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Dimensionen der Rebellionen
von Felix Wiegand

Zum vierzigsten Geburtstag erscheint eine unüberschaubare Menge an Veröffentlichungen zu „1968“. Felix Wiegand stellt zwei Sammelbände vor, die oft vernachlässigte Dimensionen der Revolte in den Mittelpunkt rücken: „Weltwende 1968“ und „1968 und die Arbeiter“.

Es ist angerichtet. Schon lange bevor sich der vermeintliche Höhepunkt des Jahres 1968, der viel beschworene „Pariser Mai“, zum vierzigsten Mal jährt, ist das Thema „1968“ in aller Munde; ZeitzeugInnen erinnern sich, HistorikerInnen rechnen ab, Talkshowgäste äußern sich und Zeitungen bringen Doppelseiten. Die in diesen Debatten offenkundig vorherrschende Wahrnehmung von „1968“ als einem von (west-)europäischen und US-amerikanischen Studierenden ausgehenden, wenige Monate andauernden Phänomen zu korrigieren und das Bild eines anderen „1968“ zu zeichnen, haben sich zwei in ihrem Ansatz durchaus verschiedenartige Sammelbände zur Aufgabe gemacht: „Weltwende 1968. Ein Jahr aus globalgeschichtlicher Perspektive” und „1968 und die Arbeiter. Studien zum ‚proletarischen Mai‘ in Europa“, herausgegeben von Jens Kastner und David Mayer bzw. Bernd Gehrke und Gerd-Rainer Horn.

Leerstellen und Bausteine

Den differenziertesten Überblick über mögliche Deutungsmuster von „1968“ bietet dabei zunächst „Weltwende 1968“, machen die beiden in Wien lebenden Herausgeber in ihrer Einführung doch explizit die Verkürzungen und Leerstellen gängiger Interpretationen zum Ausgangspunkt für ihre eigenen Überlegungen. Statt also, wie im vorherrschenden Diskurs üblich, „1968“ auf „Studentenunruhen“ oder einen „Generationenkonflikt“ zu reduzieren und somit den Fokus allein auf ganz bestimmte gesellschaftliche Gruppen zu richten oder durch die Einschränkung auf Nordamerika und Westeuropa andere Weltregionen und Zusammenhänge jenseits nationalstaatlicher Grenzen zu übersehen, formulieren Kastner und Mayer das Vorhaben, insbesondere die Rolle der ArbeiterInnen in den Blick zu nehmen und dabei eine globalgeschichtliche Perspektive einzunehmen, die über bloße „Fallstudien-Addition“ hinausgeht. Ebenfalls gegen verbreitete Deutungs- und Erinnerungsmuster richtet sich ihr Verständnis von „1968“ als „Chiffre“ für „einen längeren Zeitraum verstärkter gesellschaftlicher Umbrüche, sozialer und politischer Mobilisierungen und intellektueller wie künstlerischer Erneuerung (…) – ein ‚transnational moment of change‘“ (10f.). Auch wenn über die genauen Grenzen ihrer konkreten Datierung von „1968“ – vom Beginn der kubanischen Revolution 1959 bis zum „Ölschock“ und dem Putsch gegen Allende in Chile 1973 – sicherlich zu streiten wäre, so erweist sich diese Periodisierung ob ihrer Breite schlussendlich ebenso als gewinnbringend wie der Wunsch, an die Stelle der mit den Worten „Erinnerung, Betroffenheit, Aufarbeitung und Abrechnung“ (8) treffend beschriebenen Form der gesellschaftlichen Debatte über „1968“ eine neue „Historisierung“ treten zu lassen. Eine solche, der „Distanz im Blick“ verpflichtete Perspektive könnte, so die Hoffnung von Kastner und Mayer, dazu beitragen, „1968“ für linke und emanzipatorische Debatten anschlussfähig zu machen und dabei jene, dem gesellschaftlichen Status quo verpflichteten Deutungsmuster zu durchbrechen, die „1968“ entweder neokonservativ zum Ausgangspunkt allen Übels erklären oder es als zwar notwendigen, in seiner Radikalität jedoch übertriebenen Beginn einer im Jahr 1989 und dem Ende der Geschichte kulminierenden Liberalisierungs- und Modernisierungswelle westlicher Gesellschaften identifizieren.

