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Reggae: Roots of Resistance
von Philipp Probst

Reggae ist heute ein fixer Bestandteil jugendlicher Subkultur und außerdem identitätsstiftendes Moment der „black community“. Philipp Probst beschreibt die historische Entwicklung des Reggae im Spannungsfeld von Widerstand gegen Ausbeutung und Unterdrückung, „love and peace“ und homophoben und sexistischen Tendenzen.

Die Geschichte des Reggae ist stark mit der Geschichte Jamaikas verbunden, einer Geschichte von Sklaverei und Kolonialherrschaft, von Rassismus und Unterdrückung, von wirtschaftlicher Abhängigkeit und Ausbeutung. Reggae ist das Produkt „der Erfahrungen von AfrikanerInnen in der Karibik… Der Geist und Inhalt des Jazz und Blues in Afro-amerika, und des Reggae in Jamaika zeigen dieselbe Botschaft – eine Reaktion auf die Unterdrückung und Ausbeutung in der Neuen Welt“.1

„Do you remember the days of slavery“

„I would rather die pon your gallows than live in slavery“ Sam Sharpe 1832

Über 15 Millionen AfrikanerInnen wurden während der Sklaverei von Afrika in die „neue Welt“ verschleppt, während zusätzlich noch mal dieselbe Zahl bei der SklavInnenjagd und der Überfahrt gestorben sein dürften. Etwa eine Million SklavInnen wurden nach Jamaika deportiert, von denen am Ende der Sklaverei nur ca. 323.000 überlebt hatten. Für Europa legte der Handel mit SklavInnen als billigen Arbeitskräften den Grundstock für die Entwicklung des aufstrebenden Kapitalismus.
Die Erinnerung an die Erfahrungen der Sklaverei brachten Bob Marley und die Wailers in dem Song „Catch a fire“ zum Ausdruck:

“Slave driver, the table is turning,

catch a fire so you can get burn…

Everytime I hear the crack of the whip

My blood runs cold,

I remember on the slave ship

How they brutalised my very soul.

They say that we are free

The only thing that change is poverty”2

Um den Widerstand der Versklavten zu brechen, die Erinnerungen an das freie Leben in Afrika auszulöschen, setzten die Plantagenbesitzer und die herrschende Klasse jedes Mittel ein. Gleich bei der Überfahrt wurden die SklavInnen, die aus verschiedenen Teilen Afrikas kamen, so aufgeteilt, dass auf Grund von Sprachbarrieren schwer Kommunikation zustande kommen konnte und erschwerte somit einheitliche Aufstände der SklavInnen. Afrikanische Riten wurden weitgehend verboten und das „drum-law“ verhinderte, dass sich jamaikanischen SklavInnen versammelten und trommelten.3 Doch die versklavten AfrikanerInnen fanden kreative Wege des Widerstands. Von Sabotageakten, „langsamen Arbeiten“ bis zum Vergiften des SklavInnenhalters durch den versklavten Koch reichten die Widerstandsformen. Durch das Nachäffen der weißen Herrscher konnte gemeinsam Frust und Aggression abgebaut werden. Sowohl Unzufriedenheit mit der derzeitigen Situation als auch Erfahrungen von Aufständen flossen in Gesang, Tanz, Musik, Spottgedichten und Geschichten ein. Der kulturelle Widerstand, der sich in langsamer Art und Weise entwickelte, stärkte die Solidarität untereinander und den Willen zur Rebellion – und explodierte in SklavInnenaufständen. Es kam in der Zeit der Sklaverei zu mehr als vier hundert Aufständen, und zu größeren Zusammenstößen 1729-31, 1760, 1831. Zwei der wichtigsten Widerstandskämpfe, deren Erinnerung und Erfahrungen sich heute noch in Reggaetexten wiederfinden, waren die Aufstände der Maroons und der Aufstand 1865 unter Paul Bogle.

