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Ernste Allgemeine Verunsicherung auf Europatournee
von Mario Becksteiner, Florian Reiter

Prekäre Beschäftigungsverhältnisse müssen stets aufs Neue politisch durchgesetzt werden. Wie die EU-Kommission als Motor der Zwangsflexibilisierung und sozialen Verunsicherung wirkt, zeigen Mario Becksteiner und Florian Reiter.

Laut nationalen Statistiken waren im Jahr 2004 16 Prozent der Bevölkerung in der Europäischen Union von Armut bedroht. In Zahlen heißt das: 72 Millionen Menschen mussten von weniger als 60 Prozent des jeweiligen nationalen mittleren Äquivalenzeinkommens leben. Auch die Integration in den Arbeitsmarkt ist heute keine Garantie mehr, nicht von Armut bedroht zu sein: in der EU leben heute fast doppelt so viele arme Menschen, die einen Job haben (ca. 14 Millionen), als Arbeitslose, die laut Statistik arm sind (ca. 7 Millionen).
Dieser Trend kehrte sich in den Jahren 2005 und 2006, trotz verbesserter Wirtschaftslage, nicht um.1 Sind diese Daten der Europäischen Memorandum Gruppe für sich schon alarmierend, so stellen sie sich noch drastischer dar, wenn man die Ursachen dieser Entwicklung betrachtet. Nicht etwa große wirtschaftliche Einbrüche sind deren Auslöser, sondern die permanente Umformung der Arbeitsverhältnisse in der Europäischen Union. Die so genannten „Reformen“ der Arbeitsmärkte und Strukturanpassungsprogramme, in den neuen Mitgliedsstaaten wie in den alten, haben zu einem massiven Trend in Richtung Ausweitung von Niedriglohnsegmenten, unfreiwilliger Teilzeitarbeit, geringfügiger Beschäftigung und damit prekären Beschäftigungsverhältnissen geführt.
Die Deregulierung der Arbeitsmärkte, umfassende Privatisierung vormals öffentlicher Sektoren und die permanente Zurücknahme von Sozialleistungen bei gleichzeitiger Verschärfung von Zumutbarkeitsbestimmungen drängen nicht nur Leute in Armut, die keinen Job haben, sondern produzieren auch immer mehr so genannte „Working Poor“. Dieser umfassende Trend wird seit einigen Jahren mit dem Begriff der Prekarisierung umschrieben. In unserem Artikel wollen wir uns damit beschäftigen, welche Rolle die Europäische Union in diesem Prozess der Prekarisierung von Lebensumständen großer Teile der europäischen Bevölkerung spielt.

