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Die Gleichzeitigkeit der Revolte
von Marcel van der Linden, Veronika Duma

Veronika Duma sprach mit dem Sozialhistoriker Marcel van der Linden über die globalgeschichtliche Perspektive auf 1968, die Zusammenhänge von ArbeiterInnen- und Studierendenrevolte und die Bedeutung der Chiffre 1968 für die Linke heute.

In dem Sammelband „Weltwende 1968“ beleuchtet ihr das Jahr 1968 aus globalgeschichtlicher Perspektive. Warum ist es gerechtfertigt – bei aller Vielfalt und Ungleichzeitigkeit der Ereignisse um 1968 – von einem globalgeschichtlichen Ansatz auszugehen bzw. gegen welche anderen Deutungen und Herangehensweisen richtet sich der globalgeschichtliche Ansatz?

Was auffällt ist, dass es um 1968 überall in der Welt zu einem Aufleben des Protestes von Studierenden und von ArbeiterInnen kam – wir sehen 1968 dabei als eine Chiffre, die ungefähr eine Periode zwischen 1965 und 1975 bezeichnet. Das kann Zufall sein, das ist möglich. Aber ich gehe davon aus, dass es kein Zufall ist, sondern dass es ursächliche Zusammenhänge gibt, die untersucht werden müssen, um diese Gleichzeitigkeit zu erklären. Die traditionelle Geschichtsschreibung beschränkt sich nur auf den nordatlantischen Raum. Es gibt viele Zwei-Länder-Vergleiche, wobei sich diese hauptsächlich mit Ländern wie den USA, England, Frankreich, Deutschland oder Italien beschäftigen. Sehr selten kommt vielleicht noch Japan hinzu, aber Lateinamerika, Afrika oder große Teile Asiens kommen in der Analyse eigentlich nicht vor. Dann sieht man diese Gleichzeitigkeit, diese globalen Gegebenheiten gar nicht, und folglich werden diese auch nicht zu einer Frage. Insofern kann man den Sammelband auch als Intervention verstehen, als Versuch zu zeigen, dass es dieselben Entwicklungen auch in anderen Teilen der Welt gegeben hat. Dadurch kann eine neue Sicht auf diese Periode entstehen.

Wie schon angesprochen wird 1968 in diesem Buch als Chiffre gehandhabt, die für einen längeren Zeitraum gesellschaftlicher Umbrüche, Rebellionen und politischer Mobilisierung steht. Auf die Frage, wie weit dieser Zeitraum gefasst werden soll, gibt es unterschiedliche Antworten, die nicht zuletzt Rückschlüsse auf die allgemeine Deutung von 1968 zulassen. Welche Periodisierung würden Sie vorschlagen, und warum?

Ich habe mich an der Frage orientiert, wann sich das Aufleben der Proteste denn eigentlich transkontinental artikuliert hat. Ich würde sagen, dass dies in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre deutlich wird. Als eines der allerersten Anzeichen wäre da vielleicht das „Mississippi Summer Project“ in den USA 1964 zu nennen. Von diesem Zeitpunkt an nimmt die Intensität der Proteste zu. Es gibt vergleichende Studien über Streikverhalten, aus denen hervorgeht, dass in dieser Periode in vielen Teilen der Welt ein Aufleben von ArbeiterInnenkämpfen sichtbar wird. Gleichzeitig gibt es sehr viele studentische Bewegungen, ebenfalls zuerst wieder in den USA und später dann in anderen Teilen der Welt. In Mexiko z.B. werden 1968 mindestens fünfzig StudentInnen von der Polizei ermordet; in Argentinien kommt es 1969 zu dem so genannten Cordobazo, bei dem die Stadt Córdoba von ArbeiterInnen in Zusammenarbeit mit StudentInnen zu einem befreiten Gebiet erklärt wurde. So zeichnet sich eine Welle ab, die etwa 1974/75 abebbt – um 1976 ist es dann vorbei. In Europa sieht man das z.B. an dem veränderten Streikverhalten, aber auch an Niederlagen der sehr maßgeblichen radikalen Linken, etwa in Italien mit den Wahlen von 1976. Die Periodisierung bleibt immer ein bisschen willkürlich, weil jeder Protest natürlich seine Vorgeschichte hat. Es gibt eigentlich keine richtig guten Kriterien und Maßstäbe die man verwenden kann, um zu sagen: „genau da hat die Bewegung angefangen“. Aber weitgehend besteht Einigkeit darüber, 1968 als Chiffre für eine Periode von etwa acht bis zehn Jahren zu verstehen.

