Als der demokratische US-Präsidentschaftskandidat Barack Obama im Juli im Rahmen einer kleinen Europa-Tournee Berlin besuchte, bot sich ein bizarres Bild. Versorgt von Wurst-, Bier- und DevotionalienverkäuferInnen jubelten mehr als 200.000 Menschen, als würde eine Mischung aus Rockstar, Jesus und Martin Luther King zu ihnen sprechen – und nicht der vielleicht schon bald mächtigste Mann der Welt. Die Sehnsucht nach einem Richtungswechsel an der Spitze der letzten verbliebenen Supermacht ist groß, und das nicht nur im „Alten Europa“, sondern auch in den Vereinigten Staaten selbst. Was Wunder angesichts der zu Ende gehenden Ära Bush II, die, geprägt von einem nicht zu gewinnenden Krieg, der Verarmung breiter Teile der US-Gesellschaft und dem rapiden Niedergang der globalen kulturellen Strahlkraft des ehemaligen Land of the Free, „Change“ zum Gebot der Stunde macht. Es muss sich etwas ändern – das ist die Botschaft des Wahlkampfs in den USA, und der nachhaltige Hegemonieverlust des neokonservativen Projekts zwingt sogar den erz-neoliberalen Abtreibungsgegner John McCain, sich bei jeder Gelegenheit von der Bush- Adminstration zu distanzieren. Das Imperium ist heute so brüchig wie selten zuvor, eine Tatsache, die von den nicht enden wollenden Kriegen in Afghanistan und Irak ebenso tragisch illustriert wird wie von der aktuellen Finanzkrise, die ganze Nationalökonomien in den Abgrund zu ziehen droht und deren längerfristige Konsequenzen noch immer nicht absehbar sind. Zugleich aber – und das Phänomen Obama zeigt das ebenso deutlich – ist das Ende des globale Sonderstatus der USA noch lange nicht besiegelt. Dass allein die Vorwahlen der Republikanischen und Demokratischen Partei überall auf der Welt Millionen zu unmöglichen Tagesund Nachtzeiten vor die Fernsehgeräte bannten und die Internet-Blogosphäre die Kampagnen der Kandidaten in hitzige Debatten und Plädoyers übersetzt, verweist darauf, dass die Auswirkungen der Entscheidung von etwa 220 Millionen Wahlberechtigten wahrlich globale Dimensionen hat.
Der Schwerpunkt dieser Ausgabe von Perspektiven versucht, den Blick für die Brüche, Widersprüchlichkeiten und vor allem die Kämpfe zu schärfen, die die USA – und damit auch ihre Rolle in der Welt – prägen. Den Beginn macht Gary Younge, Journalist und New York-Korrespondent des britischen Guardian, der das Phänomen Obama im Zusammenhang mit der weiterhin rassistischen politischen Kultur in den USA untersucht. Seine Conclusio verwehrt sich gegen ein zynisches Abtun der ersten relevanten Schwarzen Präsidentschaftskandidatur in der Geschichte der USA, auch wenn Obamas Politik keinen echten Change bringen wird. Tobias ten Brink analysiert die Rolle der USA aus geopolitischer Perspektive und zeigt, dass das Imperium nicht nur im Inneren fragil ist, sondern auch in der anhaltenden Konkurrenz mit anderen globalen imperialistischen Akteuren schwer zu bewältigenden Herausforderungen gegenüber steht – mit oder ohne Obama. Seine Aktualisierung imperialismustheoretischerer Argumente eröff net darüber hinaus weiterführende, theoretische Diskussionen; an dieser Stelle verweisen wir gerne auf ten Brinks soeben beim Verlag Westfälisches Dampfboot erschienenes Buch „Geopolitik. Geschichte und Gegenwart kapitalistischer Staatenkonkurrenz“, das wir Interessierten wärmstens empfehlen. Oft gestellte Fragen zur aktuellen, schweren Banken- und Finanzkrise beantwortet einer der profi liertesten Intellektuellen der globalisierungskritischen Bewegung, Walden Bello – ein Crashkurs zum Kurscrash, damit auch Kulturlinke und Polit-AktivistInnen erklären können, was es mit Credit Default Swaps auf sich hat. Einen kämpferischen Blick „von unten“ auf die USA liefern zwei weitere Artikel im Schwerpunkt: Philipp Probst ruft die Kämpfe der Industrial Workers of the World vom Beginn des 20. Jahrhunderts in Erinnerung und zeigt, dass deren Anspruch, junge, migrantische und überwiegend weibliche ArbeiterInnen mit klassenkämpferischer Perspektive zu organisieren, nicht nut von historischem Interesse ist. Maria Asenbaum setzt mit ihrem Artikel zu Gewerkschaften und Community Organizing in den USA da an, wo sie gemeinsam mit Karin Hädicke in Perspektiven Nr. 3 („Gewerkschaft bewegen“) aufgehört hatte. Im Mittelpunkt stehen hier die Worker Centers, die migrantische NiedriglohnarbeiterInnen organisieren. Schließlich widmen sich Katherina Kinzel und Katharina Hajek den Forderungen und Positionen der „Black Feminists“, die seit den 1960ern die Zusammenhänge und Überschneidungen von klassen- und geschlechtsspezifi scher sowie rassistischer Ausbeutung und Unterdrückung nicht nur analysieren, sondern auch nach Möglichkeiten ihrer Überwindung fragen. Dieser Anspruch, so ihre Th ese, kann auch für gegenwärtige akademische Debatten um „Intersektionalität“ fruchtbar gemacht werden.
Außerhalb des Schwerpunkts stellen wir unsere kurze Analyse der frustrierenden Ergebnisse der österreichischen Nationalratswahl zur Diskussion. Und im dritten Teil unserer Serie „Zum politischen Erbe der Oktoberrevolution“ zeichnen Veronika Duma und Stefan Probst den Prozess der Degeneration und Bürokratisierung des jungen Sowjet-Staates zwischen 1917 und 1928 mit besonderem Augenmerk auf die Transformation der Verhältnisse in den Betrieben nach.
Im Rezensionsteil stellt Daniel Fuchs die Arbeit der Sozialwissenschaftlerin Pun Ngai aus Hong Kong vor, die sich mit der Situation und den Widerstandspotentialen der südchinesischen Wanderarbeiterinnen befasst (vgl. auch den Artikel von Pun Ngai in Perspektiven Nr. 3). Dazu gibt es Besprechungen zu Konfl ikten um Migrationspolitik und Protestformen illegalisierter MigrantInnen an den Grenzen Europas, Gewerkschaftpolitik und die Umsetzung von USamerikanischen Organizing-Strategien in Europa, Theorien der 1968er und Kritische Psychologie.
Viel Spaß und kontroverse Diskussionen wünscht
Eure Redaktion