Zonen der Prekarisierung

Zunächst einige Erläuterungen zum Begriff Prekarisierung. Wir verstehen darunter eine allgemeine Verunsicherung, die sich zwar zentral auf Arbeitsverhältnisse bezieht, darüber hinaus aber auch noch andere Dimensionen umfasst. Die Ausgestaltung von Arbeitsverhältnissen ist in einer kapitalistischen Gesellschaft zwar zentraler Bezugspunkt gesellschaftlicher Integration, doch ist sie nicht der einzige. In einem integralen Verständnis müssen ebenso Dimensionen wie Wohnsituation, soziale Netzwerke, Teilhabe am öffentlichen Leben und Zugang zu Wissen oder gesellschaftlichen „skills„ beachtet werden. Wenn der Zugang zu einer dieser Dimensionen verwehrt bleibt, besteht die Gefahr, in einem sich selbst verstärkenden Prozess der Ausgrenzung und Verunsicherung zu geraten. Generell kann festgestellt werden, dass sich das Phänomen Prekarisierung heute über breite Gesellschaftsschichten erstreckt, sich allerdings unterschiedlich auswirkt. Anschließend an Klaus Dörre können drei „Zonen“ der Prekarisierung ausgemacht werden.2
1. „Zone der Integration“: Die größte Anzahl der Beschäftigten in der EU lebt heute noch immer in festen Anstellungsverhältnissen. Diese Bereiche zeichnen sich durch eine relative Arbeitsplatzsicherheit aus, obwohl stets ein Gefährdungspotential auch für diese Beschäftigten besteht – etwa durch Outsourcing oder den vermehrten Einsatz von Leiharbeit in großen Industriebetrieben. In Zahlen gegossen bedeutet das: im Jahr 2005 hatten 14,2 Prozent der ArbeitnehmerInnen in der EU befristete Arbeitsverträge, 18 Prozent waren teilzeitbeschäftigt und 15,9 Prozent waren Selbstständige, die ebenfalls massiv von Prekarisierung betroffen sind. Dieses Drohpotential ist ständig präsent. Besonders betroffen sind dabei ArbeitnehmerInnen über 45 Jahre, die bei einem Jobverlust nur in den seltensten Fällen eine gleichwertige Anstellung finden. Diese permanente Gefährdung führt zu einer Disziplinierung der ArbeitnehmerInnen und deren Vertretungen etwa im Bereich der Lohnabschlüsse.
2. „Zone der Prekarität“: Unsichere Beschäftigungsverhältnisse und nur schwach ausgebildete soziale Absicherung sind die Kennzeichen dieser Lebensumstände. Der Horizont der Lebensplanung verengt sich oft auf Wochen oder Tage, da ständig Arbeitslosigkeit oder Einkommensverlust droht. Genaue Zahlen über das Ausmaß dieser Zone gibt es kaum, da sich Prekarisierungstendenzen genauso in formal gesicherten Arbeitsverhältnissen durchsetzen können und Beschäftigungsstatistiken viele Menschen nicht erfassen, die zum Beispiel noch nie in einem Arbeitsverhältnis waren, von Schwarzarbeit leben oder sich in prekären Ausbildungsverhältnissen befinden. Schätzungen zu Folge ist bereits jede/r dritte ArbeitnehmerIn Teil dieser „Zone der Prekarität“.
3. „Zone der Entkopplung“: Das untere Ende stellt die Zone der vollkommen Entkoppelten dar. Sie fallen aus jeglicher Art der Lohnarbeit heraus und sind aus regierungspolitischer Sicht nur noch mit der Kategorie der Armutsbekämpfung zu fassen. Dabei nimmt diese Zone der Entkoppelten, im Sinne einer neoliberalen Gesellschaftsentwicklung, eine wichtige Funktion in der Disziplinierung der anderen beiden Zonen ein. Sie dient als negative Referenzfolie, die als Drohpotential aufrechterhalten wird und deren Inszenierung sich dabei nicht nur auf die Arbeitsverhältnisse bezieht, sondern, in einem umfassenden Sinn, kulturell und gesellschaftlich wirkt und ein „Anderes“ inmitten unserer Gesellschaft konstruiert. Der damit aufgebaute Konformitätsdruck hilft auch, die kritische Hinterfragung gesellschaftlicher Umstände zu verhindern und statt dessen die Unsicherheit und Unzufriedenheit auf stigmatisierte Bevölkerungsgruppen umzulenken. Nicht überraschend ist, dass sich in der „Zone der Entkopplung“ viele Menschen mit migrantischem Hintergrund befinden.

Sozialpolitik im Dienste des Standortwettbewerbs

Diese beängstigenden Veränderungen sind Ergebnis einer Politik, die sich nicht zuletzt durch die Deregulierungsstrategie der EU und im Besonderen der EU-Kommission in ganz Europa durchgesetzt hat. Sozialpolitik im engeren Sinn spielte auf Ebene der Europäischen Union bis in die neunziger Jahre nur eine untergeordnete Rolle. Wenn, war sie Nebenprodukt der ökonomischen Integration, sozial- wie auch beschäftigungspolitische Kompetenzen waren in den Mitgliedsländern angesiedelt. Erstmals setzte der sozialdemokratische Kommissionspräsident Jacques Delors im Jahr 1993 das Thema Soziales auf die Agenda der EU. Die Besonderheit war, dass die EU auf diesem Gebiet eigentlich in keiner Weise gesetzgeberische Kompetenz besaß. Warum es für die Kommission trotzdem notwendig war, diese Fragen zu behandeln, hatte mehrere Gründe. Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit im EU-Raum mehrte die Stimmen, die grundsätzlich den eingeschlagenen Weg der wirtschaftlichen Union in Frage stellten. Die Schieflage in Richtung neoliberaler Vorstellungen generierte zunehmend Unmut, nicht nur auf Seiten der nationalen Regierungen, sondern auch auf Seiten der Gewerkschaften. Um den Prozess der Integration nicht zu gefährden, wurde nach Wegen gesucht, wieder breitere Zustimmung für das Projekt Integration zu bekommen. Unter dem sozialdemokratischen Kommissionspräsidenten wurde deshalb ein Weißbuch „Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung“ ausgearbeitet. Die darin versammelten Vorschläge trugen bereits den Stempel einer Programmatik, die Sozialpolitik in die Dienste der Wettbewerbsfähigkeit stellte. Karl Aiginger vom Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo vermutet, dass die zentralen Ideen aller sozialpolitischen Maßnahmen, die auf EU-Ebene vorgeschlagen werden, von einer Doktrin getragen werden, die sich innerhalb der OECD unter der Bezeichnung Pariser Konsens entwickelt hat. „Der Pariser Consensus enthält vier Elemente: Handelsliberalisierung, Strukturreformen [übersetzt: Flexibilisierung und Privatisierung, M.B.], Fiskalische Disziplin und Inflationsbekämpfung (als zentrale Priorität der Geldpolitik).“3 Dieses strikte Korsett, das sich am deutlichsten in den rigiden Auflagen der Stabilitätskriterien auswirkt, erlegt bis heute der Sozialpolitik auf europäischer Ebene Restriktionen auf. Innerhalb dieses Rahmens versucht die EU nun, die Sozialpolitiken der Mitgliedsländer auf Wettbewerbsfähigkeit zu trimmen.