Der Titel Ihres Beitrages lautet: „1968: Das Rätsel der Gleichzeitigkeit“. Welche Erklärungsansätze schlagen Sie vor, um die Synchronität, um 1968 im Weltmaßstab zu begreifen?

Erstmal möchte ich sagen, dass mein Aufsatz sehr tentativ ist und eine genauere Analyse erst noch vorgenommen werden müsste. Ich würde drei Faktoren vorschlagen, die uns helfen könnten, 1968 im Weltmaßstab zu verstehen. Erstmal gibt es eine weltweite Expansion des Bildungssektors. Die Länder mit wenig wirtschaftlichem Wachstum erlebten ebenso eine Expansion des Bildungssektors wie die reichen, avancierten kapitalistischen Länder. Es gibt verschiedene Ansätze zur Erklärung, warum das so sein könnte. Immer mehr Leute werden alphabetisiert, die Zahl der SchülerInnen an den Gymnasien steigt und die Universitäten expandieren. Die Expansion des Bildungssektors hat mehrere Auswirkungen: wenn die relative Zahl der Studierenden sehr stark zunimmt, dann nimmt natürlich auch ihre gesellschaftliche Bedeutung zu. Das zweite ist, dass durch diese Expansion ganz neue Gesellschaftsschichten in der Universität vertreten sind. Als es noch die kleinen Eliteuniversitäten gab, waren die meisten Studierenden Kinder von Studierenden. Aber in den späten 50er und 60er Jahren sieht man weltweit, dass immer mehr Kinder aus anderen Schichten auch auf die Unis kommen. Diese haben oft ein anderes Verhältnis zum Studium als AkademikerInnen. Damit hängt auch die Entwicklung eines gewissen gewerkschaftlichen Bewusstseins zusammen. In vielen Ländern kommt es zur Bildung von StudentInnengewerkschaften. Die älteste ist natürlich die Unef in Frankreich. Auch in Holland, in vielen romanischen Ländern, in Lateinamerika oder in Teilen Südostasiens hat es solche Gewerkschaften gegeben. Durch die Massifizierung der Universitäten wurden die Verhältnisse immer mehr anonymisiert. In einer Eliteuniversität war es normal, dass ein Professor seine StudentInnen alle persönlich kannte. Es gab auch immer nur ganz wenige Studierende um den Professor herum. Es gab vielleicht noch einen Assistenten, aber noch keine Zwischenschicht, wie sie später, mit dem Wachsen der Universitäten entstanden ist. Zwischen den Professoren und den Studierenden befindet sich eine Schicht von DozentInnen, a.o. Professoren, wie sie in Österreich heißen, usw. Es kommt zudem zu Quantifizierungen, Formalisierung und zu einer Anonymisierung. Die Uni erhält immer mehr einen betrieblichen Charakter. Dann wird auch ein gewerkschaftliches Verhalten naheliegender.
Der zweite Faktor, den ich in Betracht ziehe, ist die wirtschaftliche Entwicklung. Nach dem zweiten Weltkrieg kam es zu einer langen Welle wirtschaftlichen Wachstums. Das gilt sowohl für die hoch entwickelten kapitalistischen Länder als auch für die weniger entwickelten kapitalistischen Länder. Das gilt ebenso für den so genannten realen Sozialismus. Das Wirtschaftswachstum hielt bis Anfang der 60er Jahre an, würde ich sagen. Das war ein weltweites Phänomen. Mit dem Anstieg des Wohlstands ging dann beispielsweise die Entwicklung einer neuen Konsumorientierung einher. Es entstand auch zum ersten Mal in der Geschichte eine Jugendkultur. Auf einmal gab es spezielle Kleidung und Musik für Jugendliche – vor 1960 war das alles nicht so. Die Jugendlichen entwickelten ihre eigenen Subkulturen. Ein anderer Aspekt ist, dass, wenn das Wirtschaftswachstum anhält, die Erwartungen bezüglich Lohnerhöhungen und wachsendem Wohlstand steigen. Wenn diese dann enttäuscht werden, kann große Unzufriedenheit entstehen. Mitte der 1960er Jahre sehen wir die ersten Anzeichen einer Krise im Akkumulationsprozess. Die Krise mag dazu beigetragen haben, dass es weltweit eine Intensivierung der Arbeitskämpfe gegeben hat. Natürlich spielen auch die Arbeitsverhältnisse im Fordismus, die von Anonymisierung und Formalisierung gekennzeichnet sind, eine Rolle.
Der letzte Faktor, den ich nenne, ist die Dekolonisation und ihre Auswirkungen. Der Prozess der Dekolonisation ging mit der Entstehung von Studierendenbewegungen in Afrika, Asien usw. einher. Gleichzeitig wurden StudentInnen in den reicheren Ländern von den verschiedenen Rebellionen inspiriert, von Che Guevara, den Befreiungsbewegungen in Mosambik, von der Kubanischen Revolution – David Mayer schreibt darüber in diesem Sammelband. Vor allem in Lateinamerika spielte diese Revolution eine wichtige Rolle. Auch die chinesische Kulturrevolution hatte weltweite Auswirkungen. Von vielen Menschen im Westen wurde sie falsch interpretiert und als anti-bürokratischer Massenkampf verstanden. Schon Mitte der 1960er Jahre gab es in vielen Teilen der Welt maoistische Gruppen, die sehr aktiv waren. Dazu zählen etwa die Naxaliten in Indien. Die Gruppe hat sich 1967 in dem Dorf Naxalbari gegründet. Auch in Sri Lanka gab es Maoisten…
Alle diese Entwicklungen und Ereignisse kulminierten im Jahre 1968: es gab den Pariser Mai, den Prager Frühling, die Tet-Offensive in Vietnam, das Massaker in Mexiko usw.

