Sozialpartnerschaftliche Verhandlungsstrategien und verrechtlichte Formen des Arbeitskampfs sind offensichtlich in der Sackgasse. Doch die gewerkschaftliche Neuorientierung bleibt oft in den Mustern der Vergangenheit verhaftet. Mario Becksteiner, Tobias Boos und Ako Pire über die Erosion gewerkschaftlicher Handlungsmacht und die Herausforderungen im Angesicht der Krise.
Anders als in vielen europäischen Ländern scheint in Österreich die aktuelle Krise des Kapitalismus keine hohen Wellen zu schlagen. Während in Frankreich die Manager von Caterpillar, Sony und anderen Konzernen von wütenden ArbeiterInnen „arrestiert“ werden, um so den Erhalt von Arbeitsplätzen durchzusetzen, scheinen in Österreich Kündigungen, Kurzarbeit und milliardenschwere Rettungspakete für Banken weitgehend hingenommen zu werden. In der Diskussion in Deutschland zeichnet sich ab, dass die gewerkschaftliche Linke kleine Terraingewinne gegenüber den gemäßigteren Gewerkschaftsspitzen erreicht.1 Demgegenüber agieren die österreichischen Gewerkschaften, denen anlässlich des Streiks gegen die schwarz-blaue Pensionsreform 2003 noch attestiert wurde, endlich aufgewacht zu sein, sehr zögerlich.
In den Medien geistert die These herum, dass die Gewerkschaften es nicht wagen würden, gegen die SPÖ und gegen den eigenen ehemaligen Vorsitzenden und jetzigen Sozialminister Rudolf Hundstorfer auf die Barrikaden zu steigen. An dieser Th ese mag etwas Wahres sein, jedoch werden wir in unserem Artikel zeigen, dass diese Analyse zu kurz greift. Vielmehr argumentieren wir, dass eine Erklärung des gegenwärtigen Agierens der österreichischen Gewerkschaften auf einer grundlegenderen Ebene ansetzen muss.2 Die Gewerkschaften in Österreich erlebten in den letzten 25 Jahren eine Veränderung des gesellschaftlichen Umfelds, die ihre bisherigen Handlungsstrategien und politischen Entscheidungen, die stark auf sozialpartnerschaftliche Verhandlungsprozesse konzentriert waren, sukzessive in Frage stellten. Dieser Erosionsprozess ging langsam vonstatten und die Gewerkschaften reagierten nur sehr zurückhaltend und selektiv auf ihn.
Genau in diesem Erosionsprozess und den zaghaften Versuchen, auf diesen zu reagieren, werden ArbeiterInnen und Gewerkschaften nun von der massivsten Wirtschaftskrise seit 1929 getroff en. Wir können also festhalten, dass zu einer tief greifenden Krise der sozialpartnerschaftlich geprägten Praxis der Gewerkschaften eine Weltwirtschaftskrise hinzutritt, die einmal mehr die gesellschaftlichen Verhältnisse erschüttert und ratlose GewerkschafterInnen zurücklässt. Diese suchen in einem äußerst schwierigen Orientierungsprozess nach Anhaltspunkten und greifen dabei auf Muster, die in der Vergangenheit entwickelt wurden, zurück. Ob diese allerdings für eine zukünftige gewerkschaftliche Praxis angemessen sind, erscheint mehr als fraglich.
Gewerkschaftliche Machtressourcen
Um die Analyse transparent zu halten, wollen wir zu Beginn einige analytische Werkzeuge erklären, die uns auf die Fährte der „doppelten“ Krise der Gewerkschaften führen.
Erik O. Wright und Beverly J. Silver definieren zwei zentrale Machtressourcen von ArbeiterInnenbewegungen. 3Diese sind als Machtpotentiale zu verstehen, die aufgrund der kapitalistischen Produktionsweise zwar vorhanden sind, aber keineswegs automatisch aktiviert werden. Um die Machtpotentiale zu aktivieren, bedarf es eines bewussten Handelns der ArbeiterInnen und ihrer Organisationen. Erstens erwachsen aus der Position der ArbeiterInnen im ökonomischen System strukturelle Machtressourcen. Diese lassen sich in zwei Unterkategorien einteilen: Zum einen die Produktionsmacht. Diese „entwickeln Arbeiterinnen und Arbeiter in hochintegrierten Produktionsprozessen, die durch örtlich begrenzte Arbeitsniederlegungen an Schlüsselstellen in einem Umfang gestört werden können, der weit über die Arbeitsniederlegung selbst hinausgeht. Diese Macht zeigt sich, wenn ganze Fließbänder durch Arbeitsniederlegungen an einem Bandabschnitt gestoppt werden und ganze Konzerne, die von just-in-time Zulieferung abhängen, durch Eisenbahnstreiks zum Stillstand gebracht werden.“4 Die zweite strukturelle Machtressource ist weniger im Produktionsprozess selbst angesiedelt, sondern bezieht sich auf die Ware Arbeitskraft. Marktmacht entsteht aus einem „angespannten“ Arbeitsmarkt. „Die Marktmacht kann verschiedene Formen annehmen, darunter (1) den Besitz seltener Qualifikationen, die von ArbeitgeberInnen nachgefragt werden, (2) geringe Arbeitslosigkeit und (3) die Fähigkeit von Arbeitern und Arbeiterinnen, sich vollständig vom Arbeitsmarkt zurückzuziehen und von anderen Einkommensquellen als der Lohnarbeit zu leben.“5
Die zweite Kategorie von Machtressourcen bezieht sich auf die Organisationsfähigkeit der ArbeiterInnen. Durch die kollektive Organisierung der ArbeiterInnen in Gewerkschaften oder Parteien kann die Individualisierung und die ständige Konkurrenz unter den LohnarbeiterInnen zurückgedrängt werden. Diese können damit ihre Position gegenüber der Kapitalseite verbessern und zum Teil schwindende Markt- oder Produktionsmacht kompensieren. Trotzdem bleibt die Organisationsmacht abhängig von der grundsätzlichen Möglichkeit, Markt- und Produktionsmacht einzusetzen, also ein Drohpotential gegenüber der Kapitalseite aufrecht zu erhalten.