Die Maroons waren eine Gruppe von SklavInnen, die von den Spaniern zurückgelassen wurden, nachdem Jamaika von den Briten 1655 erobert wurde. Sie warteten nicht auf die neuen Eroberer, sondern zogen sich in die jamaikanischen Hügel zurück und gründeten freie Gemeinschaften. Da die Maroons entflohene SklavInnen in ihre Gemeinschaft aufnahmen, kamen sie mit der britischen Kolonialherrschaft in Konflikt. Jahrelang wurde brutal gegen die Maroons vorgegangen, doch spezialisiert auf Guerillataktiken leisteten die Maroons Widerstand. In der Nacht attackierten die sie die Plantagen, um Nahrung und anderes zu erhalten, während sie sich am Tag zurückzogen. Die Lebensweise der Maroons war geprägt von Arbeitsteilung und gemeinschaftlichem Zusammenleben. Größere SklavInnenaufstände 1673 und 1685 ließ die Zahl der Maroons weiter anwachsen. 1731 begann der erste „Maroon Krieg“. Die britische Armee konnte die MaroonkämpferInnen nicht besiegen und musste einen Friedensvertrag abschließen. Den Maroons wurden einige Zugeständnisse gemacht, z.B. bekamen sie fünf größere Städte, jedoch war es der letzte Punkt des Vertrags, der den Widerstand der Maroons in Folge schwächen würde. Sie mussten sich bereit erklären, keine weiteren entflohenen SklavInnen mehr aufzunehmen. Damit verloren sie die Unterstützung der schwarzen Bevölkerung und konnten fast4 gänzlich zurückgedrängt werden. Trotzdem wurden sie wegen ihrer Lebensweise und ihrem Kampf gegen die Kolonialherren zum Vorbild für die Rastafari, die später eine wichtige Kraft in Jamaika und für die Entwicklung des Reggae werden sollten.

Im Jahre 1834 wurde die Sklaverei nach einem großen SklavInnenaufstand 1831 offiziell abgeschafft. Doch die SklavInnen wurden nur formal frei. Den ehemaligen Sklavenhaltern und Plantagenbesitzern wurde von der britischen Kolonialmacht 20 Millionen an Entschädigung gezahlt, während den ehemaligen SklavInnen jeder Landbesitz verwehrt wurde und sie vier weitere Jahre für ihre ehemaligen Herren arbeiten mussten. Ohne Land und Job konnten sie sich nur entscheiden zu verhungern oder weiter für die ehemaligen Besitzer zu arbeiten. Das bedeutete einen direkten Übergang von Sklavenarbeit zu Lohnarbeit. 1860 war die Situation der schwarzen Bevölkerungsschicht kaum besser als zu Zeiten der Sklaverei. Sie trugen die Hauptlast der Steuern, waren durch hohe Entgelte praktisch von Wahlen ausgeschlossen, die Löhne wurden gekürzt, es gab Hunger und Krankheit.
Diese desolaten Zustände führten 1865 zur Morant Bay Rebellion unter Paul Bogle. Bogle war baptistischer Priester und Anführer der freien Dorfgemeinschaft Stony Gut, deren Land von der baptistischen Kirche gekauft und den freien SklavInnen zur Verfügung gestellt wurde.
Nach einem kleinen Aufstand sollten die Anführer festgenommen werden. Doch die BewohnerInnen von Stony Gut waren vorbereitet und verjagten die Polizei. Das Gerichtsgebäude, das Symbol der Unterdrückung, wurde zerstört. Tausende schlossen sich Bogle an und zogen durch die umliegenden Dörfer, begleitet von Trommeln und dem Slogan „Cleave to black“. Drei Tage war ein Gebiet von etwa 30 Meilen rund um Morant Bay unter Kontrolle der schwarzen Bevölkerung, bevor die britische Armee mit äußerster Brutalität gegen die Aufständischen und alle, die mit ihnen sympathisierten, vorging. Bogles Kampf, die Morant Bay Rebellion und der Leitspruch „Cleave to black“ legten den Grundstein für die Entwicklung des „Black Nationalism“ in der jamaikanischen Gesellschaft.