Lissabon und die Methode der Offenen Koordinierung

Um im Sinne dieser Vorgaben einen koordinierten Umbau der Sozialsysteme in den Mitgliedsländern zu erreichen, musste die Union erst ein geeignetes Verfahren entwickeln, mit dem sie, trotz gegen null gehender gesetzgeberischer Kompetenz, Einfluss ausüben konnte. Im Zuge der Entwicklung einer „Europäischen Beschäftigungsstrategie“ wurde daher das politische Werkzeug der „Methode der offenen Koordinierung“ (MOK) entwickelt. Diese kann als ein Set von politischen Praktiken charakterisiert werden, in dem die Kommission die Rolle einer Erzieherin im Sinne der Wettbewerbslogik übernimmt. Dabei werden unter Berücksichtigung verschiedener Parameter nationale Beschäftigungs- und Sozialpolitiken beurteilt. Gute Praktiken werden von der Kommission gelobt, schlechte nationale Politiken getadelt. Dieses „naming and shaming“ führt zu einem Wettbewerb zwischen den Staaten, die besten Programme für Flexibilisierung und Deregulierung zu entwickeln. Auf Basis der verglichenen nationalen Programme gibt es dann von der Kommission Empfehlungen an die Mitgliedsländer, Politiken zu übernehmen oder nicht wettbewerbskonforme Strukturen zu beseitigen. Die MOK führt so zu einer Regimekonkurrenz, in der sich die Mitgliedsstaaten in ihrer Deregulierungswut gegenseitig zu überbieten suchen.

Ihr bisher breitestes Anwendungsgebiet fand die MOK in der Lissabon-Strategie. Diese wurde auf einem europäischen Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs im Jahr 2000 beschlossen. Ziel war es, mit Hilfe einer umfassenden Agenda Europa bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Dieses programmatische Ziel wirkt heute auf vielen Ebenen der nationalstaatlichen Politik der Mitgliedsländer. Allerdings muss betont werden, dass die Lissabon-Strategie tatsächlich nur ein Set von Zielsetzungen darstellt und keine ausformulierte Strategie ist, die politische Programme im Wortlaut festlegt. Durch die Kopplung an die MOK wird sie „zu einem permanenten Schönheitswettbewerb in Form von Ranglisten„4. Dabei wird im Bereich der Arbeitsmarktpolitik verstärkt der Trend zu einer angebotsseitigen Politikgestaltung durchgesetzt.5
Viele Ziele, die in der Lissabon Strategie angekündigt wurden, konnten bis heute in nur sehr beschränktem Umfang umgesetzt werden. Zentrale Zielsetzungen im Bereich des Wachstums und der Beschäftigung wurden weit verfehlt. Anlässlich des drohenden Scheiterns der Lissabon-Strategie wurde der ehemalige niederländische Ministerpräsident Wim Kok damit beauftragt, Berichte vorzulegen, um die Probleme in der Umsetzung zu lokalisieren. Die Berichte bedauerten zwar die nicht erreichten Ziele, doch wurde als Lösung eigentlich nur mehr von den alten Rezepten vorgeschlagen. Der Kok-Bericht wiederholte „in stereotyper Form die Appelle zur ‚Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit’ durch Kostensenkung„6.