Bedingungen und Bewegungen

Gegen derlei Verkürzungen oder Kooptationsversuche – und leider nicht immer ganz im Einklang mit den hohen, von den Herausgebern formulierten Ansprüchen – wird „1968“ im Anschluss auf ca. 170 Seiten von insgesamt zwölf AutorInnen entlang von sechs bisher vernachlässigten Dimensionen als einem globalen und transnationalen Phänomen nachgegangen. Den Anfang macht dabei Marcel van der Linden, der die „rebellische Periode“ (23) um 1968 überblicksartig aus einem eher strukturorientierten, auf soziale und ökonomische Veränderungsprozesse fokussierenden Erklärungsansatz heraus untersucht und dabei Das Rätsel der Gleichzeitigkeit insbesondere im Hinblick auf das Zusammentreffen von studentischem Protest und Formen des Arbeitskampfes zu lösen versucht. Demnach lassen sich auf struktureller Ebene drei Faktoren ausmachen, deren Zusammenwirken „1968“ ermöglichte: das starke weltweite Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit und dessen langsames Erlahmen Ende der 1960er Jahre, die allgemeine Expansion des Bildungssektors sowie der sich nach 1945 rapide beschleunigende Prozess der Dekolonisierung. Die große Häufigkeit von Studierendenund ArbeiterInnenprotesten sowie ihr fast weltweites Auftreten in jener Zeit wären, so die Überlegung van der Lindens, aus der Verbindung dieser strukturellen Faktoren mit „externen“ Ereignissen wie der Kubanischen Revolution sowie mit wechselseitigen Lernprozessen der vielfach auch ideologisch transnational orientierten Bewegungen und Organisationen zu erklären. Im Gegensatz zu dieser schlüssigen These wirken van der Lindens knappe Überlegungen zu den Umständen, unter denen ein Zusammenkommen von Studierenden- und ArbeiterInnenprotesten „1968“ möglich bzw. wahrscheinlich war, indes etwas gar kurz geraten.
Jedenfalls scheinen sie kaum in der Lage, die Situation in jenen beiden Ländern zu erklären, die in „Weltwende 1968“ exemplarisch für die zweite, proletarische Dimension von „1968“ stehen und in denen Koalitionen zwischen StudentInnen und ArbeiterInnen tatsächlich eine bedeutsame Rolle spielten: Spanien und Italien. So zeigt Reiner Tossdorff unter dem Titel Proletarischer und studentischer Protest unter Franco. 1968 in Spanien, wie sich Studierenden- und ArbeiterInnenbewegungen hier bereits seit Mitte der 1950er Jahre in parallel verlaufenden Wellenbewegungen entwickelten und 1968 schließlich in gemeinsamen Aktionen mündeten. Auch wenn die spezifischen Bedingungen der Francodiktatur dabei auf das Aufkommen, die Form sowie den Verlauf der Kämpfe einen entscheidenden Einfluss hatten, so war umgekehrt weder die weite Verbreitung so genannter Arbeiterkommissionen noch der Umstand, dass im Hinblick auf deren Aktivitäten „das Jahr 1968 nur einen von mehreren Höhepunkten in einer aufsteigenden Phase [bildete]“ (202), auf Spanien beschränkt. Vielmehr treffen beide Charakteristika auch auf Das lange italienische 1968 zu, das Dario Azzellini in seinem Beitrag zu analysieren sucht. Stärker noch als in Spanien und anderswo gelang es hier in der Hochphase studentischen Protests 1967-69, diesen mit den v. a. in den Industriestädten Norditaliens auftretenden Fabrikkämpfen zu verknüpfen. Wie Azzellini nachzeichnet, waren es die in jener Zeit entstandenen autonomen ArbeiterInnenstrukturen, die ein Fortführen der Kämpfe in den von verschärfter Repression, terroristischen Anschlägen von Rechts und zunehmender Radikalisierung der ArbeiterInnen geprägten 1970er Jahren ermöglichten und zugleich zum zunehmend klandestinen Rekrutierungsfeld militanten Widerstandes wurden. Der im Zusammenhang mit autonomen Kampf- und Organisationsformen zentrale Einfluss des Operaismus oder auch die große Bedeutung sub- und jugendkultureller Praxen verweist – wenngleich von Azzellini in ihrem Verhältnis zur „alten“, parteiförmig und gewerkschaftlich organisierten Linken nur unzureichend analysiert – bereits auf ein drittes transnationales Moment von „1968“: die Neue Linke und das Auftauchen der sogenannten neuen sozialen Bewegungen.

Neue Linke

Unter dem Stichwort Wende im Geschlechterverhältnis? Feminismus und Frauenbewegung widmet sich zunächst Kristina Schulz dem Feminismus der 1970er Jahre und seiner ambivalenten Beziehung zur 68er Bewegung im engeren Sinn. Diese neue, zweite Frauenbewegung sei, so Schulz, mit Blick auf Inhalte oder organisatorische Ressourcen zwar durch „1968“ und die Neue Linke entscheidend mit auf den Weg gebracht worden, hätte jedoch mit ihrer lautstarken Kritik an der Reproduktion patriarchaler Strukturen bald den offenen Bruch mit den männlichen Bewegungsanhängern gesucht. Dass diese Abgrenzung v. a. in der von der Neuen Linken geprägten Form der Provokation stattfand, wertet Schulz umgekehrt wieder als Indiz dafür, „dass die Bedeutung von ‚1968‘ für die Entstehung der neuen Frauenbewegung kaum überschätzt werden kann“ (49). Unabhängig davon, welche konkrete Jahreszahl schlussendlich als „Geburtsstunde“ der neuen Frauenbewegung fungiert, wird doch deutlich, dass „1968“ hier eher den Beginn als das Ende einer Entwicklung markiert. Gänzlich anders verhält es sich demgegenüber mit dem Gegenstand von Albert Scharenbergs Artikel Die Bürgerrechtsbewegung in den USA. Nationale und internationale Aspekte ihrer Mobilisierung und Radikalisierung im Vorfeld von „1968“. Denn wie Scharenberg ersichtlich macht, erreichte der organisierte, breite Widerstand gegen die gesetzliche „Rassentrennung“ im Süden der USA ausgehend von dem sogenannten Montgomery Bus Boycott von 1955 ihren Höhepunkt bereits Mitte der 1960er Jahre in der zumindest teilweise erfolgreichen Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King. Und auch wenn es 1968 in Folge der Ermordung von King in vielen Städten zu gewalttätigen Aufständen der schwarzen Community kam, muss dieses Jahr selbst in Hinblick auf die in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre erstarkende, radikalisierte Black-Power-Bewegung als das Ende des Protestzyklus interpretiert werden. Warum die Bürgerrechtsbewegung trotz dieser nur bedingten Gleichzeitigkeit ein ganz zentraler Einflussfaktor von „1968“ wurde, illustriert Scharenberg an Malcolm X, der, indem er zwischen der Unterdrückung sozialer Gruppen in den kapitalistischen Metropolen des globalen Nordens und den antikolonialen Kämpfen im globalen Süden eine Verbindung herstellte, etwas von dem vorwegnahm, was aus der Sicht der Herausgeber von „Weltwende 1968“ ganz entscheidend zum transnationalen, globalen Charakters von „1968“ beitrug: die gemeinsame positive Bezugnahme auf den Antikolonialismus in Verbindung mit den realen Prozessen der Dekolonisierung.