Marcus Garvey – „Africa for the Africans at home and abroad”

Obwohl die Sklaverei abgeschafft war, existierte sie für viele in einer „kultivierteren“ Form weiter. So forderte Bob Marley in seinem Redemption Song:

„Emancipate yourselves from mental slavery

None but ourselves can free our minds…”5

Die Welt wurde bombardiert mit Bildern der weißen Überlegenheit. Pseudowissenschaftliche und biblische Rechtfertigungen sowie Filme wie Tarzan, der Tiere und Schwarze gleichermaßen zähmte, zeigten das Bild des „kultivierten“ Weißen gegenüber der/dem „zu kultivierenden“ Schwarzen. Die Ideen des Rassismus, die sich während der Sklaverei gebildet hatten, wurden von den Kolonialmächten weltweit als Rechtfertigung für ihre Herrschaft eingesetzt.6 Schwarzen wurden Grundrechte wie Versammlungsrecht, Wahlrecht, Recht auf Gewerkschaftsorganisierung verweigert. Das Bewusstsein der schwarzen Bevölkerung, der ArbeiterInnen, kleinen BäuerInnen und Arbeitslosen, war geprägt von rassistischer Unterdrückung und der ökonomischen Ausbeutung. Dadurch wurde die Suche nach einer Identität in der afrikanischen Vergangenheit genährt. Es ist vor diesem Hintergrund der generellen Verunglimpfung von schwarzer Kultur und Verweigerung von BürgerInnenrechten, dass Ideen des Pan-Afrikanismus an Bedeutung gewannen. Die „United Negro Improvement Association“ unter der Führung von Marcus Garvey wurde zur größten pan-afrikanischen Organisation und hatte großen Einfluss auf den „Black Nationalism“ in den US, auf Malcolm X und die Black Panthers. Garvey predigte schwarzes Selbstbewusstsein und Identifikation mit der afrikanischen Heimat. Nach Ansicht Garveys sollten alle Schwarzen die Länder des westlichen Systems, das er in Anlehnung an die Bibel Babylon nannte, verlassen und in das gelobte Land Zion zurückkehren. Ziel Garveys war die Repatriation, die Zurückführung aller Schwarzen in die Heimat Afrika, aus der sie, so wie die biblischen Israeliten, verschleppt wurden, genauer gesagt in das einzige nie kolonialisierte Land Afrikas, Äthiopien.

Rastafari

Aus den verschiedenen Einflüssen, der Erinnerung an den Widerstand und die kommunale Lebensweise der Maroons, dem sich verbreitenden Panafrikanismus von Garvey und dem Glauben an Äthiopien als dem gelobten Land entwickelten sich die Rastafari. Als 1930 in Äthiopien Ras Tafari zum König Haile Selassie I gekrönt wurde, sahen viele darin die Erfüllung der Prophezeiung, dass in Afrika der König der Könige (Ras of Ras) gekrönt werden würde. In der ländlichen Bevölkerung führte die Krönung eines afrikanischen Königs, der sich auf die Bibel berufen konnte und ein direkter Nachfahre von König Salomon sei, zu einem neuen Glauben, der den weißen König und den weißen Gott mit einem schwarzen König und Gott ersetzte. Die eigentlich religiöse Bewegung wurde mit dem Angriff des faschistischen Italien auf Äthiopien 1936 politisiert. Der antifaschistische Widerstandskampf des äthiopischen Volks wurde zur Inspiration für Schwarze weltweit. Vor allem die unter der kolonialen Herrschaft leidenden Schwarzen der Karibik und Jamaikas identifizierten sich mit dem antikolonialen Kampf. Der Mythos des Haile Selassie als schwarzem Gott und die spirituellen, politischen, und kulturellen Verbindungen zwischen Afrika und den jamaikanischen ArbeiterInnen wurden gestärkt.

Die Ideologie der Rastafari war immer verwoben mit einer Kritik an der sozialen Ordnung und deshalb sind auch die Symbole der Rastafari eng mit Symbolen des Widerstands verknüpft. Die Symbole der Flagge (Rot für das Blutvergießen der Sufferers seit den Tagen der Sklaverei, Gold für den Reichtum der den Sufferers gestohlen wurde und grün für das gelobte Land in Afrika), der Löwe, die Trommel, die Dreadlocks, und die eigene Sprache reflektieren eine Art von Widerstand. So entstanden die Dreadlocks als sich die Rastas mit den KämpferInnen der Land and Freedom Army (Mau Mau) in Kenia7 identifizierten, die ihre Haare natürlich wachsen ließen und sie in „locks“ trugen.

