Artikel drucken Twitter Email Facebook

Ein neuer Imperialismus? – Tendenzen und Widersprüche europäischer Integration
von Mario Becksteiner, Michael Botka, Karin Hädicke

Die Europäische Union ist kein Friedensprojekt und dient nicht der Verbesserung unserer Lebensbedingungen – sie war von Anfang an ein Projekt der herrschenden Klassen Europas zur Durchsetzung gemeinsamer ökonomischer und geostrategischer Interessen in der globalen Konkurrenz. Die Tendenz zur wirtschaftlichen und politischen Integration Europas ist jedoch keine glatt ablaufende Entwicklung. Kapitalzentralisation auf europäischer Ebene und die Suche nach einer gemeinsamen militärischen Strategie sind ein umkämpftes Feld, auf dem Akkumulationsstrategien, politische Kräfte, Konzerninteressen etc. aufeinanderprallen und in ein konfliktreiches Verhältnis zueinander treten. Mario Becksteiner, Michael Botka und Karin Hädicke untersuchen diesen widersprüchlichen Prozess der Herausbildung eines europäischen Imperialismus.

Die Strukturen des europäischen Kapitalismus unterliegen heute einer tiefgreifenden Veränderung. An sich stellt das nichts Außergewöhnliches dar, im Gegenteil ist es eine Notwendigkeit des Systems, sich ständig zu restrukturieren, um nicht an den eigenen Widersprüchen zu zerbrechen. Dennoch bringen die aktuellen Tendenzen in Europa etwas qualitativ Neues mit sich. Wir sind heute ZeugInnen einer Entwicklung, die als politischer Ausdruck veränderter ökonomischer Bedingungen charakterisiert werden kann: Der Prozess der Zentralisation von Kapital in Europa hat zur Bildung transeuropäischer Konzerne geführt. Politisch stützt sich dieses „europäische Kapital“ nicht mehr nur auf die Nationalstaaten, sondern findet und schafft sich eine Ebene gesamteuropäischer Politik, die es ihr besser erlaubt, ein Europa nach seinem Bild zu schaffen. Als Ergebnis der wachsenden wechselseitigen Verflechtung des Kapital und der nationalen Ökonomien in Europa entsteht so ein Mehrebenensystem politischer Einflussnahme. Dieser Prozess kann die Basis für die Herausbildung eines originär europäischen Imperialismus sein.

Europäische Einheit – keine neue Idee

Schon lange vor der Europäischen Union gab es Bestrebungen verschiedener Kräfte und AkteurInnen in Europa, sich über die Grenzen des bürgerlichen Nationalstaates hinweg für gemeinsame Interessen zu verbünden. Eine Besonderheit war dabei, dass diese Ideen immer dann in den Vordergrund traten, wenn es weltweit zu Krisenphänomenen des kapitalistischen Systems kam. So tauchte die Idee eines vereinten Europas nach dem 1. Weltkrieg auf und erhält dieser Tage wieder Brisanz im Zeichen einer krisenhaften Entwicklung unter der Dominanz der neoliberalen Globalisierung.
Deutschlands herrschenden Eliten schwebte in den 1940ern eine europäische Gemeinschaft unter deutscher Führung vor. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland richtete die NSDAP die „Zentralstelle für europäische Großraumwirtschaft“ ein: „…Deutschland, in der Mitte des europäischen Kontinents gelegen, ist an erster Stelle verpflichtet, diese Aufgabe der Errichtung einer kontinental-europäischen Großraumwirtschaft nicht nur zu verkünden, sondern auch handelspolitisch-praktisch zu betätigen. Deutschland ist in dieser Hinsicht verantwortlich für Europa.“1 Der Hintergrund war das Bedürfnis, einen ähnlich großen, homogenen Binnenmarkt wie in den USA zu schaffen, in dem die Akkumulation von Kapital erleichtert würde und welcher die Basis zu weiterer Expansion darstellen sollte.
Nach dem Ende des 2. Weltkrieges rückten diese Vorstellungen zunächst in weite Ferne. Die USA konnte durch ihre Dominanz – sowohl militärisch als auch wirtschaftlich – die Entwicklung in Westeuropa ihren Interessen unterordnen. Sie unterstützten den Aufbau Westeuropas als Gegenmacht zu Osteuropa und konnten gleichzeitig ihren Produktionskapazitäten, welche nicht durch Zerstörungen des 2. Weltkrieges in Mitleidenschaft gezogen wurden, den dringend notwendigen Absatzmarkt beschaffen.