Antikoloniale Aufstände

Diesen komplexen Zusammenhang ein Stück weit offen zu legen, macht sich David Mayer in seinem Beitrag Vor den bleiernen Jahren der Diktatur. 1968 in und aus Lateinamerika zur Aufgabe. Als Ausgangspunkt wählt er dabei die Kubanische Revolution, deren weltweite Anziehungskraft er v. a. darauf zurückführt, dass hier ein „prononciert internationalistisches Projekt mit universalen Ansprüchen“ begründet wurde, das als „Befreiungsverheißung für die gesamte Dritte Welt“ (150) nicht nur in den Ländern des globalen Südens als Vorbild dienen konnte, sondern auch den Phantasien der Neuen Linken in den kapitalistischen Metropolen einen konkreten Ausdruck zu geben vermochte. Dass die kubanische Revolution jedoch nicht einmal in Lateinamerika selbst eine tatsächliche Führungsrolle übernehmen konnte, verweise, so der Autor, umgekehrt auf den Charakter einer „Weltwende“, die angesichts der „Vielstimmigkeit der Akteure“ (147) ohnehin nie den Charakter einer Revolution im engeren Sinne gehabt habe. Gleichzeitig wäre es freilich falsch, „1968“ in Lateinamerika auf Kuba zu reduzieren. Denn wie Mayer abschließend darstellt, entstanden insbesondere während „1968 im engeren Sinne“, d. h. zwischen 1967 und 1969, auch in anderen Ländern des Kontinents eine Vielzahl von Protesten und Revolten, die etwa im argentinischen cordobazo oder in Mexiko durch die Verbindung von Studierenden- und ArbeiterInnnenprotesten überaus wirkungsmächtig wurden. Durchaus wünschenswert wäre ein solcher Überblick über die Situation in verschiedenen Ländern indes auch im Hinblick auf die Entwicklungen in Afrika gewesen, hat Amadou Lamine Sarrs Beitrag Mai 68 im Senegal. Fortsetzung des Unabhängigkeitsprozesses in Afrika? – anders als im Titel angekündigt – doch weitgehend den Charakter einer einzelnen Länderstudie. Denn auch wenn der Autor in Senegal lediglich ein Fallbeispiel für die Situation in jenen westafrikanischen Staaten zu sehen scheint, die in den 1960er Jahren trotz formaler Unabhängigkeit mit strukturellen Abhängigkeiten, neokolonialistischen Projekten europäischer Regierungen und beständigen gesellschaftlichen Krisen zu kämpfen hatten, so bleibt letztlich unklar, ob und wenn ja, wie und aus welchen spezifischen Problemkonstellationen heraus sich der Widerstand der lokalen Bevölkerungen im Rahmen eines „afrikanischen Mais 68“ (142) auch in anderen afrikanischen Ländern in derart massiver Art und Weise als de facto „Volksaufstand“ (141) artikulieren konnte wie im Senegal. Auch bleibt im Dunklen, wie und warum dort die zunächst v. a. von Studierenden getragene, sich in Folge einer Solidarisierungswelle unzufriedener SchülerInnen und ArbeiterInnen aber mehr und mehr verbreiternde Protestbewegung letztlich zum Erliegen kam.

Revolte im „Realsozialismus“

Dass sich diese Revolte im Senegal v. a. aus dem Gefühl eines uneingelösten Versprechens (in diesem Fall das der Dekolonisierung) speiste, verbindet sie indes mit jenen Entwicklungen und Umbrüchen, die „1968“ in Ost- und Südosteuropa stattfanden. Wie Boris Kanzleiter in seinem Text Die affirmative Revolte. 1968 in der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) betont, waren es hier die Versprechen des Kommunismus in seiner konkreten Ausformung des jugoslawischen „Modells“ selbst, die von der Protestbewegung – geprägt durch die Neue Linke – in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre gegen die bestehenden autoritär-hierarchischen Machtverhältnisse und die Privilegienwirtschaft der „roten Bourgeoisie“ eingefordert wurden. Obschon mögliche nichtstudentische Proteste und der tatsächliche Verlauf der Kämpfe unterbelichtet bleiben, wird die auf einer „Verschränkung der partikularen jugoslawischen Erfahrungen mit politischen und intellektuellen Impulsen aus dem Westen und Osten“ beruhende „Originalität“ (110) des jugoslawischen „1968“ in diesem Beitrag überaus anschaulich dargestellt. Dies mag auch daran liegen, dass Kanzleiter darauf verzichtet, „1968“
als „Generalprobe“ für den Systemwechsel von 1989“ (101) und damit den vermeintlich zwangsläufigen Zerfall Jugoslawiens zu interpretieren; dieser sei, so die Position des Autors, durch den Aufbruch der kritischen Intelligenz „1968“ letztlich zwar ermöglicht worden, wäre aber nicht die Intention der vor der „zersetzenden Mobilisierung des Nationalismus” (102f.) ohnehin warnenden AktivistInnen gewesen. Einen etwas anderen, näher am vorherrschenden Liberalisierungsdiskurs orientierten Erklärungsansatz verfolgt demgegenüber Dieter Segert, wenn er in seinem Beitrag über Prag 1968 die Entwicklungen jenes Jahres als die „Geburt der Zivilgesellschaft aus dem Inneren der Gesellschaft heraus“ (128) bezeichnet. Daher widmet er seine Aufmerksamkeit neben der Ebene der herrschenden Partei und des Staates, d. h. insbesondere dem von den Reformkommunisten um DubÄek vorangetriebenen sogenannten Aktionsprogramm, in erster Linie jener „lebendigen Öffentlichkeit“, die sich im Rahmen des Prager Frühlings ab März 1968 herausbilden konnte. Auch wenn Segert die mit diesem Prozess einhergehende Pluralisierung der gesellschaftlichen Akteure zurecht als Argument gegen die noch immer weit verbreitete These von der angeblich „totalitären“ Machtausübung im sogenannten Ostblock ins Felde führt, wird doch nicht so recht ersichtlich, wer diese Akteure genau waren und mit welchen inhaltlichen Forderungen sie die Formel vom „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ vor dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts eigentlich füllten.