In der allgemeinen Erinnerung wird das Jahr 1968 meist mit StudentInnenrebellionen in Verbindung gebracht. In Ihrem Artikel betonen Sie vor allem die proletarische Dimension von 1968. Wieso erhielten die ArbeiterInnenkämpfe bisher so wenig Aufmerksamkeit und warum ist es wichtig, diesem Aspekt größere Beachtung zu schenken?

Also ich glaube, Intellektuelle schreiben gerne über Intellektuelle. So wie JournalistInnen gerne über JournalistInnen schreiben. Oft sind die Ereignisse um 1968 Teil ihrer eigenen Autobiographie. Ich meine, dass man nicht über den Pariser Mai schreiben kann, wenn die ArbeiterInnenkämpfe im Mai, Juni 1968 nicht erwähnt werden. Das wäre eine Verzerrung der Wirklichkeit. Das gleiche gilt natürlich für den heißen Herbst in Italien 1969 usw.

Sie betonen, dass es in manchen Ländern zu einem Zusammenschluss von ArbeiterInnen und StudentInnen kam und in anderen nicht. Was könnten Gründe dafür sein, dass unter bestimmten Umständen Koalitionen zwischen StudentInnen und ArbeiterInnen möglich waren und unter anderen Umständen nicht?

Es gibt viele Faktoren, die da eine Rolle spielen. Ein Aspekt betrifft die Kommunikation der Studierenden mit den ArbeiterInnen. Es gibt empirische Hinweise darauf, dass StudentInnenbewegungen, bei denen ein großer Anteil der Studierenden aus der Unterschicht kommt, sich eher mit ArbeiterInnenkämpfen verbinden. Die Forderungen von Studierenden werden je nach ihrer gesellschaftlichen Lage unterschiedlich sein. Wenn StudentInnen aus ArbeiterInnenmilieus oder Bauernmilieus kommen, werden sie im Allgemeinen auch umso eher praktische Interessen in den Vordergrund stellen, etwa die Organisation des Studiums, die Kosten, die Studiengebühren usw., während aus den höheren Milieus ganz andere, etwas freischwebende Kritik kommt. Auf der anderen Seite müssen natürlich auch die Gewerkschaften eine Zusammenarbeit erlauben. In Deutschland war es ja so, dass die Gewerkschaften stark zentralisiert waren und deshalb die zentrale Gewerkschaftsbürokratie direkten Einfluss auf die Basis haben konnte. Oft wurde ein Dialog zwischen ArbeiterInnen und StudentInnen bewusst unmöglich gemacht. Ausnahmen gab es nur ab und zu, z.B. als die IG Metall 1967-68 die Kampagne gegen die Notstandsgesetze mitgetragen hat. Im Allgemeinen ist die Aussage zutreffend, dass, je stärker und je zentralisierter eine Gewerkschaft ist, umso weniger wird sie eine Zusammenarbeit mit StudentInnen ermöglichen. Wenn eine Gewerkschaft sehr dezentral funktioniert, können verschiedene Ortsgruppen ihre eigenen Sachen machen, was die Möglichkeit von Zusammenarbeit fördert. Je schwächer die Gewerkschaft ist, desto mehr profitiert sie von der Unterstützung anderer. Ich glaube, darin liegt zum Teil die Erklärung, warum z.B. in Italien eine Koalition zwischen StudentInnen und ArbeiterInnen öfter vorgekommen ist als etwa in Deutschland.