Die Ansätze europäischer Staaten zur Kooperation fanden in den Nachkriegsjahren auf wirtschaftlichem Gebiet statt. Durch die Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957 wurde die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet mit dem Ziel der Beseitigung von Handels- und Zollhemmnissen zwischen den einzelnen Staaten und der Gründung eines gemeinsamen Marktes. Gemeinsame außenpolitische oder gar militärische Durchsetzung der wirtschaftlichen Interessen europäischer Eliten außerhalb Europas konnte sich unter der US-Dominanz jedoch nicht entfalten bzw. wurde durch das transatlantische militärische Bündnis der NATO den Interessen der USA untergeordnet.

Union statt Kooperation

Die Veränderungen der wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse – welche durch die erste Nachkriegskrise 1973 zum Ausdruck kamen – brachten dem Projekt Europäische Union neue Aktualität. Die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus, die eine Weile durch den Nachkriegsaufschwung überdeckt wurde, stellte neue Herausforderungen.
Ein wichtiger Schritt zur Herausbildung eines europäischen Imperialismus war die Etablierung eines europäischen Währungssystems (EWS).
Ausgangspunkt war das Zusammenbrechen des Weltwährungssystems von Bretton-Woods im Jahr 1973. Das Abkommen von Bretton-Woods war im Jahr 1944 mit dem Ziel geschlossen worden, die reibungslosere Abwicklung des Welthandels bei festen Wechselkursen zu garantieren. Ein großer unbekannter Faktor bei der grenzüberschreitenden Realisierung von Profit konnte so aus der Gleichung genommen werden. Mit der Freigabe der Wechselkurse nach dem Ende von Bretton-Woods kristallisierte sich deshalb für einige große europäische Ökonomien eine instabile und unvorteilhafte Lage heraus. Das konnte kein Dauerzustand sein. Die Antwort war die Einführung des Europäischen Währungssystems 1979. Dabei gab es unterschiedliche Ausgangssituationen. Zwei Beispiele sollen das verdeutlichen:

Deutschland

Als wichtigste Ökonomie Kontinentaleuropas befand sich die BRD unter einem enormen Druck. Die Deutsche Mark „drohte“ zu einer zweiten Leitwährung zu werden. Die kontinuierliche Aufwertung der DM führte zur Verteuerung deutscher Exportgüter auf dem Weltmarkt und wirkte sich deshalb nachteilig auf die Konkurrenzfähigkeit aus. Teilweise konnte dieser Nachteil durch Modernisierung der Produktivkräfte und technisch hochwertige Produkte ausgeglichen werden. Eine weitere Aufwertung der DM hätte trotzdem zur Folge gehabt, dass das „Modell Deutschland“ weiter starkem Druck ausgesetzt gewesen wäre. Also war es das Interesse der Deutschen Bundesregierung, die DM aus der Rolle einer Weltleitwährung herauszuhalten. Dies sollte durch eine stärkere Bindung der DM an die schwächeren europäischen Währungen erreicht werden.

Frankreich

Als zweite wichtige Ökonomie in Europa war Frankreich ebenfalls treibende Kraft des EWS. Seine Ausgangslage gestaltete sich allerdings etwas anders. Die französische Ökonomie hatte mit einem massiven Modernisierungsrückstand zu kämpfen. Die Konkurrenzfähigkeit französischer Produkte konnte nur aufrechterhalten werden, in dem sie durch die „künstliche“ Abwertungspolitik des französischen Francs billig gehalten wurden. Das Problem war, dass so kein Anreiz für die französische Industrie geschaffen wurde, den Modernisierungsrückstand aufzuholen. Die Idee der konservativen Regierung Frankreichs war, durch eine stärkere Bindung des Francs an die DM die französische Industrie stärkerer Konkurrenz auszusetzen und sie so zu zwingen, sich dem Modernisierungsdruck des Marktes zu stellen. Im Grunde bedeutet dies, die Restrukturierung der Ökonomie nicht mehr unter der Regie der Politik zu betreiben, sondern der „unsichtbaren Hand“ des Marktes zu übergeben, die zwangsvermittelt die Konkurrenzfähigkeit herstellen sollte.