Ideen der Befreiung

Als sechstem und letztem Themenblock widmet sich „Weltwende 1968“ schließlich der Rolle von Ideen, intellektuellen Praktiken und ihren AkteurInnen. Zunächst zeichnet Jens Kastner unter dem Titel Kunstproposition und Künstlerfaust. Bildende Kunst um 1968 nach, wie es Ende der 1960er Jahre parallel zur Politisierung der Gesellschaft und der Entstehung sozialer Bewegungen zu einer Radikalisierung künstlerischer Verfahren und Strategien kam und infolgedessen die vielfach herbeigesehnte „Versöhnung von politischer Avantgarde und Avantgardismus in Sachen Kunst und Lebenskunst“ (55) zum Greifen nahe schien. So gewannen nicht nur aus dem Feld der Kunst heraus aufgeworfene Fragen einen eminent politischen Charakter, sondern es entwickelten sich auch künstlerische Initiativen und Projekte, die explizit auf politische Themen Bezug nahmen oder sich von Anfang an gesellschaftspolitisch verorteten. Zudem gelang auch durch manche Aktionsformen oder die gemeinsame, kollektive Organisierung zumindest teilweise die Überwindung des strukturellen Gegensatzes zwischen dem Feld der Kunst und jenem der Politik. Eine solche Annäherung gesellschaftlich tendenziell getrennter Bereiche fand rund um „1968“ indes auch anderweitig statt: die Theologie der Befreiung: Medellín 1968 steht stellvertretend für jene Politisierung der Katholischen Kirche, die Martina Kaller-Dietrich mit Blick auf Lateinamerika verfolgt. Dabei zeigt die Autorin, wie die Theologie der Befreiung aus dem Zusammenspiel kircheninterner Entwicklungen, engagierter Theologen sowie dem Einfluss der ebenfalls aus Lateinamerika stammenden Denkschule der Dependenztheorie entstehen konnte und wie diese durch die Übersetzung der „theologischen Kategorie der Erlösung (…) in die politische Kategorie der Befreiung“ eine z. T. revolutionäre und militaristische Wirkmacht zu entwickeln vermochte. Da sowohl die Theologie der Befreiung als auch die Dependenztheorie jedoch neben ihrer „systemtranszendierenden“ immer auch eine „systemimmanente“ Dimension beinhalteten, waren beide, so das Fazit der Autorin, nicht in der Lage, die US-amerikanische und europäische Entwicklungspolitik in toto in Frage zu stellen und sich so der späteren Vereinnahmung zu entziehen. Um die mit einer solchen Vereinnahmung einhergehende Verbreitung und Universalisierung, letztlich aber auch Entleerung zentraler Begriffe und Kategorien geht es schließlich auch in Berthold Moldens Text Genozid in Vietnam. 1968 als Schlüsselereignis in der Globalisierung des Holocaustdiskurses. Der Autor entwickelt darin die These, dass im Hinblick auf die Genese eines universellen Menschenrechts- und Holocaustdiskurses das Jahr 1968 als ein „Schlüsseljahr“ (88) aufgefasst werden müsse. Wie Molden am Beispiel des von Jean-Paul Sartre geleiteten Russell-Tribunals illustriert, verband sich in den Jahren rund um „1968“ die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus mit nationalen Unabhängigkeitskämpfen und Prozessen der Entkolonialisierung sowie einer spezifischen Form marxistischer Kapitalismusanalyse auf derart spezifische Weise, dass in den Augen vieler linker Intellektueller das Herstellen einer Analogie zwischen dem Holocaust und dem US-Imperialismus in Vietnam legitim und notwendig erschien. Infolge der Verbreitung dieses relativistischen Vergleichs habe, so Molden in seinem Fazit, der Genozid-Begriff schließlich jenem universalen Wertekanon zugearbeitet, mit dem heute Angriffskriege legitimiert werden.

