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„Das sind die Verdammten dieser Erde!“
von Roger Heacock, Ramin Taghian, Benjamin Opratko

Ramin Taghian und Benjamin Opratko sprachen mit dem Historiker Roger Heacock über Israels jüngsten Krieg gegen Gaza, die Rolle der Hamas und die politischen Kräfteverhältnisse in den palästinensischen Gebieten.

Wir haben in den letzten Wochen im Gazastreifen die größten Angriffe auf die PalästinenserInnen seit 1967 gesehen. Warum hat sich die israelische Regierung Ihrer Meinung nach gerade jetzt dafür entschieden? Und weshalb in dieser Heftigkeit, mit einer so massiven militärische Operation?

Da würde ich die klassischen Antworten geben: erstens ist es eine Art Rache für den misslungenen Angriff auf den Libanon 2006. Die israelische Regierung will beweisen, dass sie trotzdem noch die Möglichkeit hat, sich durchzusetzen. Zweitens stehen in Israel Wahlen an, und deshalb muss die Regierung sagen können, wir haben es wirklich geschafft, wir haben uns durchgesetzt – obwohl das, angesichts der großen Zerstörungen, gar nicht so sehr der Fall ist. Und drittens hat es, glaube ich, mit dem Ende der Bush-Regierung zu tun. Sie haben ja gesehen dass die Israelis praktisch zwei Minuten vor dem Machtwechsel in Washington abgezogen sind. Insgesamt glaube ich, dass die Israelis jede Form von palästinensischem Widerstand, sei er traditionell nationalistisch oder islamistisch, zerstören wollen.

Von Seiten Israels werden die Angriffe auch von einer großen medialen Kampagne begleitet, um die Hamas für die Kämpfe verantwortlich zu machen. Welche Rolle spielen etwa die von Hamas-Kämpfern abgeschossenen Qassam-Raketen tatsächlich?

Sagen wir, der Widerstand insgesamt spielt eine Rolle. Im Westjordanland hat die israelische Regierung eine Behörde (die von der Fatah kontrollierte Palästinensische Autonomiebehörde, Anm. d. Red.), die für sie Polizei-Aufgaben durchführt. Aber die Hamas-Regierung, die nur noch in Gaza tätig ist, tut das nicht. Das ist der wesentliche Punkt, denke ich. Es ist eine einfache Sache: Wenn man Kolonien hat, will man keinen Widerstand sehen. Ob der Widerstand mit Qassam-Raketen oder anderen Mitteln geleistet wird, ist eigentlich egal. Andererseits, wenn es keine Qassam-Raketen gegeben hätte, hätte Israel es vielleicht nicht für notwendig befunden, so heftig militärisch durchzugreifen – sie hätten einfach die Hunger-Blockade aufrecht gehalten. Aber wir wissen auch, dass es einen Waffenstillstand gegeben hat und dass dieser von der israelischen Seite gebrochen wurde, als Anfang Oktober sechs Menschen vom israelischen Militär getötet wurden. Insofern kann man sich denken, dass die Qassam-Raketen auch ein guter Vorwand für Israel waren.

Ein zentrales Argument der israelischen Seite ist, dass man den PalästinenserInnen große Zugeständnisse gemacht hätte, indem die israelische Armee aus dem Gazastreifen abgezogen ist und die Siedlungen geräumt wurden. Was hatte es ihrer Meinung nach mit dem Abzug im Sommer 2005 auf sich?

Wo sind die Siedlungen denn geräumt? Sie wurden aus dem Gazastreifen abgezogen, nur um sie sofort in die West Bank zu transferieren, wo es zur Gründung vieler neuer Siedlungen kam. Für die Israelis war das Westjordanland immer das wichtigste, dort liegt das Zentrum der Siedlungs- und Kolonisationspolitik. Der Gazastreifen war sozusagen ein Nebenschauplatz. Sie kontrollieren noch immer die Luft und das Meer, die Grenzen, die Ein- und Ausreise von Menschen und den Güterverkehr. Deswegen haben die Israelis sich dort nur aus einer komplizierten Lage befreit, denn es war schwierig, dort zu bleiben: Es gab ja einen Widerstand, der bis zum Abzug 2005 ziemlich effektiv war.

Aber meist wird der Abzug ja als Zugeständnis gewertet.

Ja, natürlich. Aber die israelischen Regierungen haben immer davon gesprochen, dass sie Gaza loswerden wollen. Yitzhak Rabin hat einmal gesagt: „Meinetwegen könnte Gaza im Meer versinken”. Denn sie haben es mit eineinhalb Millionen Menschen zu tun, von denen 1,2 Millionen Flüchtlinge sind. Das sind die „Verdammten dieser Erde”, und die wollen sie loswerden. Sie hätten gerne, dass die Ägypter das übernehmen, aber ich glaube nicht, dass das funktionieren kann. Denn die ägyptischen, ebenso wie die jordanischen, die saudischen und andere Herrscher fürchten sich vor dieser “palästinensischen Revolution“, die ihre Regimes zu stürzen droht.