Eine Arbeitsgruppe an der Universität Jena erweiterte diesen Ansatz um einen insbesondere für deutsche und österreichische Gewerkschaften wichtigen Aspekt: die institutionelle Machtressource. „Sie entsteht als Resultat von Aushandlungen und Konflikten, die auf struktureller Macht und Organisationsmacht beruhen. Ihre Besonderheit wurzelt in dem Faktum, dass Institutionen soziale Basiskompromisse über ökonomische Konjunkturen und kurzzeitige Veränderungen gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse hinweg festschreiben und teilweise gesetzlich fi xieren.“6 Diese Machtressource hatte und hat in Österreich eine starke präformierende Wirkung auf das Handeln von GewerkschafterInnen und BetriebsrätInnen. In den von Sozialpartnerschaft geprägten industriellen Beziehungen und den dichten korporatistischen Netzwerken zwischen Regierung und den Verbänden der ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen wurde die Konzentration auf diese Machtressource zum wichtigsten Orientierungspunkt. Dies hatte zwei Folgen für die österreichischen Gewerkschaften. Erstens wurden die anderen Machtressourcen, insbesondere die Produktionsmacht, vernachlässigt und es bildete sich ein spezifi sches Praxismuster heraus – sowohl auf Ebene der makropolitischen Verhandlungen als auch auf jener der betrieblichen Arbeit. Vermittelt über positive Erfahrungen mit dieser Praxis stabilisierten sich diese Muster. Zweitens war der Erfolg dieser Praxismuster gebunden an eine spezifi sche Periode kapitalistischer Entwicklung, den Fordismus. Dies hatte zur Folge, dass mit dessen Krise auch die tradierten gewerkschaftlichen Praxen in einen Widerspruch mit den tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen gerieten. Gleichzeitig ist die einmal erlernte und erfolgreich angewandte Praxis jedoch schwierig zu verändern, hat sie sich doch tief in das Selbstverständnis und das Weltbild von Organisationen und Individuen eingeschrieben.
Voraussetzungen
Als Fordismus bezeichnet man eine spezifische Periode kapitalistischer Entwicklung in der Nachkriegszeit. Für die Betrachtung gewerkschaftlicher Praxen spielen dabei drei Momente der industriellen Beziehungen eine herausragende Rolle.7 Erstens war diese Periode geprägt von einem spezifischen Produktionsparadigma, das auf tayloristischer8 Arbeitsorganisation und der Ausrichtung auf Massenkonsum basierte. Zweitens wurde dieser Massenkonsum den ArbeiterInnen über die Kopplung der Lohnsteigerungen an die Produktivitätsfortschritte ermöglicht. Erstmals in der Geschichte wurden ArbeiterInnen in den hoch entwickelten Industriestaaten in den kapitalistischen Prozess nicht nur als LohnarbeiterInnen, sondern auch als MassenkonsumentInnen integriert. Um sicher zu stellen, dass der soziale Frieden nicht durch kämpferische ArbeiterInnen gefährdet wird, wurden die großen ArbeiterInnenorganisationen zusehends in die staatlichen Institutionen eingebunden. Das dritte zentrale Moment stellt die Entwicklung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen dar. Über Verhandlungsprozesse wurde Umverteilung in für das Kapital verkraftbaren Ausmaßen organisiert. Zugunsten eines verstärkten Mitspracherechts auf makropolitischer Ebene verzichteten Gewerkschaften und sozialdemokratische Parteien darauf, Kämpfe zu mobilisieren, welche die Kontrolle über die Arbeit und den Besitz von Produktionsmittel in Frage gestellt hätten.
Austrokorporatismus
Der Fordismus zeichnete sich in Österreich durch eine ganz besonders enge Verfl echtung von ArbeitnehmerInnenorganisationen, den Verbänden der Kapitalseite sowie der staatlichen Institutionen aus. Hier wurden wichtige politische Entscheidungen zumeist schon im Vorfeld parlamentarischer Diskussionen gefällt. In den meisten Darstellungen zur österreichischen Sozialpartnerschaft wird unterstellt, dass die Entstehung konsensual-sozialpartnerschaftlicher Praxen in der Nachkriegszeit im Großen und Ganzen friktionslos verlief. Oft wird unterschlagen, dass der Orientierung auf die Sozialpartnerschaft ein massiver Konfl ikt innerhalb der österreichischen Gewerkschaftsbewegung vorausgegangen war. Die sozialpartnerschaftliche Orientierung musste von den SPÖ- und ÖVP-nahen Gewerkschaftsfraktionen auch gegen den Widerstand der eigenen Basis und der kommunistischen GewerkschafterInnen durchgesetzt werden.9
In der heutigen wissenschaftlichen Debatte wird mit Bezug auf die makropolitische Regulationsebene von „Austrokorporatismus“ gesprochen. Dieser zeichnete sich laut Tálos durch einige zentrale Merkmale aus: So herrschte bei der überwältigenden Mehrheit der Akteure ein Grundkonsens vor, sich auf eine im Rahmen des Nationalstaates orientierte makroökonomische Entwicklung zu konzentrieren. Insbesondere das Kammernwesen wurde von Seiten der Politik stark privilegiert. So wurde die Pflichtmitgliedschaft bei Arbeiterkammer und Wirtschaftskammer festgelegt. Weiters wird ein hoher Zentralisationsgrad der österreichischen Verbandslandschaft deutlich, was sich beispielsweise in der Monopolstellung des ÖGB zeigt. Zudem stehen diese Verbände in enger Verbindung mit den österreichischen Parteien (SPÖ mit BAK und ÖGB; ÖVP mit PRÄKO, WKO, VÖI)10. Auf betrieblicher Ebene konnte sich der sozialpartnerschaftliche Konsens über die Betriebsräte verankern. Auch in Politik und Bevölkerung stieß die Sozialpartnerschaft auf breite Akzeptanz. Eine weitere Besonderheit des österreichischen Systems stellten die verstaatlichten Betriebe (insbesondere in den Schlüsselbranchen der Industrie, Schwerindustrie und des Bankensektors), sowie die kleinräumige Wirtschaftsstruktur und die relative Schwäche des Großkapitals dar.11
Dieses dichte Netz an korporatistischen Arrangements und die wirtschaftliche Struktur beförderten die Konzentration der Gewerkschaften auf die institutionellen Machtressourcen. Die sozialpartnerschaftlichen Aushandlungsprozesse verfestigten sich zu robusten Praxen, die sich nicht nur auf Ebene der makropolitischen Regulation etablierten, sondern auch auf die gewerkschaftliche und betriebsrätliche Arbeit auf Ebene der Betriebe selbst zurückwirkten.
Kulturelle Dispositionen
Die Vermittlung zwischen makropolitischer und betrieblicher Ebene vollzog sich einerseits über juridische Regelungen, andererseits über Vertrauen und persönliche Beziehungen. Bei der Gesetzgebung, insbesondere im Bereich des Arbeits- und Sozialrechts, spielten vorparlamentarische Aushandlungsprozesse zwischen den Sozialpartnern eine maßgebliche Rolle. „Das Arbeitsrecht erwies sich bis in die 1990er Jahre hinein als einer jener Politikbereiche, bei denen das korporatistische Muster der Entscheidungsfindung bzw. die korporatistische Verhandlungsdemokratie annähernd durchgängig zum Tragen kam. Eine ähnliche Konstellation ist für den Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik konstatierbar: privilegierte Einbindung der Dachverbände auf allen Ebenen des Entscheidungsprozesses und Interessenakkordierung zwischen Regierung und den Dachverbänden.“12 Diese Verhandlungsstrategien führten auch dazu, dass sich sowohl die politischen Kräfteverhältnisse als auch die spezifischen ökonomischen Strukturen wie auch gesellschaftlichen Normen des Fordismus in die Gesetzgebung einschrieben und festgeschrieben wurden.