Der bewaffnete Widerstand des äthiopischen Volks stärkte den Willen der Schwarzen in der Karibik, sich gegen den Kolonialismus aufzulehnen und führte zu gewaltsamen Aufständen in der ganzen Region, 1935 in St.Vincent und Guayana, später in Trinidad und Antigua und schließlich 1938 in Jamaika. An der Situation von Schwarzen in Jamaika hatte sich nach der formalen Abschaffung der Sklaverei nicht viel geändert, so wurde der Masse der Menschen hundert Jahre später noch immer derselbe Lohn, ein Shilling pro Tag, fürs Zuckerrohr schneiden bezahlt. Die verarmten Menschen, die „sufferers“, nahmen diese Ausbeutung nicht mehr länger hin. 1938 kam es zu Massenstreiks. Hafenarbeiter und Arbeitslose solidarisierten sich und übernahmen für eine kurze Zeit die Stadt Kingston. Die Aufstände ebbten erst ab, als es zu Verbesserungen bei den Löhnen und Legalisierung der Gewerkschaften kam.

Die Konzentration auf die Losung „Zurück nach Afrika“ hinderte die Rastafari daran, eine zentrale Rolle in den lokalen Aufständen einzunehmen. Obwohl ihre Ideen unter den „sufferers“ Zustimmung erhielten, blieben sie zunächst ein kleiner religiöser Kult. Rastafari war durch ihren Widerstand gegen Ausbeutung Schwarzer eine Inspiration, doch die religiösen Aspekte der Rastafari, die Mystifizierung Haile Selassie und die Hoffnung auf Erlösung in Äthiopien unter einem schwarzen König und die Verlagerung des Kampfs um Befreiung nach Afrika schnitt sie von den in Jamaika kämpfenden „sufferers“ ab. Erst die größten Vertreibungen in Jamaika seit der Sklaverei führten dazu, dass die Rastafari in den Fünfzigern regen Zulauf hatten und an Einfluss gewannen. Zwischen 1942 und 1970 wurden 560.000 ländliche Menschen von Bauxitfirmen von ihrem Land vertrieben und flohen in die Städte, wo sie in Barackenstädten, den Shantytowns, vergeblich nach Jobs suchten. Die Vertreibungen ließen den Ruf nach Rückkehr in die Heimat Afrika lauter werden und gaben dem Garveyismus und den Rastafari Aufschwung. Diese nutzten das Medium des Rasta Songs, des Reggae, um ihre Botschaft zu verbreiten und prägten damit die musikalische und kulturelle Landschaft Jamaikas.

Sound of Resistance – „Do the Reggay“

Die Entwicklung der jamaikanischen Musik – des Reggae wie auch seiner Vorgänger Ska und Rocksteady – war immer stark von den sozioökonomischen Rahmenbedingungen beeinflusst.

Der jamaikanische Ska entstand in den Shantytowns. Die Hoffnung der jamaikanischen verarmten Bevölkerung, dass die politische Unabhängigkeit, die Jamaika 1962 erlangte, einen radikalen Wechsel bringen würde, spiegelte sich in dem tanzbaren Upbeat-Rhythmus des Ska wider. Weil die verarmte Bevölkerung sich keine Platten oder Plattenspieler leisten konnte, und die Radiostationen nur weißen Rock ‘n’ Roll von Elvis Presley u.a. spielten, bildeten sich die Sound Systems. DJs bauten Anlagen auf den Straßen auf und begannen jamaikanische Musik zu spielen. Die Soundsystems wurden zu Straßenfesten der ArbeiterInnenklasse und armen Bevölkerungsschicht und füllten die Straßen Jamaikas mit Tanz und Musik. Rico Rodriguez, einer der besten Posaunisten des frühen Ska: „People who don’t suffer like us can’t perform that sound – it’s a sufferers sound; it’s a ghetto sound we play out of the instruments, real suffering ghetto sound. It is happy, yes, for it’s relief!”8 Das Toasting, der rhythmische Sprechgesang über Musik, wurde zur Ausdrucksform vieler Jugendlichen und beeinflusste die spätere Rapszene in den USA.