Die Hamas wird meist als terroristische Organisation dargestellt, die vor allem durch religiösen Eifer und Antisemitismus motiviert ist; israelische Medien haben vom Gazastreifen als „Hamastan“ gesprochen. Welche Aspekte fallen in dieser Betrachtung der Hamas Ihrer Meinung nach aus dem Bild?

Nun, man muss die historischen Ereignisse analysieren und was seit der Gründung der Hamas im Jahre 1987, Anfang 1988 passiert ist. Sie standen damals in Konkurrenz mit der Fatah, mit dem Islamischen Djihad und anderen und hoben sich von diesen durch ihren Pietismus ab. Hamas ist ein Ableger der Muslimbruderschaft, und die Muslimbrüder in Palästina vor 20 Jahren waren pietistisch eingestellt: Die Familien müssten sich ändern, mehr beten und sich als gute Muslime verhalten. Bis im Dezember 1987 die Intifada ausbrach, hatten sie die Entwicklungen völlig verschlafen. Dann jedoch haben sie sofort den „militärischen Flügel“ gegründet. Auf diese Zeit trifft zu, was sie sagen, damals war die Bewegung sehr radikal. Doch in den letzten fünf Jahren, seit dem Tod Arafats – und eigentlich schon seit 2000 – hat sich die Lage rasch geändert. Das kann an den Texten der Hamas abgelesen werden. Man muss diese Texte lesen, wie man überhaupt jede politische Bewegung anthropologisch studieren muss. Es genügt auch nicht, zu sagen: die ÖVP ist christlich, also kann man die Bibel lesen, um zu verstehen, wie die ÖVP funktioniert. Man kann auch nicht das Kommunistische Manifest lesen, um zu verstehen, was die SPÖ will. Ähnlich verhält es sich mit der Hamas. Und wenn man ihre aufeinander folgenden Wahlprogramme bei den Lokalwahlen 2005 und den Parlamentswahlen 2006 liest und analysiert, dann sieht man, dass sich sehr viel geändert hat. Die Hamas ist jetzt ein Teil des nationalen Konsenses, der besagt, dass es Frieden geben wird, wenn die israelische Besatzung von 1967 aufgehoben wird. In den Jahren 2005, 2006 hat die Hamas nicht von der Zerstörung Israels gesprochen oder antisemitisch agitiert. Eine generelle Antwort ist also: Man kann eine politische Bewegung nicht allein aufgrund ihrer Ursprünge beurteilen. Natürlich gibt es eine Beziehung zu den Wurzeln, aber man muss sie, auch im Fall der Hamas, in ein Verhältnis zu den Veränderungen und ihrer Politik on the ground setzen.

Oft wird die Hamas-Charta als Nachweis für den antisemitischen Charakter der Bewegung herangezogen. Welche Rolle spielt diese Charta heute für die Hamas? Hat sie realpolitische Bedeutung?

Ich denke, sie spielt kaum eine Rolle mehr. Was eine Rolle spielt, ist diese Realität, dass die Hamas die Hälfte der Menschen in Palästina repräsentiert, übrigens genauso wie die Islamisten im übrigen Nahen Osten die Hälfte der Bevölkerungen repräsentieren, und das muss man akzeptieren. Es gibt ja Modelle für solche Konstellationen, ich würde insbesondere das türkische Modell nennen. Und wir werden sehen, was im Libanon passiert, wo es im Juni Wahlen geben wird. Ich würde wetten, dass es auch hier zu einem neuen Modell des Zusammenlebens zwischen religiösen und säkularen Kräften kommen wird. Obwohl das natürlich auch davon abhängt, wer sich in diesen Prozess einmischen wird. Aber ich habe wirklich den Eindruck – obwohl ich Präsident Obama nicht verherrlichen will – dass die neue amerikanische Regierung bereit ist, etwas neues auszuprobieren, die Realitäten in Betracht zu ziehen und sie nicht mit Gewalt verändern zu wollen.

In der Geschichte der palästinensischen Nationalbewegung war eine große Zäsur die Intifada 1987, zu der Sie selbst ja viel gearbeitet haben.1 Die Entwicklung von der ersten zur zweiten Intifada 2000 war offenbar geprägt von einer politischen Verschiebung hin zum politischen Islam und einer strategischen Verschiebung hin zum militärischen Widerstand. Kann man die aktuelle Situation als Kontinuität und Vertiefung dieses Prozesses sehen? Und warum ist dieser Prozess eigentlich so einseitig verlaufen – auch auf Kosten von anderen Widerstandsformen, die in der ersten Intifada noch eine größere Rolle gespielt haben?

Ich bin vielleicht nicht zu hundert Prozent mit Ihnen einverstanden, denn es hat im Jänner 2006 doch Wahlen gegeben. Die Hamas wollte regieren, in einer großen Koalition mit der Fatah, die sich jedoch geweigert hat, weil sie hoffte – und noch immer hofft – dass sie die Mehrheit wieder zurückgewinnen kann. Auch andere Gruppen haben sich geweigert, mit der Hamas zusammenzuarbeiten, da hatte die Hamas mehr oder weniger keine andere Wahl. Es gibt Leute, die sagen, sie hätte nur ihre Sitze im Parlament behalten, aber andere regieren lassen sollen. Doch das funktioniert in diesen neuen Demokratien nicht sehr gut, denn der Präsident kann das Parlament per Dekret von einem Tag auf den anderen auflösen: Ausnahmezustand! Sie war also in einer schwierigen Lage.