Globale Dynamiken

Nach diesem Ritt durch die einzelnen Beiträge von „Weltwende 1968“ stellt sich natürlich die Frage, ob dieser Sammelband mehr ist als die Summe der einzelnen Teile. Um es kurz zu machen: er ist. Denn das Konzept der beiden Herausgeber geht insofern auf, als die zwölf Texte, indem sie bisher unterbelichtete Aspekte zutage fördern, tatsächlich „den Blick verschieben“ und „1968“ als komplexes und mehrdimensionales Phänomen darstellen, das sich monokausalen Erklärungsmustern und platten Beurteilungsmaßstäben von vorne herein entzieht. Zugleich liegt in der offen gelegten Komplexität jedoch auch die Problematik der Herangehensweise des Sammelbandes: dort, wo das globalgeschichtliche Vorhaben seinen Ausdruck in der Hinwendung zu bis dato vernachlässigten Weltregionen und geographischen Orten (Afrika, Ost- und Südosteuropa, Lateinamerika) findet, werden diese angesichts der Kürze der Ausführungen notwendigerweise auf einzelne Länder reduziert, deren Repräsentativität für den jeweiligen Raum wiederum fragwürdig bleibt. Und dort, wo sich der Fokus bewusst auf globale Praxen und transnationale Akteure (Antikolonialismus, Neue soziale Bewegungen usw.), richtet, drohen diese die je spezifische, durch innergesellschaftliche Kämpfe und Kräfteverhältnisse oder bestimmte soziale Gruppen geprägte Dynamik einzelner Situationen zu überdecken und eine Gleichzeitigkeit und Homogenität von „1968“ zu suggerieren, die so nie existierte. Um dieser Falle – von der die Herausgeber freilich wissen, das beweist schon der gegen Wallersteins Begriff der „Weltrevolution“ gerichtete Titel ihres Buches –, zu entgehen, und in „1968“ dennoch mehr als „ein widersprüchliches Nebeneinander von ,Ungleichzeitigkeiten im Zusammenhang‘ und ,zusammenhangslosen Gleichzeitigkeiten‘“ (156) erkennen zu können, wird es in Zukunft wohl verstärkt vonnöten sein, sowohl Akteurs-, Länder- oder Regionalstudien im Weltmaßstab zu vertiefen, als auch eine vergleichende, transnationale wie transsektorale Perspektive weiter voranzutreiben.

Klassen und Kämpfe

Wenn „Weltwende 1968“ gerade für die Verbindung beider Aspekte einen zwar nicht perfekten, aber doch sehr viel versprechenden Ausgangspunkt darstellt, so legt demgegenüber „1968 und die Arbeiter. Studien zum ,proletarischen Mai‘ in Europa“ seinen Schwerpunkt ganz eindeutig auf die Analyse einer einzelnen sozialen Gruppe innerhalb einer klar umrissenen Region. Wie die beiden Herausgeber Bernd Gehrke und Gerd-Rainer Horn bereits in ihrer Einleitung unumwunden zugeben, krankt dieser Sammelband indes in mehrfacher Hinsicht an Verkürzungen und Auslassungen: so werden neben der soziologischen Untergliederung der ArbeiterInnenschaft oder der speziellen Rolle von MigrantInnen etwa geschlechterspezifische Fragen bestenfalls am Rande in die Untersuchungen miteinbezogen; diese Insensibilität gegenüber dem Thema der Geschlechterverhältnisse drückt sich nicht zuletzt in einem katastrophal niedrigen Anteil von Autorinnen aus. Gleiches muss im Übrigen für „Weltwende 1968“ gesagt werden. Vor dem Hintergrund des globalgeschichtlichen Ansatzes von Kastner und Mayer besonders bedauerlich ist auch, dass transnationale Zusammenhänge und Interaktionen – wiewohl in ihrer Wichtigkeit von den Herausgebern eingangs betont – in den einzelnen Beiträgen von „1968 und die Arbeiter“ kaum eine Rolle spielen. Einzig der den insgesamt drei, jeweils durch mehrere Texte repräsentierten Themenblöcken Deutschland, Mittel- und Osteuropa sowie Westeuropa vorangestellte Text Arbeiter und „1968“ in Europa: Ein Überblick von Gerd-Rainer Horn nimmt eine vergleichende Perspektive ein. Hier entwickelt der Mitherausgeber mit Blick v. a. auf Westeuropa zunächst den Begriff „proletarischer Mai“ als „Chiffre und Symbol für die gesamte Welle von Mobilisierungen der Arbeiterschaft“ (31), die, wie Horn anhand quantitativer Daten und qualitativer Veränderungen zeigt, 1962 ihren Ausgang nahm, sich ab 1968/69 zuspitzte und schlussendlich um das Jahr 1976 ein Ende fand. Wenngleich diese Mobilisierungswelle beinahe alle europäischen Länder erfasste – über mögliche, z.B. strukturelle Gründe hierfür erfährt der/die LeserIn leider nichts –, so dürfe von einem „proletarischen Mai“ im engeren Sinne jedoch nur in jenen Ländern gesprochen werden, „in denen die realexistierenden Arbeiterkämpfe maßgeblich das nationale politische Klima (mit)bestimmten“ (40), d.h. in Belgien, Frankreich, Italien, Portugal und Spanien einerseits und der Tschechoslowakei und Polen andererseits. Da diese Kämpfe in den Augen von Horn neben materiellen, die Arbeitszeit und den Reallohn betreffenden Verbesserungen insbesondere qualitative Veränderungen anstießen und das Selbstbewusstsein der ArbeiterInnen entschieden vergrößerten, gelangt der Autor zum Fazit, „dass die psychologischen Erfahrungen der Befreiung die allerwichtigste Errungenschaft der Jahre um 1968 war“ (49). Auch wenn an dieser Stelle zumindest ein kurzer Hinweis auf die Endogenisierung dieser „Revolution in den Köpfen“ (49) infolge der neoliberalen Restrukturierung des Kapitalismus ab Mitte der 1970er Jahre wünschenswert gewesen wäre, so ist dieser These mit Blick auf die folgenden dreizehn Analysen des „proletarischen Mai“ in Westeuropa zunächst zweifelsohne zuzustimmen.