Doch die Euphorie über die Unabgängigkeit hielt nicht lang. Massenarbeitslosigkeit und Armut prägten das Leben in den Shantytowns und die Unabhängigkeit brachte nicht die erhofften Verbesserungen. US und kanadische Unternehmen hatten die schwächeren britischen ersetzt und beuteten die großen Bauxitressourcen des Landes aus. Der Ganja und Waffenhandel wuchs und die Shantytowns wurden mit wachsender Polizeibrutalität, Korruption und den um den Ganjahandel kämpfenden Gangs konfrontiert. Die wachsende Polizeigewalt wird in Linton Kwesi Johnson’s „Sonny’s Lettah“ beschrieben:
:”… out jump tree policemen/ de whole a dem carryin baton/ dem walk straight up to me and Jim/ one adem hold on to Jim/ … Jim tell him fi leggo a him/ for him nah do nottin/ … Dem thump him in him belly and it turn to jelly…”9

In diesem Milieu entwickelte sich die Subkultur der Rude Boys. Die arbeitslosen Jugendlichen suchten auf der Straße nach Selbst- und Anerkennung und sahen in Gangs und Kriminalität den einzigen Ausweg. Desmond Dekker beschrieb in seinen Hits „007 (Shantytown)“ und „Israelites“ die Lebensumstände der Rude Boys in den Baracken.
„Them a loot, them a shoot, them a wail, at shantytown, the rude boy deh poh probation, Then rude boy a bomb up the town“ (007 Shantytown)10
und
„Get up in the morning, slaving for bread, sir, so that every mouth can be fed. Poor me the Israelites” (Israelites)11

Die Musik wurde langsamer, die Texte politischer und verarbeiteten die Erfahrungen der Rude Boys. Der Rocksteady war geboren. Das Leben in den Shantytowns prägte immer mehr Individualismus und Konkurrenzdenken. Die Wailers machte in ihrem Song „Man to Man“ darauf aufmerksam:

“Man to trust is so unjust,

You don’t know who to trust

Your worse enemy may be your best friend,

Your best friend may be your worse enemy,

Some will sit and drink with you

Then behind dem soo soo pon you

Only your best friend know your secret

And only he can reveal it

Who the cap fits, let him wear it”12

Das Erstarken der Rastafari in dieser Zeit hängt stark mit der wirtschaftlichen Situation Jamaikas zusammen. Die neokolonialistischen Strukturen führten dazu, dass der Großteil des Reichtums ins Ausland floss, die Bauxitindustrie in die Krise schlitterte und die Arbeitslosenrate 1972 auf 23 Prozent anstieg. Die arbeitslosen Jugendlichen konnten sich immer mehr mit den Rastas identifizieren, die aus dem Konkurrenzkampf und dem Individualismus ausbrechen wollten, die die ganze kapitalistische Gesellschaft durchzogen.
Der wachsende Einfluss der Rastafari machte sich in der Musik bemerkbar. Die Musik wurde nochmals verlangsamt und mehr Wert auf die Texte und die Basslinie gelegt. So wie Chuck D (Public Enemy) Hip-Hop als “ghetto CNN” bezeichnete, wurde Reggae zu der Informationsquelle der Menschen aus den Shantytowns: „If you listen to Reggae music, you don’t need to buy the paper. Reggae music tells you everything wha’ happen in Jamaica” (Roy Cousins). Polizeigewalt, Hunger, Kritik an lokalen Regierung, Erinnerungen an die Sklavenzeit, wurden über den Reggae angesprochen. Ein Hauptthema blieb der Angriff auf das westliche System, auf Babylon:

Babylon system is the vampire

Suckin’ the children day by day

Me say: de Babylon system is the vampire, falling empire,

Suckin’ the blood of the sufferers

Building church and university

Deceiving the people continually

Me say them graduatin’ thieves and murderers;