Solange die gesetzlichen Regelungen den gesellschaftlichen Bedingungen, in deren Kontext sie entstanden waren, entsprachen, konnten sie für das Agieren von BetriebsrätInnen, Gewerkschaften und Betriebsleitungen als gemeinsamer (symbolischer) Bezugsrahmen dienen, der die Verhandlungspraxen stabilisierte und auf Dauer stellte. Dieser Orientierungsrahmen ermöglichte so auch ein Verhandeln auf (vermeintlich) „gleicher Augenhöhe“ und wurde damit zum zentralen Identifikationsmoment von GewerkschafterInnen und BetriebsrätInnen.
Dass die gewerkschaftliche und betriebsrätliche Praxis auf persönliche Beziehungen sowie – im Hinblick auf Verhandlungen auf Betriebsebene – auf gegenseitiges Vertrauen setzt, steht ebenfalls in einem engen Verhältnis zu der makropolitischen Ebene der Sozialpartnerschaft. Wie die Aussagen eines Gewerkschaftssekretärs zeigen, spielen persönliche Beziehungen eine zumindest ebenso wichtige Rolle wie gesetzliche Regelungen. „Ich stelle fest, manche Dinge löst man nicht durchs Gesetz, sondern löst man auch durch Beziehungen. Ich möchte meines dazu beitragen, und das ist auch eine Erfahrung der österreichischen Gewerkschaftsbewegung, dass Beziehungen immer eine wichtige Rolle gespielt haben für manche Entwicklungen im Arbeits- und Sozialrecht in Österreich. Ein Benya13 und Sallinger14 haben total gute Beziehungen gehabt und haben auch viel weitergebracht.“15
Die bisherigen Voraussetzungen, die wir aufgezeigt haben, verweilen noch auf einer relativ konkreten Analyseebene. Um die heutigen Veränderungsprozesse in ihrer Tiefe zu verstehen, müssen wir einen Blick auf die „Hintergrundmusik“ der fordistischen Entwicklung und der korporatistischen Praxen werfen.
Raum und Zeit im Fordismus
Gesellschaftliche Entwicklungen sind immer eingebettet in räumliche und zeitliche Strukturierungen. Diese Strukturen stehen der Gesellschaft nicht äußerlich gegenüber sondern sind selbst gesellschaftlich produziert und können durch alltägliche Praxen, aber auch durch strategisches Handeln von gesellschaftlichen AkteurInnen stabilisiert oder verändert werden. Der Fordismus lässt sich im Hinblick auf raum- zeitliche Muster analysieren. Die wichtigsten politischen Organisationen akzeptierten den Nationalstaat als zentrale räumliche Maßstabsebene der politischen Regulation. Die Nationalökonomie orientierte sich an dieser Maßstabsebene genauso wie die Gewerkschaften, die ihre Organisationskraft, bis auf wenige Ausnahmen, auf dieses räumliche Muster konzentrierten. Eine ähnliche aber nicht idente Wirkung hatten die spezifischen räumlichen Implikationen des tayloristischen Arbeitsprozesses. „Das Arbeitsverfassungsmodell der betrieblichen Mitbestimmung ist ein industrialisiertes Modell, ist historisch auch so entstanden, das heißt der Grundgedanke war: es gibt einen Betrieb, mit einer Werkshalle, mit einem Büro, dort arbeiten alle und dort wird ein Betriebsrat gewählt, der vertritt alle. Solange das so ist, funktioniert ist das ArbVG16 sehr gut.“ Wie dieses Zitat eines Gewerkschaftssekretärs zeigt, schrieben sich in die Gesetze nicht nur die politischen Kräfteverhältnisse, die gesellschaftlichen Normen und ökonomischen Formen des Fordismus ein, sondern auch die räumlichen Strukturen. Die gesetzliche Regelung von Vertretungsstrukturen entsprach demnach dem auf dem Massenarbeiter aufbauenden fordistischen Betrieb, mit zumeist männlichen Arbeitern, und dieses Modell prägte auch die Praxen gesellschaftlicher Widerspruchsbearbeitung. Jens Winter bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt: „Vor diesem Hintergrund wäre der Fordismus in doppelter Hinsicht als eine ‚glückliche Fundsache‘ zu begreifen: Zum einen als relativ kohärenter, gesellschaftlicher Reproduktionsmodus, darüber hinaus jedoch als relativ konvergente, räumlich-territoriale Matrix von Akkumulation, Regulation und den entsprechenden sozialen Konfl ikten und Aushandlungsprozessen“17
Doch nicht nur räumliche Konvergenzen spielten eine gewichtige Rolle in der einzigartigen Stabilität der fordistischen Regulationsweise. Zeit als strukturierender und strukturierter Konstitutionsmoment ist ebenso zentral. So kann in Anlehnung an Richard Sennett eine spezifi sche „organisierte Zeit“ für den Fordismus analysiert werden.18 Michel Aglietta hält fest: „Das Herzstück der Regulation bestand in der Herstellung der Kohärenz zwischen den schnellen Produktivitätsfortschritten, der Expansion der Realeinkommen und der Stabilität ihrer Verteilung. Der Reallohn stieg regelmäßig, weil er auf das Wachstum der Arbeitsproduktivität abgestimmt war. … Somit war die Anhebung des Lebensstandards der Lohnabhängigen vereinbar mit der Beständigkeit der Profi trate, also mit der regelmäßigen Kapitalakkumulation.“19 Die zeitlichen Konvergenzen, die sich auf Ebene der Umverteilung ergaben, standen auch mit finanzpolitischen Entscheidungen in enger Verbindung. Die Niedrigzinspolitik ermöglichte es den Unternehmen über kurzfristige, konjunkturelle Schwankungen hinweg, langfristig zu planen.
Dieser langfristige Zeithorizont prägte auch die politischen Beziehungen auf makropolitischer, wie auch auf betrieblicher Ebene. Dies ermöglichte die Herausbildung stabiler Verhandlungsnetzwerke. Die relativ kontinuierlichen Erwerbsbiographien von ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen, sowie paternalistische und hierarchische Managementstrukturen beförderten langfristige stabil-hierarchische Vertrauensbeziehungen. Insbesondere für die betriebliche Arbeit und die beiden Vermittlungspraxen zwischen Makropolitik und Betrieb spielte diese langfristigen Zeithorizonte eine gewichtige Rolle. So konnten das Recht und die daran anschließenden Praxen den notwendigen Rahmen betrieblicher Verhandlungsbeziehungen zu Verfügung stellen.