Wilde Streiks in Deutschland

Den Anfang machen dabei vier Texte, die sich der Situation in Deutschland annehmen und in ihren unterschiedlichen methodologischen Zugängen, Zeithorizonten und sich z.T. widersprechenden Aussagen bereits als typisch für den Facettenreichtum von „1968 und die Arbeiter“ gelten können. Zunächst untersucht Peter Birke in seinem Beitrag Der Eigen-Sinn der Arbeitskämpfe. Wilde Streiks und Gewerkschaften in der Bundesrepublik vor und nach 1969, wie es den ArbeiterInnen in Westdeutschland zwischen dem Ende der 1950er und der Mitte der 1970er Jahre mittels der Transformation ihrer Streikkultur gelang, sich der Disziplinierung durch Gewerkschaften und staatliche Repressionsorgane teilweise zu entziehen. Obwohl sich im Rahmen wilder Streiks die Vielfalt und Differenziertheit der ArbeiterInnenschaft artikulieren konnte und es gelang, den Anspruch auf die Demokratisierung der Arbeitsbeziehungen offensiv zu vertreten, fällt das überzeugende Fazit Birkes doch ambivalent aus; schließlich waren die wilden Streiks z.T. durch Rassismus und nationalstaatliche Begrenztheit gekennzeichnet und brachten mit ihrem Angriff auf die „historische Fabrik“ (75) die Modernisierung kapitalistischer (Arbeits-)Verhältnisse mit auf den Weg. Vor dem Hintergrund dieser gelungenen Analyse der wilden Streiks mutet es zunächst überraschend an, wenn Karl Lauschke in Der Wandel in der betrieblichen und gewerkschaftlichen Interessensvertretung nach den westdeutschen Septemberstreiks betont, dass die Gewerkschaften „1968“ infolge der gesellschaftlichen Politisierung nicht nur einen massiven Mitgliederzulauf erfuhren, sondern sich auch von innen heraus zu wandeln begannen. Anhand eines Beispiels aus der gewerkschaftlichen Praxis wird jedoch deutlich, wie die Hinwendung zu gesellschaftspolitischen Fragestellungen und Forderungen entscheidend von einer neuen Generation von AktivistInnen und ArbeiterInnen in den Betrieben selbst ausging und nicht das Ergebnis einer erst von „oben“ oder von den protestierenden Studierenden von „außen“ angestoßenen Dynamik war. Scheint im Hinblick auf die Bundesrepublik die These, „1968“ wäre eine „Zäsur in den industriellen Beziehungen“ (77) gewesen, weitgehend unumstritten zu sein, so zeigen die beiden folgenden Beiträge, dass dies mit Blick auf die DDR offensichtlich keineswegs der Fall ist. Michael Hoffmann sieht, so macht er gleich zu Beginn seines Textes „Solidarität mit Prag“. Arbeiterproteste 1968 in der DDR deutlich, das Jahr 1968 in der DDR „nicht als Beginn einer Umwälzung oder kulturellen Bewegung und Öffnung“ (92). Vielmehr wären, so die These des Autors, die von ArbeiterInnen getragenen Proteste gegen die Unterdrückung des Prager Frühlings „das letzte Aufflackern eines autonomen Arbeiterprotests“ (ebd.) gewesen, in deren Folge neben dem traditionellen Arbeitermilieu auch die gelegenheitsorientierten, unqualifizierten ArbeiterInnen keinen Widerstand gegen die DDR-Führung mehr geleistet hätten. Dieser Deutung der ArbeiterInnenschaft als letztlich kulturell und ökonomisch inkorporierten und daher befriedeten Klasse widerspricht nun Bernd Gehrke in seinem Beitrag vehement. 1968 – das unscheinbare Schlüsseljahr der DDR sei demnach vielmehr als „Kreuzungs- und Umschlagpunkt zweier entgegenlaufender Entwicklungslinien des gesellschaftspolitischen Konfliktverhaltens der Arbeiterschaft“ (103) zu begreifen. Wenngleich der Autor mit Hoffmann noch insofern übereinstimmt, als auch er den Protest gegen den Einmarsch in der ÄSSR als das „letzte, rudimentäre Aufbäumen eines traditionellen Arbeiterwiderstandes in der DDR“ (104) auffasst, so interpretiert er bereits diesen Protest im Unterschied zu Hoffmann als von einer „grundsätzlichen Distanz der Arbeiterschaft zum SED-Regime“ (106) geprägt. Vollends offenbaren sich die gegensätzlichen Einschätzungen der beiden Autoren, wenn Gehrke mit dem Ende des traditionellen Arbeiterwiderstandes neue, außerbetriebliche Formen des Kampfes und Protestes aufblühen sieht. Insbesondere in den verschiedenen Jugendkulturen und deren regelmäßigen Konflikten mit der Staatsmacht erkennt er die „antifordistische Revolte“ (104) einer jungen, nach persönlichen Freiheiten und besseren Arbeitsbedingungen strebenden Generation.

Im Osten was Neues?