Look out now: they suckin’ the blood of the sufferers”13

(Bob Marley – Babylon system)

Die Black Power und BürgerInnenrechtsbewegung der 60er, das Aufkommen der antikapitalistischen 68er-Bewegung, die kubanische Revolution und die Antivietnamkriegsbewegung beeinflussten den Reggae und umgekehrt. ReggaekünstlerInnen wie Bob Marley und die Wailers ließen vermehrt Themen aus aktuellen Kämpfen in Afrika in ihre Texte einfließen und nutzten Reggae als Mittel zur Motivation und Inspiration für AktivistInnen weltweit. Während der Unabhängigkeitsfeier in Simbabwe gab Bob Marley ein Konzert für Zehntausende, die seinen Ruf nach Freiheit aufnahmen. „So Africa unite unite unite. You’re so right let’s do it” Bob Marley’s Unterstützung für die afrikanischen Befreiungsbewegungen wurde auch in seinem Lied „War“, dessen Worte aus einer Rede Haile Selassies stammen, deutlich: “Until the philosophy which hold one race superior and another inferior is finally and permanently discredited and abandoned; Until there are no longer first class and second class citizens of any nation;(…); And until the ignoble and unhappy regimes that hold our brothers in Angola, in Mozambique, and in South Africa in sub-human bondage have been toppled and destroyed; Everywhere is war, me say war”
Auch außerhalb Afrikas wurde Reggae zur Musik des Widerstands. Chinesische StudentInnen sangen „Get Up Stand Up“ von den Wailers während den Tienanmen Square Demonstrationen 1989. Jimmy Cliff’s „Vietnam“ war ein eindringlicher Protest gegen den Vietnamkrieg und verband Reggae mit der antiimperialistischen Bewegung. In Großbritannien wurde Ska von jugendlichen weißen ArbeiterInnen aufgenommen. Schwarze ArbeiterInnen in Europa, die selbst ständig die Erfahrung von Rassismus, Ausbeutung und Unterdrückung machten, identifizierten sich mit Reggaetexten.

„I don’t wanna be involved in politricks“

Doch nachdem die Black Power Bewegung in den USA zu Ende gegangen war, die Hoffnungen in die in den 70ern regierende sozialdemokratische Partei, PNP, enttäuscht wurden, die wirtschaftliche Lage Jamaikas unter dem Druck der Weltbank14 immer katastrophaler und Haile Selassie I wegen seiner rücksichtslosen Herrschaft durch die Revolution 1974 gestürzt wurde, waren viele aus den verarmten Schichten desillusioniert und wollten nichts mehr mit Politik zu tun haben. Die Texte des neuen Reggaegenres Dancehall spiegelten immer noch die harschen Bedingungen der Ghettos wider. Im Gegensatz zu dem Reggae der 60er und 70er zeigten sie aber kaum die Hoffnung auf Verbesserung und den Willen zum Widerstand. Sie waren dominiert von der sogenannten „slackness“, von Gewalt, sexuellen Bildern, Drogen und Kriminalität und die negativen Komponenten der Rastafari- und Reggaekultur kamen vermehrt zum Vorschein. „Dancehall-Musik ist heute selten mehr als einfacher Eskapismus und im schlimmsten Fall spiegelt sie die reaktionäre Ideologie wider, die die jamaikanische Gesellschaft erstickt.“15
Rastafari als Religion unterliegt immer verschiedenen Interpretationen und zeigt die Widersprüchlichkeit religiöser Bewegungen. Während einerseits Widerstand und starke Militanz Teil der Rastakultur sind und der Glaube ein wichtiger Faktor in der Entwicklung des Selbstbewusstseins der schwarzen Bevölkerung war, wurden auch reaktionäre oder die Passivität fördernde Aspekte aufgenommen. Die Befreiung des unter der schwarzen Bevölkerung weit verbreiteten christlichen Glaubens von einem weißen Gott, war ein wichtiger Schritt für die Emanzipation der Schwarzen von der weißen Vorherrschaft. Doch brachte die Verknüpfung mit dem Christentum auch deren reaktionäre Ansichten mit sich. Sowohl Homophobie als auch Diskriminierung von Frauen wird von vielen Rastafari, durch Bezug auf die Bibel, gerechtfertigt. Diese Inhalte flossen in den Reggae ein und sind bis heute ein Bestandteil der Musik und Kultur. So rufen Reggaesänger wie TOK oder Capelton in ihren Texten dazu auf, gewalttätig gegen Homosexuelle vorzugehen. Frauen werden bei den Rastafari häufig nur über den Mann definiert und mit „Rastaman’s woman“ angesprochen. Sie gelten während ihrer Periode als unrein und ihnen ist verboten, an vielen Ritualen der Rastas teilzunehmen oder obere Ränge in den Gemeinden zu erhalten. Diese Diskriminierungen sind Teil eines größeren Problems der Unterdrückung von Frauen und Homosexuellen in der jamaikanischen Gesellschaft. Homosexualität ist seit der Kolonialzeit per Gesetz verboten. Die Arbeitslosenrate von Frauen ist doppelt so hoch wie die von Männern und Frauen werden als Hausfrau und Mutter in die Familienstrukturen gedrängt. Viele Dancehallartists spiegeln in ihren Texten diese Diskriminierungen wider und reproduzieren sie aktiv.
Die Widersprüchlichkeit der Reggaekultur, zwischen reaktionärer Ideologie und Kampf gegen Unterdrückung, wird bei Artists wie Buju Banton deutlich. Während Buju Banton in seinem Lied „Boom Bye Bye“ davon singt, homosexuelle Männer umzubringen, ist sein Song „Murderer“ ein Aufruf, die Gewalt in den Straßen zu beenden.