Flexicurity als Best Practice

Auch in beschäftigungspolitischer Hinsicht kommt der Lissabon-Strategie große Bedeutung zu. In den integrierten Leitlinien für Beschäftigung und Wachstum werden die Mitgliedsstaaten dazu aufgefordert, Flexibilität und Beschäftigungssicherheit in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen und die Segmentierung der Arbeitsmärkte zu verringern. Unter dem Schlagwort Flexicurity kommt so eine Best-Practice-Politik zur Anwendung, die weitreichende Folgen für die Beschäftigten in Europa mit sich bringt und die Prekarisierung der europäischen Lohnabhängigen weiter vorantreibt. In Anlehnung an den Sozialwissenschafter Ton Wilthagen7 gibt die Kommmission folgende Definition von Flexicurity: „Flexicurity lässt sich definieren als integrierte Strategie zur gleichzeitigen Stärkung von Flexibilität und Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt“.8 Zur Konzipierung und Umsetzung von Flexicurity-Maßnahmen schlägt die Kommission vier Komponenten vor, bei deren Ausarbeitung die European Expert Group on Flexicurity9 eine wichtige Rolle spielte:
„1. Flexible und zuverlässige vertragliche Vereinbarungen durch moderne Arbeitsgesetze, Kollektivvereinbarungen und Formen der Arbeitsorganisation
2. Umfassende Strategien des lebenslangen Lernens, durch die sich die ständige Anpassungsfähigkeit und Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitnehmer gewährleisten lassen, insbesondere der am meisten gefährdeten
3. Wirksame aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, die Menschen tatsächlich dazu verhelfen, den raschen Wandel zu bewältigen, die Zeiten der Arbeitslosigkeit verkürzen und Übergänge zu neuen Arbeitsverhältnissen erleichtern
4. Moderne Systeme der sozialen Sicherheit, die eine angemessene Einkommenssicherung bieten, die Beschäftigung fördern und die Arbeitsmarktmobilität erleichtern. Dazu gehört eine umfassende Abdeckung durch Sozialschutzleistungen (Leistungen bei Arbeitslosigkeit, Renten und Gesundheitsfürsorge), die den Menschen dazu verhelfen, einen Beruf mit privaten und familiären Aufgaben zu verbinden, wie zum Beispiel der Kinderbetreuung.“10

Von Seiten der Kommission wird die angeblich entstehende win-win Situation zwischen ArbeiterInnen und UnternehmerInnen betont, die durch Flexicurity-Maßnahmen entstehen sollte. Es wird argumentiert, dass auch ArbeiterInnen, ein Flexibilitätsbedürfnis haben, nämlich um berufliche und private Verantwortlichkeiten vereinbaren zu können. Die Erfüllung dieser Verantwortungen soll nun also nicht durch soziale Sicherung gewährleistet werden, sondern durch Flexibilität. Flexibilität, die ein reales Bedürfnis der Lohnabhängigen darstellt, wird hier in den Dienst der Wettbewerbsfähigkeit gestellt und somit den Kapitalinteressen untergeordnet. Sicherheit wird andererseits nicht (nur) als Schutz vor Arbeitsplatzverlust und dem Schutz vor dem Zwang zur Annahme von nicht existenzsichernd, sozialrechtlich nicht ausreichend abgesicherten Arbeitsverhältnissen verstanden, sondern als Mittel, um die Beschäftigungsfähigkeit (d.h. die Anpassung der ArbeiterInnen an die „Bedürfnisse“ des Marktes) der ArbeiterInnen herzustellen und auszubauen. An selber Stelle kommt zum Ausdruck, was die Kommission unter Sicherheit vor allem versteht: Sicherheit herstellen, dass Unternehmen ihre Marktpositionen halten bzw. ausbauen können und die Loyalität ihrer Arbeitskräfte intakt bleibt. Das Ziel dieser Politik ist, den Wunsch der ArbeitnehmerInnen nach flexibler Lebensgestaltung auf die Bedürfnisse des Wettbewerbs auszurichten. „Die neoliberale Ideologieproduktion ist dabei das organisierende Element des gesellschaftlichen Umbaus und kann sich eben auch auf aktive und passive Zustimmung stützen, weil er die Interessen subordinierter Gruppen aufnimmt, ihre Ziele allerdings ver-rückt.“11
Anhand der vier von der Kommission und der European Expert Group on Flexicurity ausgearbeiteten Grundkomponenten von Flexicuritymaßnahmen lässt sich zeigen, wie das zurzeit forcierte Best-Practice-Modell Flexicurity sich negativ auf die soziale Sicherheit der ArbeitnehmerInnen auswirkt und somit der Prozess der Prekarisierung weiter vorangetrieben wird.