Die engere finanzpolitische Zusammenarbeit kam den verschiedenen Ausgangssituationen entgegen. Die Einführung des EWS 1979 mit festen, jedoch anpassungsfähigen Wechselkursen ermöglichte eine Zone der Währungsstabilität zwischen den teilnehmenden Ländern. Diese Wechselkursregelung sollte den Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den EG-Ländern vor Wechselkursrisiken bewahren.

Die Herausbildung des EWS zeigt, wie Veränderungen in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen eine konkrete Form von Politik – in diesem Fall die Finanzpolitik – annehmen, auch wenn diese scheinbar aus unterschiedlichen politischen Interessen angetrieben wird. Der Konservative Valéry Giscard d’Estaing war der wichtigste politische Akteur auf Seiten Frankreichs. Obwohl einem anderen politischen Lager zugehörig als der sozialdemokratische Bundeskanzler der BRD, Helmut Schmidt, konnten beide sich auf einen gemeinsamen Weg zum EWS einigen. Aufbauend auf der Verallgemeinerung eines zentralen Bereichs wirtschaftspolitischer Einflussnahme, nämlich der Finanzpolitik, setzte sich in Europa eine Dynamik durch, die an einer gemeinsamen europäischen Verwertungsstrategie orientiert war.

Motoren politischer Integration

Der Zusammenbruch des Ostblocks veränderte die Rahmenbedingungen nochmals. Die UdSSR als zweite Supermacht hinterließ ein Machtvakuum, das die Möglichkeit zur Neuaufteilung der Einflusssphären bot.
Die Expansion nach Osteuropa konnten die europäischen Staaten jedoch nur politisch koordiniert und als gemeinsames imperialistisches Projekt angehen.
In so genannten „Beitrittsverhandlungen“ wurden osteuropäische Länder in einen Wettlauf getrieben, der sie zwang, soziale Standards in unvorstellbarem Ausmaß abzubauen. Der Schaffung neuer Arbeitsplätze durch westeuropäische Konzerne ging ein massiver Arbeitsplatzabbau voraus. Im Endeffekt fließen alle Investitionen, die in Osteuropa angelegt wurden, als Gewinne in Milliardenhöhe nach Westeuropa zurück. Das Bank- und Versicherungswesen, industrielle Landwirtschaft und hochmoderne Produktionsketten sind in der Hand westeuropäischer Konzerne.
Die Osterweiterung ist ein Beispiel für internationalen Konkurrenzkampf um Märkte und Einflusszonen. Sie kann aber auch exemplarisch dafür stehen, welche Auswirkungen „Europäisierung“ auf Staaten hat. Die Staaten des ehemaligen Ostblocks wurden von autoritären Versorgungsstaaten zu Wettbewerbstaaten2, deren Hauptaufgabe darin besteht, bestmöglich Verwertungsbedingungen für europäisches Kapital zu schaffen.

Der Übergang von einer bipolaren zu einer multipolaren Weltordnung, in der mehrere Machtblöcke wirtschaftlich und geopolitisch um Macht und Einfluss konkurrieren, forcierte auch die militärische Hochrüstung innerhalb Europas.

„Eine harte Währung [Euro], die eine schwache Verteidigung hat, ist auf lange Frist keine harte Währung”3 – direkter kann der Zusammenhang zwischen Wirtschaftsinteressen und Militarisierung kaum ausgedrückt werden. Auch wenn weiterhin der Schwerpunkt der Zusammenarbeit auf wirtschaftlicher Ebene liegt, fällt einer gemeinsamen militärischen Politik eine größere Rolle zu.
Auch hierfür musste eine politische Form gefunden werden. Die NATO, in der die USA die dominierende Kraft sind, war demnach nicht die geeignete Plattform. Die beginnenden Bestrebungen, sich auch militärisch weniger abhängig von den USA zu machen, wurden unter anderem im „Vertrag über die Europäische Union“ festgehalten, der 1992 in Maastricht geschlossen wurde. Unter dem Schlagwort „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP) wurde festgelegt, dass zur EU „ …auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte.“4 Verträge allein reichen nicht, sondern die praktische Bestätigung dieses Anspruches musste ebenfalls entwickelt werden. Aus diesem Gesichtspunkt heraus spielt die Beteiligung von EU-Staaten bei der blutigen Zerschlagung von Jugoslawien eine wichtige Rolle. Während des Kosovo-Krieges 1999, den die USA gemeinsam mit EU-Staaten als NATO-Einsatz führte, wurde der Aufbau europäischer Streitkräfte beschlossen, die zukünftig unabhängig von den USA in der Lage sein sollten, militärische Interventionen durchzuführen. Die Kriege am Balkan sind daher treffend als „europäische Einigungskriege“ bezeichnet worden.5 Sie sollten darüber hinaus den osteuropäischen Staaten die militärische Stärke Europas demonstrieren und sie so für die spätere Osterweiterung auf Linie bringen.