Im Reggae drücken Artists Ideen und Vorstellungen aus, die von emanzipatorisch über„love and peace“ bis zu reaktionär reichen. Wichtig ist zu betonen, dass es auch im heutigen Reggae KünstlerInnen gibt, die sich den diskriminierenden Tendenzen entgegenstellen, wie beispielweise Rita Marley, Judy Mowatt oder Sister Caroll .

„Why treat us inhuman

just because we’re only woman?

Don’t treat us inhuman

Just because we’re only woman

We’re not weak; We are strong

We’ve held back; Far too long…”16

(Judy Mowatt – Only Woman)

Die Entpolitisierung des Reggae nach den Siebziger Jahren wurde noch verstärkt durch die größere werdende Kommerzialisierung. Während Künstler, wie die Wailers, trotz weltweiter Vermarktung nichts an den politischen Inhalten in ihren Texten geändert hatten, zeigte sich in nachfolgenden Jahren ein Wandel in den Lyrics. Die große Popularität des Reggae öffnete einen neuen Markt und das Bild des sonnigen Urlaubsparadieses Jamaika und des „sunshine“ Reggae wurde verkauft. Die Kommerzialisierung bewirkte ein Abkoppeln von Teilen der Reggaekultur von ihren politischen Wurzeln und den realen Lebensumständen in Jamaika. Reggaekünstlern, wie Shaggy oder Sean Paul, wurden weltberühmt ohne den widerständischen Charakter der Texte von Bob Marley oder auch nur einen Bezug auf die sozialen Probleme Jamaikas.
Trotz aller Widersprüche bleibt Reggae für viele ein Mittel des Widerstands und ein Weg, um auf die Zustände in den jamaikanischen Ghettos aufmerksam zu machen. So singt Damian Marley im 2005 erschienenen „Welcome to jamrock“:

„Welcome to Jamrock, poor

people dead at random

Political violence can be done

Old men to pickney, so wave

one hand if you with me

To see the sufferation sicken me”17

Reggae ist nicht nur Sprachrohr der verarmten Bevölkerung Jamaikas, sondern auch Inspiration für AktivistInnen, die weltweit gegen Rassismus, Krieg und Ausbeutung kämpfen.
Mit den Worten von Linton Kwesi Johnson:

„Now tell mi something, mista govahment man…how long yu really feel yu coulda keep wi andah heel..?