Fordismus und Globalisierung
Die Krise des Fordismus, die sich seit den frühen 70er Jahren entwickelte und heute oft im Rahmen des Globalisierungsdiskurses verhandelt wird, hatte mehrere Ursachen. Es gibt eine Fülle an Krisendiagnosen, auf die wir hier nicht näher eingehen können. Ihnen allen, ob sich diese nun auf den politischen oder ökonomischen Bereich beziehen, ist gemeinsam, dass sie Veränderungen von raum-zeitlichen Mustern aufzeigen. Dabei darf die Globalisierung nicht als quasi-natürlicher Prozess der Kapitalbewegung verstanden werden, sondern muss als gesellschaftlich produziert und auf unterschiedlichen räumlichen Skalen durchgesetzt begriffen werden. Hier sind nicht nur die „üblichen Verdächtigen“ wie IWF, Weltbank oder WTO als bestimmende Kräfte zu verstehen, sondern auch nationalstaatliche Akteure wie Wirtschaftsverbände, Parteien, Regierungen aber auch Gewerkschaften. Studien in Deutschland haben gezeigt, dass Gewerkschaften mitunter zur treibenden Kraft wurden, um Regionen „fi t für den Weltmarkt“ zu machen. Dabei nahmen sie nicht selten die Rolle subalterner Co-ManagerInnen des Strukturwandels ein. Im Übergang von staatszentriertem Governement hin zu regionalen und akteursbezogenen Formen der Governance, glaubten viele Gewerkschaften ein neues Feld sozialpolitischer Aktivität eröffnen zu können. Doch schnell stellten sich diese Erwartungen als überhöht heraus. Die Möglichkeiten, substantiell auf die Prozesse der ökonomischen Restrukturierung Einfluss zu nehmen, waren begrenzt.20 In Österreich kann man diesen Prozess vor allem in den teils EU-fi nanzierten Regionalisierungs- und Clusterprojekten beobachten.21 Auf diesem Weg werden Gewerkschaften sowohl diskursiv als auch institutionell in regionale „Wettbewerbspakte“ eingebunden. Die im Zuge der Globalisierung entwickelten Produktions- und Managementpraxen – „Just-in-time“, Flexibilisierung, transnationale Produktionsketten, „management by stress“, „outsourcing“ u.v.m. – werden nur selten in ihrer raum-zeitlichen Natur als umkämpft erfasst. Diese korrespondieren auch mit neuen politischen Mustern wie dem Wettbewerbsstaat, Wettbewerbsregionalismus, europäischer Integration, Wettbewerbskorporatismus, „Global Governance“ oder der politischen Praxis des „speed kills“. Bisherige räumliche und zeitliche Muster werden neu verknüpft und zueinander in Verhältnis gesetzt. Zum Beispiel wurden durch die Liberalisierung globaler Handelsströme die nationalen Ökonomien stärker miteinander in Beziehung gesetzt, die Gewinnerwartungen orientierten sich zusehends nicht mehr am nationalstaatlichen, stärker volkswirtschaftlich geprägten Kontext, sondern vermehrt an den Gewinnvorgaben der internationalisierten Finanzmärkte. Der „Shareholder Value“ wurde zum zentralen Bezugssystem. Vermittelt über Konkurrenzverhältnisse auf den heimischen Märkten mussten sich auch nicht börsennotierte Unternehmen vermehrt diesen neuen Standards anpassen. Diese drückten sich auf betrieblicher Ebene durch das Ausfindigmachen von Rationalisierungspotentialen und durch neue Managementpraktiken aus.
Konjunkturelle Einbrüche in der globalen Industrie wurden von Seiten des Kapitals, aber auch neoliberal orientierter Fraktionen in der österreichischen Politik, dazu genützt, vormals verstaatlichte Betriebe zu privatisieren. Die Privatisierung der vormals verstaatlichten Industrie sowie die Teilprivatisierungen öff entlicher Infrastruktur schwächten die organisatorischen Hochburgen der Gewerkschaften. Auf Ebene der makropolitischen Regulation, also des dichten Netzwerkes des Austrokorporatismus, erodierte langsam die institutionelle Macht der ArbeitnehmerInnenorganisationen. Allerdings vollzog sich diese Erosion nicht über einen offenen Konflikt wie in anderen Ländern, sondern durch einen schleichenden Prozess der Veränderung von Verhandlungspraxen. Dies geschah im Kontext einer Veränderung des Verhandlungsgleichgewichts, das den sozialpartnerschaftlich organisierten Klassenkompromissen zu Grunde lag. Denn als Folge der Transnationalisierung der Ökonomie aber auch der politischen Entscheidungswege (EU-Beitritt), „wurde der Interessensdissens zwischen den sozialpartnerschaftlich involvierten Akteuren in wesentlichen Fragen wie der Budgetkonsolidierung, der Flexibilisierung am Arbeitsmarkt, der Einkommensverteilung und sozialstaatlichen Sicherung größer.“22
Die Praxis der Verhandlungen innerhalb der Sozialpartnerschaft kam zwar nicht zum Erliegen, doch wurde sie repositioniert und angesichts der veränderten politischen und ökonomischen Kräfteverhältnisse neu ausgerichtet. Immer öfter wurden von politischer Seite die inhaltlichen Spielräume sehr eng gestaltet und neue AkteurInnen wie Lobbygruppen integriert. Oft wurden die tradierten Muster der Akkordierung der Sozialpartner nur noch im Bereich der Implementierung schlagend.