Die ökonomische Basis für einen EU-Imperialismus

Begleitet wurden diese Anstrengungen von einem Prozess zunehmend engerer Verflechtungen und Zentralisationstendenzen des Kapitals, die die ökonomische Basis für die Herausbildung eines europäischen Imperialismus bildeten.
Während in Zeiten guter wirtschaftlicher Konjunktur eine Konzentration von Kapital beobachtet werden kann, die sich in einem innerbetrieblichen Wachstum von Unternehmen ausdrückt, verschiebt sich in Krisenzeiten die Entwicklung hin zur Zentralisation.

Konzentration von Kapital beruht darauf, dass es profitable Verwertungsmöglichkeiten des Kapitals gibt, d.h. dass der Profit gesteigert wird durch den Ausbau der Produktion in den Unternehmen selbst. Mit der sich verschärfenden Profitkrise in den 70ern wurden diese Möglichkeiten eingeschränkt. Deshalb bekam die Zentralisation von Kapital eine größere Bedeutung, d.h. dass der Akkumulationsprozess nicht mehr hauptsächlich über Produktion, sondern durch das Zusammenführen und Integrieren fremden Kapitals passiert. Fusionen und das Verschwinden kleinerer Unternehmen durch Aufkauf prägen das Bild.6

Der europäische Binnenmarkt war Konsequenz aus diesen Zentralisationsprozessen. Der Binnenmarkt bietet für das europäische Kapital zwei Möglichkeiten. Zum einen unterstützt er den Zentralisationsprozess. Zum zweiten können unterschiedliche soziale Standards dazu genützt werden, die Produktion wieder profitabler zu gestalten. Die Angleichung der Wettbewerbsbedingungen führt nicht zu einem „fairen“ Wettbewerb, sondern unterstützt kapitalkräftige Unternehmen darin, Fusionen durchzuführen und Konkurrenzunternehmen aufzukaufen. Diese Art von Zentralisierung ist die ökonomische Basis für einen Imperialismus, der sich mit der Europäischen Union entwickelt.
Die daraus entstandenen, in wichtigen Sektoren transnational orientierten Großkonzerne, brauchen die Möglichkeit, über nationale Grenzen hinweg politische Interessen zu formulieren und durchzusetzen.
Die EU-Institutionen entstanden also vor allem durch die Interessen der Großkonzerne und haben den Vorteil, nicht durch nationalstaatliche Aufgaben wie die Regulierung der Sozialstandards eingeengt zu sein. Das heißt, „dass das Kapital den einzelnen Staaten flexibler gegenübertritt und sich wichtige Politikformulierungs- und -durchsetzungsprozesse auf die Ebene internationaler Organisationen verlagern.“7