„Flexible and secure contractual arrangements and work organisations“
Angesichts der, bereits mehrfach erwähnten, steigenden Zahl von prekär beschäftigten Personen klingt die Forderung nach einer weiteren Flexibilisierung von arbeitsvertraglichen Arrangements wie blanker Hohn. Es ist genau diese Deregulierungspolitik, die für die Entstehung und Ausweitung der, eingangs beschriebenen, Kernzone des Prekariats verantwortlich ist. Der arbeits- und sozialrechtliche Schutz der ArbeiterInnen wird den Flexibilisierungsbedürfnissen der Unternehmer im Konkurrenzkampf um Marktanteile geopfert. Die steigende Zahl prekär Beschäftigter wirkt für die festangestellte Stammbelegschaft als ständige Mahnung und Erinnerung an die Ersetzbarkeit ihrer Arbeitskraft. Auch wenn LeiharbeiterInnen und befristet Beschäftigte quantitativ nur eine kleine Minderheit im Betrieb darstellen, wirkt ihre Anwesenheit auch auf große, gewerkschaftlich gut organisierte Belegschaften disziplinierend. Die Anwesenheit von prekär Beschäftigten verdeutlicht den Menschen in „Normalarbeitsverhältnissen“, dass ihre Arbeit bei gleicher Qualität auch von Personal bewältigt werden kann, das für die Ausübung dieser Tätigkeit Arbeits- und Lebensbedingungen in Kauf nimmt, die in der Stammbelegschaft kaum akzeptiert würden.12

„Effective active Labour Market Policies (ALMPs)“
Wirksame aktive Arbeitsmarktpolitiken sollten in diesem Modell den Menschen dabei helfen, den raschen Wandel zu bewältigen, die Zeiten der Arbeitslosigkeit verkürzen und Übergänge zu neuen Arbeitsverhältnissen erleichtern. Durch die Betonung der Rolle der aktiven Arbeitsmarktpolitik spiegelt sich auch hier der Fokus auf die Beschäftigungsfähigkeit (employability) in der europäischen Beschäftgungsstrategie wider. Die Verantwortung für Arbeitslosigkeit wird von der Gesellschaft weg auf das Individuum hin übertragen. Die Folge sind arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, die leicht den Blick für die Ursachen von Arbeitslosigkeit verstellen können, da diese zumeist nicht im individuellen Einflussbereich liegen und Individuen mit deren Bewältigung überfordert sind.13 Jede/r von uns sei selbst dafür verantwortlich, für ein ausgeglichenes Portfolio an Fähigkeiten zu sorgen, um den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes gerecht zu werden.
Bei dem angestrebten ausgeglichenen Mix von Fordern und Fördern der Erwerbsarbeitslosen ist in der konkreten Umsetzung eine deutliche Schieflage zugunsten der Instrumente des Forderns festzustellen. Dies führt in der Praxis zu einer Reproduktion ungleicher Arbeitsmarktchancen und -risiken. Insgesamt wirkt die aktivierende Arbeitsmarktpolitik auf eine Privatisierung der Verantwortung für Arbeitsmarkterfolg und -versagen hin.14
Mit dem Aspekt des Förderns, ergibt sich eine starke Verflechtung mit der nächsten Komponente der Flexicurity-Maßnahmen: dem verlässlichen Life-Long-Learning System:

„Reliable and responsive lifelong learning (LLL) systems“
Allgemein erfahren bildungspolitische Konzepte in zunehmendem Ausmaß ihre Legitimation durch den möglichen Output, d.h. durch ihre vermeintlichen arbeitsmarktpolitischen Verwertungsmöglichkeiten. Legitimation für bildungspolitische Konzepte wird also durch ihren Beitrag zur Standortsicherung im globalen Wettbewerb erreicht. In der Konsequenz sind die Bildungsprozesse daher auf die „Wissensproduktion basierende Ökonomie„ auszurichten. Das Konkurrenzprinzip des Wettbewerbs zwischen freien – sprich privatisierten – BildungsanbieterInnen soll diese marktkonforme Zurichtung der Bildung gewährleisten.15 Dabei wird aber außer Acht gelassen, dass dieses scheinbar „freie Spiel der Kräfte von Angebot und Nachfrage„ auf einem „Markt für Qualifikationen“ klassenspezifisch ungleiche Zugangschancen verstärkt und neu fixiert.16 Es ist zwar ein quantitativer Anstieg der Aus- und Weiterbildung festzustellen (z.B.: in Deutschland von 23% in 1979 auf 48% in 1997), aber es lässt sich zeigen, dass sich insbesondere bereits privilegierte Berufsgruppen mit hohem sozialen Status durch die Nutzung von Fortbildungsangeboten weitere Vorteile auf dem Erwerbsmarkt sichern.17 Während 96% der Hochqualifizierten und leitenden Angestellten an Fort- und Weiterbildungsprogrammen teilnehmen, sind dies nur 53% der FacharbeiterInnen und überhaupt nur 26% der ungelernten ArbeiterInnen. Man kann in diesem Zusammenhang von einer doppelten Selektivität der Weiterbildung sprechen. Mit höherer Schulbildung, höherem Einkommen und regionaler Verortung (Zentrum/Peripherie) steigt die Wahrscheinlichkeit an Weiterbildungsprogrammen teilzunehmen.18 Der Plan der Kommission, dass insbesondere die am meisten gefährdeten Arbeitsmarktgruppen von Fort- und Weiterbildung profitieren sollten, klingt vor dem dargestellten Hintergrund eher wie der Wunsch ans Christkind. Doch selbst wenn ein sozial gerechter Zugang zu Weiterbildungsmaßnahmen gewährleistet wäre, brächte die LLL-Strategie trotzdem eine Ausweitung der Prekarisierung mit sich. Auch hier wird das Risiko der Erwerbsarbeitslosigkeit privatisiert und die Möglichkeit, einen Arbeitsplatz zu finden, noch stärker in den Bereich der individuellen Verantwortung verschoben. Persönliches Engagement sei für den Erfolg am Arbeitsmarkt entscheidend, während strukturelle Probleme und gesellschaftliche Verantwortung ausgeklammert werden.