Betriebliche Arbeit
Dieser Erosionsprozess zeigte auch seine Wirkung in den Betrieben. Die Abwertung sozialpartnerschaftlicher Aushandlungsprozesse verlagerte Konfl ikte zusehends auf die betriebliche Ebene. Die gesteigerte Durchsetzungskraft neoliberaler Kapital- und Politikfraktionen erhöhte den Druck auf ArbeitnehmerInnen. Gleichzeitig verloren die sozialpartnerschaftlichen Praxen auch in den Betrieben an Wirkmächtigkeit. Wie zuvor schon erwähnt gab und gibt es in den Betrieben zwei zentrale Praxisdispositionen, die aus der Organisationskultur der Sozialpartnerschaft entsprungen sind: die Verrechtlichung und die persönlichen Beziehungen. Mit der Orientierung von Betrieben an internationalen Gewinnvorgaben zogen auch neue Managementformen in die Betriebe ein. Diese drückten sich in sehr rigiden Zielvorgaben für das Management aus. Die Unternehmenspolitik entwickelte kurzfristigere Zeithorizonte. Ein Gewerkschaftssekretär beschreibt dies im Bereich der Personalwesens so: „Also früher war ein Geschäftsführer lange Jahre Geschäftsführer, ja, mit dem hat man eine Beziehung aufgebaut. … Und jetzt ist es so, dass die meisten Geschäftsführer fünf Jahre da sind, wenn‘s gut geht, und ich kann nicht einen Geschäftsführer innerhalb von fünf Minuten kennen und dann mit dem eine Verhandlungsbasis aufbauen. Abgesehen davon haben die meisten Geschäftsführer, die jetzt da anfangen zu arbeiten, im Vertrag drinnen stehen, wenn sie Einsparungsmaßnahmen haben, bekommen sie eine Erfolgsprämie.“ Auch die Kompetenzen der regionalen Organisationseinheiten, insbesondere von großen Konzernen, wurden stark beschränkt. Damit verringert sich der Verhandlungsspielraum, den GeschäftsführerInnen gegenüber den Belegschaften und den Gewerkschaften vor Ort haben, enorm. Durch erfolgsgebundene Prämien in den Verträgen von ManagerInnen und GeschäftsführerInnen, wird zusätzlich Druck aufgebaut. „Und wenn sie weggehen und die Bude hinter ihnen zusammenbricht, sie haben das was sie versprochen haben erfüllt, wenn nicht, dann kriegen sie keine Kohle. … Und früher war ein Geschäftsführer, der war, weiß ich nicht, zwanzig, dreißig Jahre in einer Firma und der hat die Firma gekannt. Da war noch Handschlagsqualität.“
Sehr ähnlich verhält es sich mit der rechtlichen Ebene, die zunehmend selbst zum umkämpften Terrain wird. „Jetzt müssen sie (die BetriebsrätInnen, Anm.d.V.) drum rennen. Jetzt müssen sie hergehen und ein Gutachten einfordern und auf das Gutachten kommt ein Gegengutachten von der Geschäftsleitung und irgendwann streiten sie sich einmal zusammen. Und es wird jetzt viel mehr auf Gesetzesebene versucht zu arbeiten. Ich mein‘, das Gesetz ist zwar gut, aber es sind teilweise Gummiparagraphen drinnen, wo du dich zwar dran anlehnen kannst aber es ist noch immer nicht das Gelbe vom Ei.“
Das Recht wird also zur „Notbremse“ in betrieblichen Konflikten und zu einem Substitut der schwindenden Durchsetzungskraft persönlicher Beziehungen. Gleichzeitig wird Recht selbst vermehrt umkämpft. Auf makropolitischer Ebene konnte in den letzten Jahren beobachtet werden, dass das Arbeitsrecht aus dem vorparlamentarischen Aushandlungsprozess der Sozialpartner herausgelöst und zum Gegenstand parlamentarischer Mehrheitsentscheidungen wurde. Das bedeutet auch, dass Gewerkschaften und Arbeiterkammer weniger Einfl uss haben, da sich die parlamentarischen Machtverhältnisse sukzessive nach Rechts verschieben.
Paradigmatisch und am offensichtlichsten hierfür ist die Zeit der Schwarz-Blauen Regierung, die bereits bestehende Trends verstärkte. „In der XXI. Gesetzgebungsperiode (2000-2002) wurden von insgesamt 31 arbeitsrechtlichen Gesetzen 17 nur mit Stimmen der Regierungsparteien, elf einstimmig beschlossen. In der XXI. Gesetzgebungsperiode (2003-2006) erfolgte bei insgesamt 26 arbeitsrechtlichen Gesetzen der Beschluss in zehn Fällen mit Stimmenmehrheit der Regierungsparteien, in zehn Fällen einstimmig. Faktum insgesamt ist, dass im Unterschied zu früher die Regierung nunmehr im Bereich des Arbeitsrechtes ihre parlamentarische Mehrheit häufi g einsetzt.“23 Die Verteidigung von Rechtspositionen und die Aufrechterhaltung von Verhandlungsbeziehungen auf betrieblicher Ebene werden zur arbeitsintensiven Aufgabe. Sowohl BetriebsrätInnen aber auch GewerkschaftssekretärInnen kommen damit in vorwiegend defensive Positionen. Oftmals werden dann von Seiten der Gewerkschaften, aber auch von Seiten der BetriebsrätInnen Verschlechterungen akzeptiert, nur um noch ein Wenig sozialpartnerschaftliche Kultur aufrechterhalten zu können.
Krise kultureller Praxen
Es lässt sich also zusammenfassen, dass die ökonomischen und politischen Veränderungen zu einem massiven Verlust an Durchsetzungskraft von sozialpartnerschaftlichen Praxen, sowohl auf makropolitischer als auch auf betrieblicher Ebene geführt haben. Diesen Verlust beschreiben wir als eine schleichende aber immer brisanter werdende Krise gewerkschaftlicher Praxiskultur, insbesondere auf Ebene der Betriebe. In diesem Sinne kann der erwähnten Jenaer Forschungsgruppe zugestimmt werden, wenn sie für Österreicheine „Fassade institutioneller Stabilität“ konstatiert. „Unser Fazit lautet: Ohne Organisationsbasis in den Unternehmen stehen auch die österreichischen Gewerkschaften trotz weiterhin bestehender institutioneller Vorteile den Restrukturierunsstrategien der Unternehmen relativ hilfl os gegenüber. Eine einseitige Konzentration wissenschaftlicher Analyse auf die institutionelle Kontinuität verdeckt die Erosion gewerkschaftlicher Organisations- und Durchsetzungsmacht. Die fortbestehende sozialpartnerschaftliche Einbindung kann den akuten Machtverlust der Gewerkschaften nur unzureichend kompensieren.“24
Bisherige „Reformansätze“
Die von uns beschriebenen Krisenmomente legen nahe, dass sich Reformansätze verstärkt auf gewerkschaftliche Praxen auf betrieblicher Ebene beziehen müssten, um so gesamtgesellschaftlich wieder durchsetzungsfähiger zu werden. Dies geschieht allerdings nur in sehr geringem Maße. Die bisherigen Reformen sind eher geprägt von einem funktionalistischen Verständnis und dem Versuch die angeschlagene Finanzlage, insbesondere nach dem BAWAG-Debakel, zu reparieren.
Als Beispiel dieser funktionalistischen Reformansätze kann die Fusionswelle der Gewerkschaften in den letzten Jahren angesehen werden. Speziell die Industriegewerkschaften durchliefen einen Prozess der Konzentration. Dabei fusionierten kleinere Teilgewerkschaften von Post, Eisenbahn,Metaller zu größeren Apparaten wie GMTN (Gewerkschaft Metall-Textil-Nahrung) oder VIDA. Hintergrund dieser Fusionen waren Einsparungsmaßnahmen, die mit dem Verlust von Mitgliedern im industriellen Sektor erklärt wurden. Der im internationalen Vergleich relativ gering ausfallende Mitgliederverlust wirkte sich auf kleine Teilgewerkschaften mit jeweils eigenen großen Apparaten proportional stärker aus. Vom Gewerkschaftsdachverband ÖGB wurde ein Reformversuch unter dem Titel „ÖGB Neu“ angestrengt, der hauptsächlich darauf abzielte, die drohende Pleite abzuwenden. Diese Prozesse berührten die betrieblich-kulturellen Praxen nur in sehr geringem Umfang und zielten eher darauf ab, die fi nanzielle Potenz und damit die institutionelle Verhandlungsmacht und den bürokratischen Apparat, der immer mehr auf Rechtshilfe und Serviceleistungen ausgerichtet wurde, zu stabilisieren. Eine Revitalisierung betrieblicher Durchsetzungskraft und eine Veränderung der erodierenden Praxen auf betrieblicher Ebene standen dabei so gut wie nie zur Debatte.