Welche Länder, vor allem außerhalb Europas, wären ein gutes Beispiel für so eine Koalition?

Argentinien 1969, Córdoba, ist, denke ich, ein sehr gutes Beispiel. Es gab auch in Südafrika, zwischen schwarzen StudentInnen und Gewerkschaften gute Zusammenarbeit. In vielen Fällen haben auch entweder Studierende oder ArbeiterInnen im Alleingang rebelliert.

In Ihrem Beitrag widmen Sie sich hauptsächlich StudentInnenund ArbeiterInnenbewegungen. Wie ordnen Sie jene Bewegungen ein, die unter dem Begriff „neue soziale Bewegungen“ zusammengefasst werden (z.B. Frauen-, BürgerInnenrechts- oder Friedensbewegung)?

Also erstmal grundsätzlich: neue soziale Bewegungen gibt es nicht. Ich bin der Meinung, dass der Begriff irreführend ist. In dem Buch „Transnational Labour History“ erkläre ich diese Behauptung genauer. Wenn die verschiedenen Protestformen historisch studiert werden, dann wird erkennbar, dass die so genannten neuen sozialen Bewegungen gar nicht so neu sind. Der Begriff sollte ja im Wesentlichen dazu dienen, alte soziale Bewegungen, wie etwa die ArbeiterInnenbewegung, von den neuen Bewegungen abzugrenzen, um ihre vermeintliche Andersartigkeit, z.B. ihre Expressivität, hervorzuheben. Der amerikanische Soziologe Craig Calhoun hat einen Artikel mit dem Titel „New social movements in the early nineteenth century“ geschrieben. Er zeigt, dass die alten Bewegungen genauso auf Selbstexpressivität zielten wie die so genannten neuen sozialen Bewegungen jetzt. Es ist wahrscheinlich, dass, wenn es eine Welle von Massenprotesten gibt, am Anfang der expressive und künstlerische Aspekt ganz wichtig ist. Mit der Zeit durchläuft die Bewegung oft eine Routinisierung und expressive Aspekte werden geschwächt. Ich denke, genau das konnten wir in den 60er Jahren beobachten. Es gab alte Bewegungen wie Gewerkschaften und die Sozialdemokratie, dann entstanden neue, expressivere Bewegungen. Aber die Themen und die Aktionsmittel dieser Bewegungen sind nicht sehr weit von jenen älterer Bewegungen entfernt. Der amerikanische Soziologe Charles Tilly kommt zu der Folgerung, dass es eigentlich nur wenige Innovationen in der Protestwelle von 1966 bis 1976 gegeben hat. Eine davon sei, dass die Eroberung des öffentlichen Raumes wichtiger geworden ist, d. h. es kam zu Platzbesetzungen, Institutsbesetzungen etc. Aber zu den so genannten neuen sozialen Bewegungen: Die Frauenbewegung ist ja zum größten Teil eine Reaktion auf das Macho-Verhalten in der StudentInnenbewegung und vielleicht auch in der ArbeiterInnenbewegung. Sie sprach auch Mängel in den früheren Bewegungen um 1968 an. An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass es Frauenbewegungen ja auch schon früher gab, nämlich in den 1920er Jahren und im 19. Jahrhundert. Mitte der 1960er Jahre entstanden wieder Ansätze einer Bewegung, aber die neue Frauenbewegung hat in den meisten Ländern eigentlich erst so um 1969 ihren Anfang genommen. Auch die Umweltbewegung bildete sich erst nach 1968. Es gab zwar schon davor ein paar Leute, die erkannt haben, dass das Umweltproblem wichtig werden würde. Aber im Weltmaßstab ist die Umweltbewegung eigentlich erst Ende der 1970er und in den 1980er Jahren
wichtig geworden. Diese Bewegungen stellen sehr wichtige Aspekte der Protestwellen dar.