„Modern social security systems“
Die letzte der vier Komponenten behandelt die Modernisierung der Systeme der sozialen Sicherung. Diese Systeme sollen eine angemessene Einkommenssicherung bieten, Beschäftigung fördern und die Arbeitsmarktmobilität erhöhen. Diese Sichtweise der Dinge führt dazu, dass die Systeme der sozialen Sicherung zu einem Vehikel der europäischen Wettbewerbsfähigkeit werden. Wenn die Systeme der sozialen Sicherung eine angemessene Einkommenssicherung im Falle von Krankheit, Erwerbsarbeitslosigkeit und Alter liefern sollen, wer bestimmt dann die „angemessene“ Höhe der Einkommenssicherung? Angesichts des immer öfter nicht armutsfesten Niveaus von Sozialleistungen und dem auch empirisch bestätigten Trend zum Absenken der Lohnersatzleistungen bei Erwerbsarbeitslosigkeit liegt die Vermutung nahe, dass die zweite in diesem Punkt enthaltene Forderung der Kommission das zentrale Motiv darstellt: mit Hilfe der Sozialsicherungssysteme soll Beschäftigung gefördert und die Arbeitsmarktmobilität erhöht werden. Das immer weitere Absenken der Zumutbarkeitskriterien für die Annahme einer Arbeitsstelle und der damit verstärkte Arbeitszwang oder die nicht armutsfesten Lohnersatzleistungen der Arbeitslosenversicherung, speziell bei zuvor geringem Einkommen, entsprechen dann dieser Sichtweise in der konkreten Politikgestaltung der Mitgliedsstaaten.

Flexicurity als Marketingkonzept

Unter der Modernisierung der Systeme der sozialen Sicherung wird somit nicht mehr der Ausbau sozialer Rechte der Lohnabhängigen verstanden, sondern die Maßnahmen stellen Investition dar. Diese Sichtweise von Sozialpolitik zielt also nicht mehr darauf ab, unsoziale Ergebnisse des Marktes zu korrigieren oder Marktlogiken gar aufzuheben, sondern Sozialpolitik wird so selbst ein Element des Marktes.19 Der spätere Vorsitzende der European Expert Group on Flexicurity, Ton Wilthagen, warnte selbst, dass: „ die möglicherweise höchst ideologische Anwendung von Konzepten wie ‚flexicurity’ nicht ignoriert werden sollten. Es könnte sein, dass der ‚(se)curity’-Teil von ‚flexicurity’ nur die Message weiterer Flexibilisierung und Deregulierung im Interesse gewisser sozio-politischer Interessensgruppen verkauft. Daher ist die Einschätzung von Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsstrategien und Politiken wie den ‚flexicurity’-Strategien am Ende des Tages eine empirische Frage und unterliegt deshalb einer empirischen (bevorzugt multidisziplinären) Forschung.“20 Mit der Arbeit von Tangian liegen nun – vielleicht noch nicht ganz am Ende des Tages – empirische Befunde vor.21 Diese Ergebnisse zeigen ganz eindeutig, dass, entgegen politischer Versprechungen und theoretischer Betrachtungen, die Deregulierung der europäischen Arbeitsmärkte absolut dominiert. Dies legt die Vermutung nahe, dass die Flexicurity-Strategie zur gleichzeitigen Stärkung von Flexibilität und Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt mehr einem politischen Marketingkonzept entspricht, als einer wirklichen Verbesserung der Lebensbedingungen der europäischen Bevölkerung.