Ob es diesen entlang der Generationen verlaufenden Bruch zwischen unterschiedlichen Protestformen auch in Mittel und Osteuropa gegeben hat, lässt sich anhand der je zwei Beiträge zur Tschechoslowakei und Polen nicht generell ausmachen. Wie Peter Heumos in seiner Langzeitstudie Betriebsräte, Betriebsausschüsse der Einheitsgewerkschaft und Werktätigenräte. Zur Frage der Partizipation in der tschechoslowakischen Industrie vor und im Jahr 1968 nachzeichnet, agierten jungen ArbeiterInnen in der Tschechoslowakei 1968 im Rahmen einer langen, von Widerständigkeit gegenüber Partei- und Gewerkschaftsführung geprägten Tradition betrieblicher Selbstorganisation. Da ihr kollektiver Gleichheitsanspruch dem Modernisierungsprogramm der Reformkommunisten entgegen stand, geht der Autor von einer gewissen, durch die „Überintegration in das betriebliche soziale Milieu“ (159) verstärkten Distanz der ArbeiterInnenschaft zur Bewegung des Prager Frühlings aus. Demnach wäre auch die Begeisterung, die das im Aktionsprogramm angestoßene System der „Werktätigenräte“ (153) auch bei ArbeiterInnen auslöste, mehr auf dessen symbolische Bedeutung für die Reform der Einheitsgewerkschaft und die nationale Souveränität denn auf ein tatsächlich organisches Verhältnis von ArbeiterInnenschaft und kommunistischer Partei zurückzuführen. Demgegenüber nimmt der Beitrag von Lenka Kalinová, in dem sie Das Verhalten der tschechischen Arbeiterschaft im Jahre 1968 zu ergründen versucht, eine v. a. hinsichtlich der Reformkommunisten weit weniger kritische Perspektive ein. Nach einer überblicksartigen Darstellung der langfristigen Entwicklungen nach dem zweiten Weltkrieg, des Verhältnisses der (tschechischen) ArbeiterInnenschaft zur KP sowie der wirtschaftlichen und sozialen Reformen der Jahre vor 1968 konzentriert sie sich im weiteren Verlauf des Textes auf den Prager Frühling und den ihrer Meinung nach existierenden Konsens zwischen ArbeiterInnenschaft und Reformkommunisten. Leider wird an dieser Stelle das Verhältnis der ArbeiterInnen zu anderen gesellschaftlichen Gruppen (etwa den Studierenden) nur am Rande und in etwas gar pathetisch-affirmativen Worten thematisiert, so dass die abschließenden Ausführungen zur Frage, „wie die Arbeiterschaft die ‚Erneuerung der alten Ordnung‘ zulassen konnte“ (181) an einer verengten Perspektive kranken. Einen demgegenüber weiteren Blick legt Andrea Genest an den Tag, die in ihrem Text Zwischen Anteilnahme und Ablehnung – die Rollen der Arbeiter in den Märzereignissen 1968 in Polen drei miteinander verflochtene Ebenen für den konkreten Verlauf dieser Märzereignisse verantwortlich macht: demnach führte ein Machtkampf an der Spitze der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei dazu, dass auf studentische Proteste gegen Zensur und für eine Demokratisierung des Systems vom Regime im März 1968 nicht nur mit harten Repressionsmaßnahmen, sondern auch durch das Lostreten einer beispiellosen antisemitischen Hetzkampagne reagiert wurde. Im Verlauf dieser studentischen Proteste nahmen die ArbeiterInnen eine, so Genest, überaus ambivalente Rolle ein, waren sie doch sowohl an der Unterstützung als auch der Niederschlagung dieser Proteste beteiligt. Dass es trotz entsprechender Versuche der Studierenden nicht gelang, auf breiter Basis Koalitionen mit den ArbeiterInnen zu schmieden, führt die Autorin auf soziale Differenzen, die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Generation sowie die besonders bei älteren ArbeiterInnen erfolgreiche antisemitische Kampagne der Regierung zurück. Warum der politische Protest mit der Niederlage vom März 1968 jedoch keineswegs zu einem Ende kam und warum es gerechtfertigt scheint, auch in Polen von einem „proletarischen Mai“ zu sprechen, versucht demgegenüber Marcin Zaremba mit dem Konzept der „relativen Benachteiligung“ zu erklären. In Am Rande der Rebellion. Polnische Arbeiter am Vorabend des Arbeiteraufstandes im Dezember 1970 weist er mit Blick auf die wirtschaftliche und demographische Lage zwischen 1956 und 1970 anhand der konkreten Aussagen von ArbeiterInnen nach, dass sich in dieser Periode insbesondere bei jungen ArbeiterInnen neue, maßgeblich durch weltweite kulturelle Trends geprägte Erwartungen und Ansprüche an Arbeit und Leben herausbildeten, die angesichts der Realität in Polen notwendigerweise enttäuscht werden mussten. Die hieraus erwachsenden Frustrationserlebnisse wären, so die These Zarembas, einer der zentralen Gründe für den Ausbruch der ArbeiterInnenunruhen an der Ostseeküste gewesen, die im Dezember 1970 infolge eines Militäreinsatzes 45 Menschen das Leben kosteten.