Der Titel der Sammelbandes – „Weltwende 1968?“ – verweist auf die Frage, ob die Ereignisse um 1968 zu einer solchen Wende führten, ob diese globale Veränderungen mit sich brachten. Kann 1968 Ihrer Meinung nach als Weltwende verstanden werden? Wenn ja, inwiefern und an welchen Auswirkungen im Weltmaßstab würden Sie diese festmachen?

Hm, das ist die Gretchenfrage. Ich denke, die Bewegung ist als solche in einer Niederlage geendet. Emanzipation, Frauenbefreiung, ArbeiterInnenräte, da ist noch ein weiter Weg zu gehen. Wir sehen natürlich auch, dass viele der Männer und Frauen, die damals aktiv waren, ins andere Lager gewechselt sind. Joschka Fischer z.B., und wie sie alle heißen. Das ist schon schlimm. Gerade habe ich gelesen, dass der neue Chefredakteur vom Springerkonzern ein alter Autonomer ist, Thomas Schmid… Auf der anderen Seite denke ich, dass diese Bewegung vieles bewirkt hat. Man muss sehen, dass 1968 kulturelle Auswirkungen gehabt hat. So wurden etwa autoritäre Verhältnisse angekratzt, im Arbeitsverhältnis, im Studium usw., auch wenn diese Veränderungen nicht so weit gegangen sind, wie es wahrscheinlich eigentlich gewollt war. Trotzdem sind wichtige Änderungen passiert. Aber es gibt einen Haken daran. Mit der Überwindung der alten autoritären Verhältnisse – obwohl das System natürlich letztendlich autoritär bleibt – kam es gleichzeitig zu einem Modernisierungsschub des Kapitalismus. Das hat zu einer Pervertierung der Ideale der Bewegungen von damals geführt. Ein Beispiel ist das Ideal der Selbstentfaltung, das jetzt zu „jeder ist Unternehmer seiner selbst“ umformuliert wurde. Das macht die Auswirkungen von 1968 ambivalent. Ich glaube schon, dass es positive Einflüsse gegeben hat, aber gleichzeitig hat es auch – weil die Bewegungen im großen Maßstab letztendlich in einer Niederlage geendet sind – dazu beigetragen, den Kapitalismus zu modernisieren.

In heutigen sozialen Bewegungen wird an das Jahr 1968 oftmals nur als einem fernen Erinnerungsort gedacht. Kann ein Bezug zu aktuellen Kämpfen hergestellt werden? Was können wir von den 68er Protesten lernen? Was kann die neue „neue Linke“ von der alten „neuen Linken“ lernen?

Ich würde erst einmal feststellen, dass in dieser Protestwelle von etwa zehn Jahren in großen Teilen der Welt zwei wesentliche Einflüsse auszumachen sind. Auf der einen Seite gab es direkt-demokratische Tendenzen. Das zeigt sich etwa an den zahlreichen Massenversammlungen, wo alle reden konnten, an den teach-ins sowie an den Versuchen, Arbeitsverhältnisse zu demokratisieren und dergleichen mehr. Andererseits gab es die Tendenz zu Hierarchisierung und Zentralisierung, etwa in Form von Kaderparteien, ML-Gruppen usw. Beide Tendenzen traten gleichzeitig auf. Ich glaube wir können – obwohl ich später selber in der IV. Internationale war – mehr von den direkt-demokratischen Ansätzen als von den Parteiaufbau – Ansätzen lernen. Aber das hängt auch damit zusammen, dass ich denke, dass jetzt nicht der richtige Moment ist, um eine Partei aufzubauen. Ich glaube, was die Linke jetzt tun kann, in Verhältnissen wie z.B. in Österreich oder den Niederlanden, ist, vor allem Initiativen, wie etwa exemplarische Aktionen, zu starten, die zum Nachdenken anregen oder enthüllen. Parallel dazu müssen die gesellschaftlichen Verhältnisse analysiert werden, um zu verstehen, was los ist. In einem späteren Stadium können dann daraus vielleicht Ansätze für eine breitere Organisation entwickelt werden. Bei der Theorieentwicklung können wir, denke ich, einige Ansätze der 68er wieder aufgreifen, die vernachlässigt worden sind. Insbesondere finde ich ein breites Interesse, nicht nur an politischer Ökonomie usw., sondern auch an Psychologie, Kultur, Musik, wie es in den 68ern existiert hat, sehr wichtig. Man muss verstehen, dass im ganzen gesellschaftlichen Spektrum eine Alternative entwickelt werden muss, und dass man bei Protesten Fantasie haben muss.