Die Nationalstaaten und die EU

Dadurch verlagern sich jedoch auch die Konflikte zwischen den europäischen Staaten in die Institutionen der Union. Die historisch gewachsenen unterschiedlichen Interessen und Ansprüche einzelner Staaten und ihrer Eliten verhindern immer wieder einen reibungslosen Fortschritt der EU und brachten sie auch schon an den Rand des Scheiterns. Beispiele aus der jüngeren Geschichte sind die Ablehnung der Verhandlungen zur ersten EU-Verfassung Ende 2003 durch Polen oder der Streit um das EU-Budget 2005.
Die beiden politischen Ebenen Nationalstaat und EU sollten jedoch nicht als konkurrierend betrachtet werden. Vielmehr sind beide dem massiven Druck der Optimierung der Wett-bewerbsbedingungen ausgesetzt. Das Kapital nutzt beide Ebenen, um für sich bestmögliche Bedingungen herauszuholen. Je nach Situation und Einflussmöglichkeit werden europäische oder nationalstaatliche Institutionen bemüht.
Weiterhin aufrecht bleibt die Konkurrenz der Konzerne der EU-Staaten untereinander. Fusionen und Übernahmen sind hart umkämpft. Nationale Regierungen greifen ein, wenn in ihren Ländern beheimatete Konzerne aufgekauft werden sollen. Ein Wirtschaftsexperte im EU-Parlament illustriert die widersprüchliche Situation: “Man erkennt momentan in einigen Staaten eine gewisse Schizophrenie. Solange man im Ausland kaufen kann, sind die Nationalstaaten, die nationalen Politiken, zufrieden und sehen das auch als eigene Stärke an. Sobald es aber umgekehrt kommt und jemand in diesen Markt möchte, greift man zu protektionistischen Mitteln, um dieses aufzuhalten nach dem Motto: Wir gehen auf Einkaufstour, aber nicht bei uns. … Das führt zu dieser absurden Situation, dass als jemand den Danone-Konzern aufkaufen wollte, die Spitzenpolitiker in Frankreich auf einmal Jogurt als ein nationales Kulturgut gekennzeichnet und hier eine entsprechende Abwehrschlacht vorbereitet haben.“8
Die Energiepolitik ist ein gutes Beispiel für die widersprüchliche Rolle von Nationalstaaten innerhalb der EU-Institutionen. Während sich Deutschlands Regierungschefin Angela Merkel auf der einen Seite gegen protektionistische Tendenzen ausgesprochen hat – “Wir müssen uns mit europäischen Champions abfinden, statt national zu denken. Der Binnenmarkt funktioniert nur, wenn wir Strom ohne Grenzen durch die Union schicken können, und auch Unternehmen nicht behindert werden.”9 – wurde auf nationaler Ebene eine Konferenz mit den Energiekonzernen abgehalten, unter anderem mit Frau Merkel und Vorständen der großen Energiekonzerne. Dort wurde betont, dass es für Deutschland darum gehe, eigene Konzepte zu entwickeln, um zu verhindern, dass die EU-Kommission auch nationale Zuständigkeiten übernimmt. Ein SPD-Politiker bringt beide Ansprüche zusammen: “Wir haben es mit einem bedeutenden Wirtschaftssektor zu tun. Wenn es Deutschland versteht, mit innovativen Techniken eine nachhaltige Energieversorgung aufzubauen, hat unsere Wirtschaft sehr gute Ausgangsbedingungen nicht nur auf dem heimischen Markt, sondern auch auf dem stark expandierenden Weltmarkt.”10

Dieser scheinbare Widerspruch findet sich auch auf militärischer Ebene. Es ist heute schwer vorstellbar, dass Nationalstaaten innerhalb der EU einen militärischen Konflikt austragen würden. Ebenso offensichtlich ist, dass die EU kein Nationalstaat ist. Innerhalb der EU-Grenzen verhindern politische Regularien und Verträge militärische Auseinandersetzungen; Interessen werden abgestimmt und ausgeglichen, auch wenn dies nicht immer den Vorstellungen und Wünschen aller Beteiligten entspricht. Die Herausbildung eines europäischen Imperialismus bedingt eben auch die innere Konstituierung von Kräfteverhältnissen, auf deren Basis eine gemeinsame aggressive Außenpolitik errichtet werden kann.

Politische Auswirkungen

Wie bereits gezeigt, gibt es innerhalb der EU Tendenzen, die die ökonomische Basis für einen genuin europäischen Imperialismus legen. Die Herausbildung einer politischen Ebene, die eine gemeinsame imperialistische Strategie formulieren und durchsetzen könnte, bleibt allerdings ein von Widersprüchen geprägtes Projekt.
Es ist gekennzeichnet durch enorme ökonomische Stärke, aber noch zu geringem militärischen Potential. Deshalb setzt die EU im internationalen Geflecht von Institutionen vor allem ihre wirtschaftliche Kraft zugunsten der europäischen Konzerne durch. Dieses Mehrebenensystem11 von internationalen Organisationen wie WTO und IWF ermöglicht es imperialistischen Blöcken, ihren Interessen auch sehr stark über marktvermittelte Strukturen Geltung zu verschaffen. Doch nicht nur durch internationale Organisationen passiert die Ausrichtung schwächerer Ökonomien auf die Bedürfnisse der europäischen Konzerne. Auch diverse Vertragswerke zwischen schwachen Staaten und der EU dienen in vielfacher Hinsicht diesem Zweck. So sind Schlagworte wie „gutes Regieren“ (good governance) in beinahe allen Vertragswerken zu finden. Mit „Gutem Regieren“ ist jedoch die Absicherung von europäischen Investitionen rund um den Globus gemeint. Im Kern verfolgen solche Verträge die Ausweitung der Einflusssphäre europäischen Kapitals.