Gewerkschaften als „Hans im Glück“

Aus der Perspektive der Gewerkschaften und der ArbeitnehmerInnen kann die Flexibilisierung der Beschäftigungsbeziehungen kaum durch die „Verbesserung der Sozialsysteme“ kompensiert werden, vielmehr führt sie zur Aufgabe von Arbeitsrechten zu Gunsten von (ungewissen) „sozialen Vorteilen“. Trotzdem sind die Gewerkschaften bemüht, ihren Mitgliedern jede weitere Verschlechterung als mehr oder weniger gerechten Kompromiss zu verkaufen, der den UnternehmerInnen abgerungen werden konnte. Der „Erfolg„ dieser Aushandlungsprozesse ist an Argumente der Standortsicherung und der Wettbewerbsfähigkeit gekoppelt und ist darüber hinaus abhängig vom „guten Gang der Geschäfte„. Die Sache kann sich so verhalten wie in dem Märchen „Hans im Glück“, der zuerst einen Goldklumpen von seinem Arbeitgeber erhält, den er dann gegen ein Pferd tauscht, dieses gegen eine Kuh und so fort, bis er am Ende nur mehr einen Schleifstein hat, der ihm beim Wassertrinken in einen Brunnen fällt und er im Endeffekt mit leeren Händen nach Hause kommt.22 Im Konzept der Flexicurity scheinen die Gewerkschaften ein Gut (Arbeitsrechte) gegen ein anderes (soziale Sicherheit) zu tauschen, und letztlich stehen ArbeiterInnen ohne beides da.

Durchsetzung des Markts

Tangian stellt in seiner empirischen Studie einen Rückgang der sozialen Sicherheit in Europa fest. Dieses Ergebnis korrespondiert mit den Betrachtungen zur Prekarisierung der europäischen ArbeiterInnen. Die Erklärung dafür sind längere Perioden von Arbeitslosigkeit und kürzere Phasen der Beschäftigung, welche ArbeiterInnen von hohen Sozialleistungen ausschließen. Es handelt sich dabei um Folgen der Flexibilisierung der Arbeitsrechte und -beziehungen. Der Kern dieser Strategie ist die umfassende Umgestaltung der Wohlfahrtssysteme unter Einbeziehung der Arbeitsmärkte. Der Arbeitsmarkt, wie alle anderen Märkte, ist kein naturwüchsiges Geflecht von Beziehungen, sondern bedarf der politischen Durchsetzung. Auf die Gestaltung dieses Marktes hat insbesondere die EU großen Einfluss. Durch die Lissabon-Strategie und die Methode der offenen Koordinierung wird ein immer stärker Zug in Richtung Deregulierung erzeugt, ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaften werden im besten Falle in die Rolle des Juniorpartners bei arbeitsmarktrelevanten Entscheidungen gedrängt. Diese strukturelle Benachteiligung erlaubt es den mächtigen Kapitalinteressen immer besser, deregulierte Arbeitsmärkte und prekäre Beschäftigungsverhältnisse als den einzigen Ausweg im globalen Wettbewerb darzustellen.