1968 wird im Gedenkjahr heiß diskutiert. Wie würden Sie den Umgang mit dem Thema im Jubiläumsjahr (in Medien, öffentlichen Debatten etc.) einschätzen?

Vieles wird da ja noch kommen… Ich sehe verschiedene Tendenzen. Es gibt eine Tendenz, die behauptet, 1968 wäre schrecklich gewesen, das Vorspiel vom Terrorismus sozusagen. Wolfgang Kraushaar behauptet z.B., dass Rudi Dutschke eigentlich schon ein Vorläufer der RAF war. Ein weiteres Beispiel ist natürlich Götz Aly mit seinem Buch „Unser Kampf“… der war aber eigentlich gar kein 68er, sonder ein 74er oder so, der auch eine Zeit bei den Maoisten war. Ich finde, das ist alles Unsinn. Das ist Quatsch. Es ist sehr bedauerlich, dass Menschen versuchen, etwas so in den Dreck zu zerren.
Die andere Tendenz ist vielleicht genauso schlimm. Es handelt sich um die alten 68er, die jetzt in romantisierender und harmonisierender Weise auf 1968 blicken und die Geschehnisse und Ideen damit gleichzeitig ungefährlich machen.
Eine dritte Tendenz gibt es auch. Es ist die der seriösen Aufarbeitung, auch, um daraus zu lernen. Vieles war sehr gut an 1968. Wir müssen aber auch verstehen, was falsch gelaufen ist, also die Fehler verstehen, die gemacht wurden, ohne dabei das Kind mit dem Bade auszuschütten. Die guten Elemente sollten bewahren werden.

Zum Abschluss noch eine persönliche Frage. Was tat Marcel van der Linden 1968?

Ich bin ja erst von 1952. 1968 war ich sechzehn Jahre alt. Aber ich kann erzählen, dass auch bei mir etwas mirakulöses geschehen ist. Ich komme aus einem sehr konservativen Milieu, mein Vater war ein großer Bewunderer der Nato. Er ging jedes Jahr zu einer Musikshow, die von der Nato veranstaltet wurde. Ich ging damals mit und war auch begeistert von der Nato. 1968 ist aber anscheinend was geschehen. Sehr gegen den Willen meines Vaters bin ich dann Mitglied bei der so genannten pazifistisch-sozialistischen Partei geworden. Die gibt es heute nicht mehr, aber damals hatte sie Sitze im Parlament – das war so das Radikalste, was wir hatten. Seitdem bin ich im Lager der radikalen Linken geblieben. Warum das nun genau so geschehen ist, weiß ich nicht. Vielleicht handelt es sich dabei um eine breitere Frage: Kann man eigentlich bei sich selber rekonstruieren, warum man auf einmal einen anderen Standpunkt einnimmt als zuvor? Diese Frage müssen sich die richtigen 68er natürlich auch stellen. Was ist denn eigentlich mit mir geschehen damals, dass ich, als kleinbürgerlicher Konservativer oder so, plötzlich radikal war und in einer Kommune leben wollte und all diese Dinge.

Vielen Dank für das Interview!

Marcel van der Linden ist Forschungsdirektor des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam und zur Zeit Gastprofessor am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Wien.
Zuletzt erschien von ihm Transnational Labour History. Explorations, Aldershot 2003, sowie Western Marxism and the Soviet Union. A survey of critical theories and debates since 1917, Leiden 2007.





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