Um den Mitgliederverlust zu kompensieren wurde von Seiten der Gewerkschaften verstärkt auf Serviceorientierung und punktuelle Präsenz in Form von Werbeveranstaltungen in den Betrieben oder in Branchen gesetzt, wo es einen niedrigen Organisationsgrad gibt. Nur selten gingen diese Bestrebungen über ein Modell der serviceorientierten Gewerkschaftsarbeit hinaus. Eine weitere Taktik war die „NGOisierung“ gewerkschaftlicher Arbeit. Wie bei KIK und zuletzt bei IKEA wird dabei versucht, Druck über Medien aufzubauen und die öff entliche Meinung zu Gunsten von ArbeitnehmerInneninteressen zu beeinfl ussen. Dabei konnten punktuelle Teilerfolge erzielt werden, doch den Angestellten und ArbeiterInnen kam in diesen Kampagnen zumeist eine eher passive Position zu. In gewisser Weise wird hier ein „zivilgesellschaftlicher Bypass“ um die Frage der Revitalisierung betriebsnaher gewerkschaftlicher Praxiskultur gelegt. Deshalb ist es fraglich, ob die Teilerfolge, gerade im Angesicht der Krise, auf Dauer gestellt werden können. Diese Reformansätze, so notwendig sie auch sein mögen, fanden bisher keine Antworten auf den zentralen Erosionsprozess betrieblicher Durchsetzungskraft und veränderten nur in sehr geringem Ausmaß die nicht mehr greifenden kulturellen Praxen der österreichischen Gewerkschaftsbewegung. In diesem Moment werden ArbeiterInnen von der schlimmsten Weltwirtschaftskrise seit 1929 getroff en. Die organisierte ArbeiterInnenbewegung steht nun vor einer doppelten Krise.
Drei Dimensionen der Krisen
Um die drei Dimensionen der Krise, die unmittelbar auf die Gewerkschaften in Österreich einwirken, auszuloten, werden wir noch einmal zu den erwähnten Machtressourcen zurückkehren. Wir verorten in der derzeitigen Krisendynamik drei Einsatzebenen von institutioneller Macht und Organisationsmacht und eine Ebene auf der potentiell Produktionsmacht und betriebsnahe Praxen ein Revival erleben könnten.
(1) Makropolitik: Die aktuellen Arbeitsmarktzahlen zeigen, wie dramatisch die Lage mittlerweile ist: Ende März meldet das Arbeitsmarktservice (AMS) einen Anstieg der Arbeitslosigkeit im Vergleich zum Vorjahr um 28,8%.25 In ihrer Februar/März Ausgabe berichtet die Solidarität für Ende Januar bereits von 20.000 beim AMS zur Kurzarbeit angemeldeten Beschäftigten. Bis Ende des ersten Quartals 2009 soll die Zahl auf 26.000 steigen.26 Zum Vergleich: Im Jahre 2007 lag der Monatsdurchschnitt der ArbeiterInnen in Kurzarbeit bei 200. Bei General Motors sind es mittlerweile 1.540 von 1.850 ArbeiterInnen, die zur Kurzarbeit angemeldet sind; bei der VOEST in Linz sind von 7.000 Beschäftigten 5.900 in Kurzarbeit.27 Die Erleichterung der Kurzarbeitsregelungen stellt die erste Säule der gewerkschaftlichen Krisenbearbeitung auf makropolitischer Ebene dar.
Die zweite Säule ist die gewerkschaftliche Unterstützung der Konjunkturpakete. Damit sollen Arbeitsplätze gesichert und nach Möglichkeit neue geschaff en werden. So wichtig konkrete und direkte Maßnahmen zum jetzigen Zeitpunkt sein mögen, so scheint es doch so, als ob vor allem die ÖGB-Spitze vor lauter Krisenmanagement grundlegende Fragen vergessen würde. Tatsächlich macht es den Eindruck, als wolle sich die ÖGB-Spitze als Krisenfeuerwehr etablieren um gemeinsam mit den Unternehmen in sozialpartnerschaftlicher Tradition gegen die Krise anzukämpfen. Off ensichtlich wird dies von Kapitalseite im Moment auch gebraucht, denn ohne die Zustimmung des ÖGB würde eine geordnete Abwicklung von Kurzarbeit und Konjunkturpaketen wohl nicht von Statten gehen. Zwei Momente sind hier zentral. Erstens wird Kurzarbeit als Übergangslösung in der Krise anerkannt, was natürlich die Hoff nung impliziert, dass die Krise nicht allzu lange andauern werde. Zweitens wird der ÖGB in ein sozialpartnerschaftliches Krisenmanagement eingebunden, was Hoff nungen schürt, dass die Kapitalseite und neoliberale PolitikerInnen eine Kehrtwende vollziehen. Diese Hoff nung auf eine Revitalisierung von institutioneller Macht scheint allerdings mit Blick auf die Berufsgruppen und Branchen fragwürdig.
(2) Angriff auf Kollektivverträge (KV) und Beamtengruppen: In den letzten Monaten mehren sich Angriff e auf die KV der ChemiearbeiterInnen, der DruckerInnen, der ITBeschäftigten sowie auf die Arbeitsbedingungen von LehrerInnen. ArbeitgeberInnen argumentierten sowohl im Bereich der chemischen Industrie als auch im Bereich des Druckereigewerbes, dass, neben anderen Faktoren, die Krise eine Verschlechterung der kollektivvertraglich geregelten Arbeitsbedingungen und Entgeltzahlungen notwendig machen würde. Das Angebot von Kapitalseite an die ChemiearbeiterInnen ist eine 0,54%ige Lohnerhöhung bei gleichzeitiger Reduktion der Geltungsdauer des KVs auf fünf Monate, um dann, angepasst an die wirtschaftliche Entwicklung, einen neuen KV zu verhandeln. Darüber hinaus werden von UnternehmerInnenseite wichtige Punkte des KV in Frage gestellt, wie Überstundenzuschläge an Wochenenden, Schicht- und Erschwerniszulagen usw.
Bei den Beschäftigten im Druck sieht die Sache sehr ähnlich aus. Am 22. Juni 2008 kündigte der Arbeitgeberverband mit 30. Juni 2009 alle KV von ArbeiterInnen und Angestellten inklusive aller Sonderbestimmungen.28 Begründet wurde diese Aufkündigung mit zu hohen KV-Löhnen, insbesondere angesichts des hohen Importdrucks der deutschen Konkurrenz, zu wenig Flexibilität der Arbeitszeit und natürlich der angespannten Lage im Zuge der Weltwirtschaftskrise. Ohne auf die Details der Konfl ikte eingehen zu können, kann festgehalten werden, dass diese Angriffe von Seiten des Kapitals auf einen de facto Bruch mit einer sozialpartnerschaftlichen Kollektivvertragspraxis hinauslaufen. Die Krise wird zum Katalysator des Erosionsprozesses sozialpartnerschaftlicher Kultur und erfasst bisher relativ stabile Bereiche und eines der Kerngeschäfte der österreichischen Gewerkschaften, nämlich den KV. Es ist angesichts der Forderungen der Industriellenvereinigung, künftig verstärkt „Kollektivverträge“ auf betrieblicher Ebene aushandeln zu wollen, zu befürchten, dass sich hier ein breiterer Trend ankündigt. So genannte „Not-Kollektiverträge“ wie sie die IV jetzt fordert, würden zwar zeitlich begrenzt bleiben, aber auf Betriebsebene abgeschlossen werden, was eine ernsthafte Bedrohung der flächendeckenden KVs darstellt.
