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Organize!
von Mario Becksteiner

Rezension: Brinkmann, Ulrich/ Choi, Hae-Lin/Detje, Richard/ Dörre, Klaus/ Holst, Hajo/ Karakayali, Serhat/ Schmalstieg, Catharina: Strategic Unionism: Aus der Krise zur Erneuerung? Umrisse eines Forschungsprogramms. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008. 19,90 €

Die AutorInnen des Buches Strategic Unionism: Aus der Krise zur Erneuerung greifen die international immer intensiver geführte Debatte rund um gewerkschaftliches Organizing auf und stellen dabei zwei Fragen ins Zentrum: (1) Können die Konzepte des Organizing, die insbesondere im angloamerikanischen Raum entstanden sind, auf kontinentaleuropäische und insbesondere bundesdeutsche Verhältnisse angewendet werden? (2) Was kann eine, sich als kritisch verstehende Gewerkschaftsforschung dazu beitragen, dass sich Gewerkschaften aus der Ohnmachtsfalle befreien, in die sie gegenwärtig offensichtlich gekommen sind? Zum Einstieg geben die AutorInnen einen Einblick in ihre eigenen theoretischen Grundlagen. Dabei grenzen sie sich von institutionalistischen Forschungsansätzen ab, da diese gesellschaftliche Kräfte- und Machtverhältnisse aus der Analyse gewerkschaftlicher Praxis zum großen Teil ausblenden. Dieser Ausschluss wird besonders schlagend in der Betrachtung von Organizing-Konzepten, da es hier vor allem um die die Wiedergewinnung und Ausweitung von Organisationsmacht geht.
Grundsätzlich gehen die AutorInnen von einem Machtressourcen-Ansatz aus, der eine Asymmetrie zwischen Kapital und Lohnarbeit voraussetzt. Dieser Asymmetrie zugunsten des Kapitals kann von ArbeiterInnen nur durch eine kollektive Mobilisierung entgegengetreten werden. Auf dieser Grundlage entstehen bis heute immer neue ArbeiterInnenbewegungen. Diese werden von den AutorInnen in zwei unterschiedliche Typologien unterteilt. Sie können eher „marxschen Typs“ sein und die Überwindung des kapitalistischen Systems zum Ziel haben oder eher „polanyischen Typs“, der defensiv auf den Schutz der ArbeitnehmerInnen innerhalb des kapitalistischen Systems und auf die Abmilderung der Folgen kapitalistischer Ausbeutungslogik abzielt. Entgegen homogenisierender Vorstellungen sehen die AutorInnen eine Vielzahl von ArbeiterInnenbewegungen, die keinen einheitlichen Charakter aufweisen, oft durch klassenunspezifische Grenzziehungen bestimmt sind und daher in ihren geographisch-historischen Spezifikationen erfasst werden müssen.
Diese ArbeiterInnenbewegungen stützen sich allerdings auf gemeinsame Machtressourcen. So gibt es für die AutorInnen drei Formen von ArbeiterInnenmacht. Ähnlich wie Erik O. Wright und Beverly J. Silver unterscheiden sie zunächst zwischen struktureller und Organisationsmacht. Strukturelle Macht ergibt sich aus der Positionierung der Lohnabhängigen im ökonomischen Prozess. So können veränderte Strukturen des Arbeitsprozesses, wie zum Beispiel der derzeitige Boom von individualisierten Arbeitsprozessen in der Dienstleistungsbranche, zu veränderten Einflussmöglichkeiten führen. Die Organisationsmacht ist dem gegenüber abhängig vom Grad der kollektiven Organisierung der Lohnabhängigen in Form von Gewerkschaften, Parteien oder Ähnlichem. Außerdem stellen die AutorInnen noch eine dritte Form von Machtressource für Lohnabhängige heraus: die institutionelle Macht. Diese basiert auf den beiden zuvor dargestellten. Über auf Dauer gestellte Normen und Gesetze sowie institutionelle Arrangements kann eine eigene Robustheit entwickelt werden, die über kurzfristige konjunkturelle Veränderungen hinaus Wirkmächtigkeit entfaltet. Alle drei Machtressourcen sind miteinander verbunden und existieren nie in Reinformen, sondern nur in unterschiedlichen Kombinationen.