Now tell mi something, mista police spokesman…how long yu really tink we woodah tek you batn lick..?

Now tell mi something, mista ritewing man … how long yu really feel we woodah grovel an squeal..?

It is noh mistri,

we mekin histri,

it is noh mistri,

we winnin victri”18

Anmerkungen

1 Patrick Hylton, in: Horace Campbell: Rasta and Resistance. From Marcus Garvey to Walter Rodney. Africa World Press 1987.
2 „Sklaventreiber, das Blatt wendet sich, fang Feuer um zu brennen…Jedesmal wenn ich den Schlag der Peitsche hör, gefriert mir das Blut in den Adern, ich erinnere mich, wie sie meine Seele folterten am Sklavenschiff. Sie sagen wir sind frei, doch das einzige das sich änderte ist die Armut.“
3 Durch die unterschiedlichen Sprachen war das Trommeln ein wichtiger Teil in der Kommunikation und der Bildung einer Gemeinschaft unter den SklavInnen.
4 Kleine Maroon-Gemeinden existieren bis heute, haben aber wenig Einfluss auf das gesellschaftliche Leben in Jamaika
5 “Befreie dich von der geistigen Sklaverei; Nur wir selbst können unser Denken befreien.“
6 Horace Campbell: Rasta and Resistance.
7 Die „Mau Mau“ kämpften gegen die britische Kolonialherrschaft in Kenia
8 „Menschen die nicht leiden können diese Musik nicht spielen. Es ist die Musik der sufferers. es ist Ghettosound, den wir mit unseren Instr. spielen, echter leidender Ghettosound; Er ist unbeschwert, ja, weil er befreit!“
9 “…drei Polizisten springen hervor, alle tragen sie Knüppel, kommen direkt auf mich und Jim zu, einer von ihnen hält Jim fest, Jim sagt sie sollen ihn gehen lassen, er hat nichts gemacht,…sie schlagen ihn in den Bauch und er wird zu Brei…“
10 „Sie plündern, sie schießen, sie klagen, in Shantytown, der „rude boy“ auf Bewährung lässt die Stadt hochgehen.“
11 „Steh auf in der Früh, schufte für Brot, damit jeder satt wird. Wir arme Israeliten.“
12 „Jmd. trauen ist ungerechtfertigt, weißt nicht wem du vertrauen kannst, dein schlimmster Feind könnte dein bester Freund, dein bester Freund dein schlimmster Feind sein. Manche sitzen und trinken mit dir und überfallen dich dann von hinten; nur dein bester Freund weiß dein Geheimnis und nur er kann es verraten.
13 „Das Babylonsystem ist der Vampir, saugt die Kinder aus, Tag für Tag. Das Babylonsystem ist der Vampir, fallendes Imperium, saugt das Blut der sufferers, baut Kirchen und Universitäten, um uns zu täuschen, bilden Diebe und Mörder aus. Pass auf: Sie saugen das Blut der sufferers.“
14 Jamaika musste mehrere Kredite aufnehmen. Die Auswirkungen sind in dem Film Life and Debt zu sehen.
15 Brian Richardson, Bob Marley: Roots Revolutionary, aus Socialist Review, Jänner 2005
16 „Warum behandelt ihr uns unmenschlich, nur weil wir Frauen sind? Behandelt uns nicht unmenschlich nur weil wir Frauen sind. Wir sind nicht schwach, wir sind stark; Wir haben uns viel zu lang zurückgehalten…“
17 „Willkommen zum Jamrock, arme Menschen sterben durch Willkür, politische Gewalt, deshalb Alte und Junge, erhebt eure Hände wenn ihr mit mir seid und euch das Leid krank macht“
18 „Sag mir Minister…wie lang hast du geglaubt, kannst du uns unterdrücken? sag mir Polizeisprecher…wie lang hast du gedacht, nehmen wir deinen Schlagstock hin? Sag mir Rechtsradikaler, wie lang hast du geglaubt werden wir kriechen und schreien? Es ist kein Geheimnis, wir machen Geschichte, es ist kein Geheimnis wir werden siegen.“





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