Doch nicht nur in der Privatwirtschaft werden Angriffe auf Lohnabhängige unternommen. In aller Munde ist der Konfl ikt zwischen LehrerInnen und der Bildungsministerin. Auch der Staat fordert im Angesicht der Krise Opferbereitschaft. Wenn ArbeiterInnen Kurzarbeit akzeptieren und auf Lohn verzichten, müssen auch LehrerInnen ihren Beitrag leisten. Who will be next? Auch hier wird von Seiten des Chefs der Gewerkschaft Öff entlicher Dienst (GÖD) festgehalten: „Ein einseitiger Eingriff ins Arbeitsrecht widerspricht der sozialpartnerschaftlichen Kultur.“29
Der noch immer relativ hohe Organisationsgrad in gewissen Branchen erleichtert es den Gewerkschaften auf dieser Ebene der Auseinandersetzung die Organisationsmacht ins Feld zu führen. Öff entlichkeitswirksame Protestkundgebungen und Betriebsversammlungen werden organisiert. Allen gemeinsam ist allerdings ein Appell an die Vernunft und ein Aufruf, die sozialpartnerschaftlichen Traditionen nicht über Bord zu werfen. Aus Sicht der GPA-djp und der Chemiearbeitergewerkschaft, wird die Krise als Vorwand genommen, um „die in Jahrzehnten verhandelten kollektivvertraglichen Rahmenrechtspunkte ersatzlos zu streichen. Dies hat nichts mit Krisenbewältigung zu tun, sondern ist ein kalkulierter Abbauversuch jahrzehntelang erworbener Rechte der ArbeitnehmerInnen.“ Was aus Sicht der Gewerkschaften so alarmierend ist, ist also dass die letzten einigermaßen funktionierenden Bereiche sozialpartnerschaftlicher Tradition jetzt zur Disposition stehen.
(3) Betriebliche Ebene: Es zeichnet sich ab, dass die Weltwirtschaftskrise noch längst nicht ihre volle Wirkung entfaltet hat. Was wird geschehen, wenn die makropolitischen Krisenbearbeitungsversuche nicht greifen und die Krise über die Dauer der Kurzarbeit anhält? Wenn es zu einer massiven Welle an Insolvenzen und Entlassungen kommt? Wenn das Staatsbudget noch stärkeren Belastungen durch Begehrlichkeiten der Kapitalseite ausgesetzt wird? Was passiert, wenn die bisherigen Angriff e auf KV und ganze Berufsgruppen tatsächlich nur das Vorspiel sind? Es ist nicht schwierig, sich auszumalen, dass dann die betriebliche Ebene zum zentralen Auseinandersetzungsfeld wird.
Wie wir im ersten Teil des Artikels gezeigt haben, steht es um die gewerkschaftliche Machtbasis in den Betrieben sehr schlecht. Auf dieser Ebene sind auch ohne Weltwirtschaftskrise die bisherigen sozialpartnerschaftlichen Praxen erodiert. BetriebsrätInnen und GewerkschaftssekretärInnen finden sich auch ohne Weltwirtschaftskrise in defensive Positionen gedrängt. Bei massiven Kündigungswellen stellt sich auch noch die Frage, ob eine Konfl iktkanalisierung in die Rechtsform ein probates und operationalisierbares Kampfmittel ist. Dies hat zwei Gründe. Zum einen sind arbeitsrechtliche Prozesse aufwändige Verfahren, die auch innerhalb des Gewerkschaftsapparates einen enormen administrativen Aufwand erfordern. Schon in Zeiten ohne Wirtschaftskrise geht laut interviewten GewerkschaftssekretärInnen ein Gutteil der Arbeitszeit in der Bearbeitung von Rechtsfragen auf. Wie viel Mehrbelastung würde es dann bedeuten, wenn zeitgleich eine Flut von Kündigungen und anderer Probleme ansteht? Zweitens entwickelt der Rechtsweg eine spezifische zeitliche Struktur. Das Recht kann zumeist nur ex post angewandt werden, also erst wenn der Schaden schon eingetreten ist. Insbesondere für Gekündigte, für die die Aussichten auf einen neuen Job sehr schlecht sind, wird der Rechtsweg auf Dauer und in Masse gesehen wenig attraktiv erscheinen. Das kann den Ruf nach neuen Praxisformen in Betrieben beschleunigen. Wenn also die Krise in Form von Entlassungen und Insolvenzen durchschlägt, könnte der endgültige Kollaps der tradierten gewerkschaftlichen Praxisformen bevorstehen.
„Dialektik“ der Erneuerung
Eine „organische“ Krise besteht laut Antonio Gramsci darin, dass „das Alte stirbt [während] das Neue … noch nicht zur Welt kommen kann“30. Dieser Satz beschreibt den Zustand der österreichischen Gewerkschaften heute vortreffl ich. Wie wir gezeigt haben, treff en zwei Krisenmomente aufeinander, die sich gegenseitig beeinfl ussen. Zum einen erodieren tradierte kulturelle Praxen der Gewerkschaften, sowohl auf Ebene der makropolitischen Regulation, als auch auf Ebene der betrieblichen Arbeit von GewerkschaftssekretärInnen und BetriebsrätInnen. Dies geht mit einem sukzessiven Machtverlust auf gesamtgesellschaftlicher und betrieblicher Ebene einher. Bisherige Reformen und Erneuerungsversuche konnten die entwerteten sozialpartnerschaftlichen Praxen, die den Kern des Problems ausmachen, weder erneuern noch durch durchsetzungsmächtigere Praxen ersetzen. Dieser langfristige Erosionsprozess verknüpft sich heute zum anderen mit der enormen Dynamik der Weltwirtschaftskrise. Nicht nur auf globaler Ebene vollziehen sich Umbrüche. Auf nationaler, regionaler und betrieblicher Ebene werden bisher noch prekär aufrechterhaltene Gewissheiten in Frage gestellt. Doch die Krise kann auch gegenläufi ge Dynamiken lostreten. Zusehends werden die in den Alltagsverstand integrierten, sozialpartnerschaftlichen Vorstellungen und Praxen mit den tatsächlichen gesellschaftlichen Entwicklungen in Widerspruch treten. Der sich daraus ergebende Konflikt kann ein Potential darstellen, in dem Kämpfe von unten eingefordert und geführt werden können.