Für Gewerkschaften der westlichen Welt entwickelte sich in der Blütezeit des Fordismus, insbesonders in Teilen Europas, die institutionelle Macht zum wichtigsten Referenzpunkt gewerkschaftlichen Handelns. Diese Form der Macht prägte den Arbeitskonflikten nicht nur einen in hohem Maße verrechtlichten Charakter auf, sondern bestimmte über weite Strecken das Selbstverständnis der Gewerkschaften als wichtige und nicht selten staatstragende Verhandlungspartner.
Mit der Krise der fordistischen Gesellschaftsformation hat auch diese Machtressource der Gewerkschaftsbewegung an Bedeutung verloren. Die institutionalisierte Machtbalance zwischen Kapital, Lohnabhängigen und Staat verschiebt sich zuungunsten der Arbeit, womit auch die Handlungsräume für korporatistische Interessenspolitik enger werden und sich Konflikte verstärkt auf betriebliche Ebene verlagern müssen. Da sich Gewerkschaften traditionell auf die institutionalisierte Machtressource konzentrierten, wurde über Jahrzehnte Organisationsarbeit im Sinne gewerkschaftlicher Organisierung in den Betrieben, und damit die eigentliche Machtbasis von Gewerkschaften vernachlässigt. Diese macht den Gewerkschaften heute zusehends zu schaffen. Der postfordistische Transformationsprozess spielte nicht nur der Kapitalseite zusätzliche Machtpotentiale in die Hände, ebenso trieb die Stellvertreterpolitik die Gewerkschaften in eine Repräsentations- und Praxiskrise. Zwar stellen die AutorInnen fest, dass nicht von einem Ende der Gewerkschaften die Rede sein kann, doch lassen sich sehr wohl einschneidende Veränderungen in den Arbeitsbeziehungen festmachen, auf die insbesondere Gewerkschaften in Deutschland und Österreich keine adäquaten Antworten finden.
Vor dem Hintergrund dieser Analysen stellen die VerfasserInnen die Frage, ob Organizing einen Weg aus dieser Defensive weisen kann und welche Rolle kritische Gewerkschaftsforschung dabei spielen kann, neue Handlungsspielräume zu eröffnen. Anhand eingehender Literaturstudien arbeiten die VerfasserInnen zwei Begriffe von Organizing heraus, die unterschiedliche praktische Implikationen haben. Ein weiter Organizing-Begriff hebt auf nachhaltige und tiefgreifende Veränderungen im Verhältnis zwischen Gewerkschaftsbürokratie und Mitgliedern ab. Es geht um eine Veränderung gewerkschaftlicher Praxis hin zu demokratischeren Strukturen innerhalb der Organisation und einem konfliktorientierten Campaigning in der Außenwendung. Ein enger Organizing-Begriff ist eher funktionalistisch und instrumentell ausgerichtet. Organizing wird hier als Ergänzung zu bestehenden gewerkschaftlichen Strukturen verstanden. Beide Praxen, so haben empirische Untersuchungen gezeigt, können erfolgreich sein, doch muss für die jeweils spezifische Situation eine Verbindung von unterschiedlichen Strategien, Taktiken und Methoden angewandt werden. Dies gilt insbesondere für Versuche, das Organizing-Konzept auf den deutschsprachigen Raum anzuwenden.
Die AutorInnen betonen, dass es Aufgabe einer kritischen Wissenschaft im Feld der Gewerkschaftsforschung sein muss, derartige Prozesse der Generierung von neuen Praxen wissenschaftlich analytisch und beratend zu begleiten. Mit Strategic Unionism: Aus der Krise zur Erneuerung geben die VerfasserInnen einen kompakten Einblick in kritische und eingreifende Gewerkschaftsforschung sowie einen Ausblick auf zukünftige Forschungsaufgaben. Das Buch kann damit als Anfangspunkt für eine wichtige Debatte zur Neuausrichtung der Gewerkschaften dienen.





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