Anmerkungen

1 Etxezarreta, Miren et al.: Euro Memo 2005, Hamburg 2006; dies.: Euro Memo 2006, Hamburg 2007
2 Dörre, Klaus: Prekarisierung der Arbeitsgesellschaft – Ursache einer rechtspopulistischen Unterströmung?, in: Bathke, Peter/Susanne Spindler (Hg.): Neoliberalismus und Rechtsextremismus in Europa. Zusammenhänge – Widersprüche – Gegenstrategien, Berlin 2006, 153-165: 154
3 Aiginger, Karl: Das europäische Modell zwischen Stagnation, Pariser Konsens und proaktiver Reformpolitik, in: Leutner, Richard (Hg.) Grundlagen eines europäischen Sozialmodells aus Arbeitnehmerperspektive, Wien 2007, 21-57: 39
4 Chaloupek, Günther: Jenseits der Lissabon-Strategie. Alternativen und Handlungsspielräume für die Beschäftigungspolitik in Europa, in: Leutner: Grundlagen eines europäischen Sozialmodells, a.a.O., 57-75: 64
5 Nachfrageseitige Arbeitsmarktpolitik bedeutet, die Nachfrage nach Arbeitskräften zum Beispiel über öffentliche Investitionen zu steigern. Durch das enge Korsett der Europäischen Währungspolitik und die Konvergenzkriterien für den Euro ist dieser Spielraum für die Mitgliedsländer aber enorm eingeschränkt, außerdem wurde mit der Schaffung der EZB und ihrer marktradikalen Ausrichtung den Staaten jegliche Möglichkeit genommen, über die Währungspolitik Einfluss auf die Beschäftigungslage auszuüben.
Angebotsseitige Arbeitsmarktpolitik wiederum bedeutet, die TeilnehmerInnen am Arbeitsmarkt müssen sich den Erfordernissen des Marktes anpassen. Der Markt an sich funktioniert, nur die ArbeitnehmerInnen, die auf den Markt drängen, sind vielleicht nicht flexibel genug oder falsch qualifiziert. Bei dieser Sichtweise wird nicht der aktive Eingriff der Politik in den Markt favorisiert, sondern die zum Markt dysfunktionalen Indivduen müssen sich ändern.
6 Chaloupek, Günther: Jenseits der Lissabon-Strategie, a.a.O.: 65
7 Wilthagen, Ton/Franz Tros: The concept of „flexicurity“: a new approach to regulating employment and labour markets, in: transfer, 2/2004, 166-186
8 Europäische Kommission: Gemeinsame Grundsätze für den Flexicurity-Ansatz herausarbeiten: Mehr und bessere Arbeitsplätze durch Flexibilität und Sicherheit, Brüssel 2007: 5
9 Die Expert Group wurde im Juli 2006 vom Directorate-General for Employment, Social Affairs and Equal Opportunities (DG EMPL) gegründet und besteht aus ExpertInnen, die auf Basis ihrer akademischen Erfahrungen ausgewählt wurden. Zwei weitere ExpertInnen dienten als Ratgeber und wurden aufgrund ihrer Verbindung zu den Sozialpartnern ausgewählt. Die Hauptaufgabe der Expert Group war die Sichtung der relevanten wissenschaftlichen Literatur und Praktiken in den Mitgliedsstaaten, um die Kommission bezüglich der unterschiedlichen Ausgangslagen und möglicher Flexicurity-Pfade zu beraten.
10 Europäische Kommission: Gemeinsame Grundsätze, a.a.O.: 6
11 Candeias, Mario: Leben im Neoliberalismus. Zwischen erweiterter Autonomie, Selbstvermarktung und Unterwerfung, in: Arrighi Giovanni et al.: Kapitalismus Reloaded. Kontroversen zu Imperialismus, Empire und Hegemonie, Hamburg 2007, 305-327: 314
12 Brinkmann, Ulrich et al.: Prekäre Arbeit. Ursachen, Ausmaß, soziale Folgen und subjektive Verarbeitungsformen unsicherer Beschäftigungsverhältnisse. Wirtschafts- und sozialpolitischen Forschungs- und Beratungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung Abteilung Arbeit und Sozialpolitik, Bonn 2006: 61f
13 vgl. Klammer, Ute / Leiber, Simone: Aktivierung und Eigenverantwortung in europäisch-vergleichender Perspektive, WSI Mitteilungen 09/2004, Düsseldorf 2004
14 vgl. Marquardsen, Kai: Was ist „Aktivierung“ in der Arbeitsmarktpolitik? WSI Mitteilungen 05/2007, Düsseldorf 2007
15 vgl. Kessl, Fabian/ Richter, Martina: Lebenslanges Lernen oder ununterbrochene Bildung? Eine symptomale Lektüre aktueller Bildungsprogrammatiken. in: Neue Praxis, Jg. 36, Nr. 2, 8f
16 vgl. Faulstich, Peter / Zeuner, Christine: Erwachsenenbildung: eine handlungsorientierte Einführung in Theorie, Didaktik und Adressaten. Weinheim 1999
17 Bolder, Axel/Hendrich, Wolfgang: Fremde Bildungswelten: Alternative Strategien lebenslangen Lernens, Opladen, 2000: 59
18 Kessl, Fabian/ Richter, Martina: Lebenslanges Lernen, a.a.O.: 9f
19 Vgl. Hofbauer, Ines: Das „Europäische Sozialmodell“ als transnationales Modernisierungs- und Legitimationskonzept. In: Kurswechsel Nr. 1/2007, 38-47
20 Wilhagen/Tros: The concept of „flexicurity“, a.a.O.: 171
21 Tangian, Andranik: European flexicurity: concepts (operational definitions), methodology (monitoring instruments), and policies (consistent implementations). WSI-Diskussionspapier Nr. 148 der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf 2006
22 ebd.: 26





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