu social engineering. Außerdem stellt Maria Asenbaum eine Einführung in die Kritische Psychologie vor und Mario Becksteiner argumentiert gegen die AutorInnen des (fast) gleichnamigen Buches, dass WissensarbeiterINNEN durchaus organisierbar sind. Zum Abschluss gibt’s wie immer Rosinen zum Picken.

Auf dass Wien (und der Rest) irgendwann tatsächlich richtig „rot“ wird!
Eure Perspektiven-Redaktion





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