Dies könnte einen Impuls darstellen, der zu tiefgreifenderen Veränderungen auf gewerkschaftlicher Ebene führen kann. Verärgerte, wütende und kampfbereite Belegschaften, gemeinsam mit selbstbewussten BetriebsrätInnen, können neue Formen betrieblicher Praxen entwickeln, die offensivere Abwehrkämpfe gegen die Krisenfolgen ermöglichen. Diese Momente sollten von Gewerkschaften nicht als Bedrohung, sondern als Chance ihrer eigenen Erneuerung betrachtet werden. Diese Impulse müssten zu einer essentiellen Veränderung der Gewerkschaft selbst führen. Demokratisierung, Partizipation und Öff nung des Gewerkschaftsapparates wären die notwendigen Voraussetzungen dafür, dass die Krise als Moment der Erneuerung erkannt und genützt wird.
1 Vgl. Böhm, Th omas/ Busch, Günter/ Heim, Stefan/ Riexinger, Bernd/Sauerborn, Werner: Gewerkschaften in der Weltwirtschaftskrise. Weiter so – oder Krise als Chance. Erschienen auf www.LabourNet.de (November 2008); Krämer, Ralf: Gewerkschaften und die Krise des Neoliberalismus. Abrufbar auf www.LabourNet.de (5.11.2008); Sauerborn, Werner: Mobilisierungsaversion. Zur Diskussion um Nationalkeynsianismus und gewerkschaftliche Gegenstrategien in der Weltwirtschaftskrise; in: express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftspolitik 1/09. Abrufbar auf www.labournet.de/diskussion/wipo/fi nanz/sauerborn.html; Wendl, Michael: Keynsianismus als Feindbild. Eine Antwort auf die ver.di – Kritik von Thomas Böhm und Kollegen; in: Sozialismus 2/2009.
2 Zum Teil fließen in den Artikel Ergebnisse eines Forschungsprojektes ein, das von Mario Becksteiner, Elisabeth Steinklammer und Florian Reiter im Auftrag der GPA-djp Bildungsabteilung von Herbst 2008 bis Herbst 2009 durchgeführt wird. Der Titel des Forschungsprojektes lautet: „Betriebsratsrealitäten im Postfordismus. Betriebsräte zwischen Selbst- und Fremdansprüchen“. Etwaige Zitate von GewerkschafterInnen sind aus diesem Forschungsprojekt entnommen und wurden anonymisiert. Voraussichtliche Endergebnisse des Forschungsprojektes werden im Herbst 2009 vorliegen.
3 Wright, Erik O.: Working-Class Power, Capitalist-Class Interests, and Class Compromise; in: American Journal of Sociology 4/2000.
4 Silver, Beverly J.: Forces of Labor. Arbeiterbewegung und Globalisierung seit 1870. Berlin 2005, S. 31
5 Ebd.
6 Brinkmann, Ulrich et al.: Strategic Unionism: Aus der Krise zur Erneuerung? Umrisse eines Forschungsprogramms. Wiesbaden 2008, S. 25
7 Über die Momente der industriellen Beziehungen hinaus müssen für eine Analyse des Fordismus noch eine ganze Reihe anderer Momente integriert werden. Geschlechterverhältnisse, Migrationsregime, Alltagskultur aber auch Erziehungsformen und Familienstrukturen spielen eine wichtige Rolle, können aber im Zuge dieses Artikels nicht näher behandelt werden.
8 Tayloristische Arbeitsorganisation bezeichnet die so genannte „wissenschaftliche Betriebsführung“, die auf stark arbeitsteilige Produktionsprozesse und die Technisierung der Produktion, etwa durch das Fließband, abzielt.
9 Vgl dazu: Karin Hädicke in Perspektiven Nr. 1, und Wittau, Mathias/Seifert, Matthias: Österreich 1950; in: Die großen Streiks. Episoden aus dem Klassenkampf. Münster 2008
10 BAK: Bundes Arbeiter Kammer (AK); ÖGB: Österreichischer Gewerkschaftsbund; PRÄKO: Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammer Österreich; VOI: Verband Österreichischer Industrieller
11 Tálos, Emmerich: Sozialpartnerschaft. Austrokorporatismus am Ende?; in: Dachs, Herbert et al. (Hrsg.): Politik in Österreich. Das Handbuch.
2006, S. 425-442
12 Obinger, Herbert/ Tálos, Emmerich: Sozialstaat Österreich zwischen Kontinuität und Umbau. Eine Bilanz der ÖVP/FPÖ/BZÖ-Koalition. Wiesbaden 2006, S. 204
13 ÖGB-Präsident von 1963 bis 1987
14 Präsident der Wirtschaftskammer Österreich (WKO) von 1964 bis 1990
15 Interview, November 2008
16 Das Arbeitsverfassungsgesetz (ArbVG) sind jene gesetzlichen Bestimmungen, welche die kollektive Rechtsgestaltung und Vertretung der ArbeitnehmerInnen
regelt. Es umfasst Bestimmungen zu Kollektivverträgen, Satzungen, Mindestlohntarifen, festgesetzte Lehrlingsentschädigungen aber eben auch die Frage des Organisationsrechtes und der Betriebsvereinbarungen.
17 Winter, Jens: Regulation und Hegemonie in nachfordistischen Zeiten; in: Brand, Ulrich/ Raza, Werner (Hrsg.): Fit für den Postfordismus? Theoretisch-
politische Perspektiven des Regulationsansatzes. Münster 2003, S. 199
18 Sennet, Richard: Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin 2007, S. 33
19 Aglietta, Michel: Ein neues Akkumulationsregime. Die Regulationstheorie auf dem Prüfstand. Münster 2000, S. 33
20 Vgl. dazu: Dörre, Klaus/ Röttger, Bernd (Hg.): Die erschöpfte Region. Münster 2005.
21 Unseres Wissens gibt es dazu in Österreich keine kritische Forschung. Deshalb sind die Ausführungen als kursorisch und vereinfacht zu verstehen.
22 Obinger/Tálos, a.a.O., S. 205
23 Ebd., S. 208
24 Brinkmann et al., a.a.O., S. 51
25 Arbeitsmarktservice Österreich: März-Arbeitslosigkeit stieg um 28,8 Prozent; AMS-Off ensive für Jugendliche: Ausbildungsgarantie für Lehrlinge und Aktion „Zukunft Jugend“. 01.04.2009. http://ams.at/14169_21062.html
26 Müller, Stefan: Kurzarbeit rettet viele Arbeitsplätze. Immer mehr Unternehmen müssen Kurzarbeit in Anspruch nehmen. Der ÖGB hat sich für flexiblere Regelungen stark gemacht; in: Solidarität 914, Feb./März 2009, S. 2f.
27 www.nachrichten.at/nachrichten/wirtschaft/art15,152344 am 17.4.09
28 GPA-djp, NewsGrafisch. Informationen zu den KV-Verhandlungen Grafisches Gewerbe, Nr. 1, Jänner 2009
29 Interview in HEUTE Nummer 948, Freitag 17. April 2009
30 Gramsci, Antonio: Gefängnishefte, Bd.2, Hamburg 1991, S. 354