Kämpfende Koalitionen

Eine derartige Eskalation war in Belgien – jenem Land, dem sich der erste von insgesamt fünf Beiträgen zu Westeuropa widmet – undenkbar. In Mai ‘68 und die Welt der Arbeiter in Belgien zeigt Rik Hemmerijckx, warum nationale Besonderheiten eine Ausdehnung des französischen Generalstreiks auf Belgien grade 1968 verhinderten und wie sich dennoch ab 1969 eine Welle von wilden Streiks entwickeln konnte, die nicht nur wie anderswo hauptsächlich von jungen ArbeiterInnen und MigrantInnen getragen wurde, sondern teilweise auch in die Bildung selbstorganisierter ArbeiterInnenkomitees mündete. Wenngleich diese wilden Streiks ebenso wie verschiedenste studentische Interventionen gesamtgesellschaftlich ein Randphänomen blieben, übte „1968“ in den Augen von Hemmerijckx zumindest auf die Gewerkschaften einen maßgeblichen Einfluss aus, hätten diese in der Aufnahme von Forderungen aus der Protestbewegung doch ein erfolgreiches Mittel zur Überwindung ihrer eigenen Krise gefunden. Ein ähnliches Interesse an der systemerhaltenden Wirkung von Inkorporationsstrategien wäre dem Beitrag von Frank Georgi sicherlich zugute gekommen. So aber bleibt Selbstverwaltung: Aufstieg und Niedergang einer politischen Utopie in Frankreich von den 1968er bis zu den 80er Jahren ein zwar ideengeschichtlich spannender, darüber hinaus aber etwas unbefriedigender Blick auf die Karriere des Begriffs autogestion. Wie Georgi nachzeichnet, entwickelte dieser sich – maßgeblich getragen von der Gewerkschaft CFDT – ab Mitte der 1960er Jahre zur universalistischen Formel für die Idee einer „realistischen Utopie“ (258) und schließlich zum „Kennwort“ (260) der Revolte vom Mai 1968. Obwohl es gleichzeitig kaum zu einer Konkretisierung der Idee im Sinne einer flächendeckenden Selbstorganisation von ArbeiterInnen kam, nahm in den 1970er Jahren nicht nur die Popularität des Begriffs weiter zu, sondern wurde auch der Geltungsbereich der Selbstverwaltung zunehmend auf alle Aspekte des sozialen Lebens ausgeweitet. Die Frage, warum die ihrer wirtschaftlichen und z.T. auch marxistischen Dimension nun zunehmend entkleidete Idee dann in den 1980er Jahren einen rapiden Niedergang erlebte, hinterlässt den Autor demgegenüber weitgehend ratlos; hier könnte z.B. Gramscis Konzept der „passiven Revolution“ zweifelsohne Antworten liefern. Einen im Vergleich zu Georgi eher historisch-konkreten Ansatz wählt Reiner Tosstorff, dessen Text Spanien: 1968 und die Arbeiter – eine andere Bewegung? im Wesentlichen eine komplexe, mit Einzelheiten und Statistiken angereicherte Version seines Beitrags in „Weltwende 1968“ darstellt. Auch die Ausführungen von Marica Tolomelli und Vittorio Rieser zu Italien wiederholen manches, was so schon in Dario Azzellinis Text zum langen italienischen 1968 zu lesen war. Dass es trotzdem lohnend ist, sich Studenten und Arbeiter 1968 in Italien. Möglichkeiten und Grenzen eines schwierigen Verhältnisses sowie Studenten, Arbeiter und Gewerkschaften in Italien zwischen 1968 und den 1970 Jahren zu Gemüte zu führen, liegt an der im Vergleich zu Azzellini ungleich feineren Analyse, der Tolomelli und Rieser die einzelnen Akteure und die gesamtgesellschaftlichen Voraussetzungen in Italien unterziehen. Insbesondere die detaillierte Darstellung der italienischen Arbeitswelt, der Gewerkschaften sowie der theoretischen Ausrichtung und aktivistischen Praxis der radikalen Linken weiß hier zu überzeugen.

Proletarische Potentiale

Diese beiden abschließenden Beiträge zu Italien stehen dabei zugleich stellvertretend für eine große Stärke von „1968 und die Arbeiter“. Indem sie das Verhältnis von Studierendenrevolte, ArbeiterInnenprotesten und gewerkschaftlicher Organisierung in seiner ganzen Komplexität und Widersprüchlichkeit abbilden, entziehen sie jenen Deutungen den Boden, die in „1968“ ausschließlich den Aufbruch einer neuen, nicht gewerkschaftlich organisierten Linken sehen möchten und dabei die vielfältigen Verbindungslinien und Kontinuitäten zwischen „alter“ und „neuer“ Linken ausblenden. Da die Analyse derart komplexer Zusammenhänge die genaue Kenntnis der je spezifischen, oftmals von nationalen Dynamiken geprägten Situationen nötig macht, entfaltet der Sammelband hier – selbstredend v. a. im Hinblick auf die Rolle der ArbeiterInnen – sein stärkstes Potential. Dass es ihm zugleich an einer wirklich transnationalen und vergleichenden Perspektive mangelt und so manches Mal der Eindruck einer bloßen Addition kleinteiliger Länderstudien aufkommt, wurde schon angesprochen und auch von den Herausgebern als Defizit erkannt. Doch auch wenn infolgedessen zentrale Fragen – etwa nach dem Grad der Vernetzung und Kommunikation zwischen den nationalen ArbeiterInnenprotesten oder nach dem Einfluss des von Kastner und Mayer betonten Internationalismus auf die ArbeiterInnenschaft – unbeantwortet bleiben, so trägt „1968 und die Arbeiter“ maßgeblich dazu bei, die Auseinandersetzung mit „1968“ im deutschsprachigen Raum um eine zentrale Perspektive zu erweitern. Dies ist kein geringer Verdienst, öffnet doch gerade der Fokus auf die Rolle der ArbeiterInnen, auf Betriebsbesetzungen, selbstorganisierte ArbeiterInnenkomitees oder Formen militanten Widerstandes den Blick auf die Radikalität von „1968“. Erst so wird begreiflich, wie breit der Möglichkeitshorizont war, der sich damals eröffnete, und wie weit wir heute davon entfernt sind.

Kastner, Jens/ Mayer, David (Hg.): Weltwende 1968? Ein Jahr aus globalgeschichtlicher Perspektive, Wien 2008

Gehrke, Bernd/ Horn, Gerd-Rainer (Hg.): 1968 und die Arbeiter. Studien zum „proletarischen Mai” in Europa, Hamburg 2007





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