Der Eindruck eines „zivilgesellschaftlichen“12 Imperialismus wäre trügerisch. Noch immer zählt im Fall der Fälle die militärische Potenz. In diesem Bereich hinkt die EU hinterher, auch wenn es hier Aufholbestrebungen gibt. Die Konflikte am Balkan, der Alleingang der USA und Großbritanniens im Irak und der von den westlichen Staaten propagierte Kampf gegen den Terror waren wichtige Katalysatoren für die militärische Weiterentwicklung der EU. Die Dominanz der USA im bisher tonangebenden militärischen Bündnis NATO stellte immer mehr ein Hindernis für die militärische Umsetzung europäischer Interessen dar. Der Aufbau von eigenen militärischen Kapazitäten rückt deshalb mehr und mehr ins Zentrum der Bemühungen der europäischen Eliten.
Die Bildung gemeinsamer militärischer Kommandostrukturen hat längst begonnen. Europäisch organisierte Einsatztruppen deuten auf eine weitere Integration und das Herausbilden gemeinsamer militärischer Strategien hin. Auch ein gemeinsamer militärisch-industrieller Komplex befindet sich im Aufbau, dessen Aushängeschild der Rüstungskonzern EADS und dessen Paradeprojekt der „Eurofighter“ ist.

Auch wenn die Herrschenden Europas optimistisch das Bild einer zukünftigen „globalen Supermacht“ zeichnen, bleibt die Herausbildung eines europäischen Imperialismus ein widersprüchlicher und konfliktreicher Prozess. Gerade deshalb ist die zentrale Herausforderung für die Linke in Europa, diese Entwicklung ernst zu nehmen und den europäischen Eliten konsequente antiimperialistische Politik entgegen zu stellen. „Der Widerstand gegen die Militarisierung und Hierarchisierung Europas ist nicht chancenlos, weil er sich auf die Interessen großer Teile der Bevölkerung an Frieden und sozialer Absicherung stützen kann.“13

Anmerkungen

1 Zit. nach Hofbauer, Hannes: Osterweiterung. Vom Drang nach Osten zur peripheren EU-Integration. Wien: Promedia 2003.
2 Vgl. Hirsch, Joachim: Materialistische Staatstheorie. Hamburg: VSA 2005.
3 Stützle, Walther, zit. in Oberansmayer, Gerald: Auf dem Weg zur Supermacht. Die Militarisierung der Europäischen Union. Wien: Promedia 2004.
4 EUV, Artikel J.1.4.
5 Oberansmayer a.a.O. 36.
6 nach Kisker, Klaus Peter: Kapitalkonzentration und die Rolle des Staates im Zeitalter der Globalisierung, in: Joachim Bischoff/Paul Boccara/Karl Georg Zinn u.a. (Hg.): Die Fusionswelle. Hamburg: VSA 2000. 78 ff.
7 Hirsch, a.a.O.
8 Deutschlandfunk, 23.03.2006, dradio.de.
9 Zit. im Standard, Ausgabe vom 23.03.06
10 Pressemitteilung BMU vom 15.03.2006
11 Das internationale Mehrebenensystem kann als Bearbeitungsversuch der sich zuspitzenden Widersprüche des globalisierten Kapitals verstanden werden. Die Macht der Organisationen entspringt dem stark international vernetzten kapitalistischen System. Hauptsächlich dient es der strukturell vermittelten Durchsetzung ökonomischer Interessen der kapitalistischen Zentren. Es ist aber auch Konfliktfeld auf dem rivalisierende Strategien der kapitalistischen Blöcke aufeinanderprallen.
12 In vielen Debatten um die Zukunft Europas wird heute fantasiert, Europa könne zu einem Modell friedlicher Integration für die Welt werden. Dabei werden ständig die zivilgesellschaftliche Komponente und der kooperative Charakter der EU ins Feld geführt. Auf internationaler Ebene setzt die EU allerdings auch handfeste ökonomische Interessen durch.
13 Oberamsmayer a.a.O. 135.





Artikel drucken Twitter Email Facebook