Ich behaupte ja, die erste Intifada war die „Intifada der Steine”; die zweite war sehr gewaltsam; und die dritte Intifada, das waren die Parlamentswahlen 2006. Man wird sehen, welche Form die vierte annimmt. Ich habe damit Ihre Frage nicht beantwortet, aber ich möchte andeuten, dass es eine andere Interpretation gibt: Dass die Israelis immer wieder die Palästinenser dazu zwingen, sich zu wehren. Nach der ersten Intifada, in der Phase von 1994 bis 1999, hätten die Palästinenser einem Staat bekommen sollen, aber es ist nichts passiert, nur weitere Kolonisierungen. Also waren sie auf eine Weise gezwungen, sich wieder zu wehren, obwohl es natürlich nicht unvermeidlich war, dass sie Selbstmordattentate durchführten. Ich selbst war damals in Ramallah und wir wurden bombardiert, von F-16 und Apache-Hubschraubern. Ich meine, was ist die richtige Antwort darauf?

Was ist eigentich mit der palästinensischen Linken passiert?

(Lacht) Tot! Sie wurde kooptiert!

Sprechen sie von der traditionellen Linken, wie der PFLP?

Ja, und jetzt gerade sagt die PFLP, nachdem sie zu allem eingewilligt haben, was andere Organisationen von ihnen verlangt haben, dass sie den Waffenstillstand nicht akzeptiert. Damit wollen sie zeigen, dass sie noch da sind, aber das ist ein Mythos. Diese so genannten linken Bewegungen existieren nicht mehr als kritische Bewegungen – obwohl sie noch vorhanden sind, die PFLP bekommt drei, vier, fünf Prozent der Stimmen, was nicht unbedeutend ist.

Was ist mit anderen kritischen Strömungen passiert, wie jener rund um Mustafa Barghouti? Er hat schließlich bei den Präsidentschaftswahlen 2005 noch fast zwanzig Prozent erhalten, und jetzt hört man kaum mehr von ihm.

Nach den Präsidentschaftswahlen und den zwanzig Prozent für Mustafa Barghouti hat es eine starke Polarisierung zwischen Hamas und Fatah gegeben. Und viele Leute, die vorher für Mustafa gestimmt haben, haben bei den Parlamentswahlen Hamas gewählt, obwohl sie keine Hamas-Anhänger waren. Aber sie wollten die Fatah abwählen. Mustafa Barghouti selbst ist eine echte Oppositionsfigur, aber was er repräsentiert ist eine andere Frage. Seine Bewegung, die Nationalinitiative, ist winzig. Aber er hat sich auch nie kaufen lassen.

Gibt es solche Figuren auch noch am linken Flügel der Fatah? Ich denke etwa an Hanan Ashrawi, die sich während des Konflikts wieder öfters zu Wort gemeldet hat.

Hanan Ashrawi ist kritisch, aber nicht sehr kritisch, denn sie hasst die Hamas und sie wird es zwar niemals sagen , aber ihr ist es recht, wenn sich die Lage für die Hamas verschlimmert. Aber Marwan Barghouti, der in Israel im Gefängnis sitzt, ist ein populistischer, eher links gerichteter Fatah-Führer, in den man noch immer Hoffnungen setzen muss. Man wird sehen was passiert, wenn sie ihn raus lassen.

Wie wirkt sich der aktuelle Konflikt auf die politische Situation in anderen Ländern des Nahen Ostens aus? In Ägypten etwa richten sich die Proteste einerseits gegen Israel, aber gleichzeitig auch gegen die eigene Regierung…

Der Konflikt ist für diese diktatorischen, korrupten, alten, müden Regimes explosiv. Wenn sich die Hamas durchsetzen könnte, wäre es vielleicht das Ende für sie – zumindest fürchten sie sich davor.

Was würde das bedeuten, wenn es zu einem politischen Wechsel oder einem Bruch in Ägypten kommen würde?

Also erst einmal wäre es etwas ganz Gutes nicht nur für die Palästinenser, sondern vor allem für die Ägypter! Aber das wird die Regierung niemals zulassen. Bis jetzt haben sie die Lage ziemlich fest im Griff.

Was sind Ihrer Meinung nach die mittelfristigen Konsequenzen dieses Krieges? Wer wird profitieren?

Die ehrliche Antwort ist natürlich: Man weiß es noch nicht. Aber alle sind sich einig, dass Abu Mazen (Präsident Mahmud Abbas, Anm. d. Red.) und die Autonomiebehörde diskreditiert sind. Zur Hamas gibt es unterschiedliche Meinungen. Israel will es der Hamas unmöglich machen, ihre Infrastruktur wieder aufzubauen – wir werden sehen, was das bedeutet. Ich glaube, dass es unmöglich sein wird, die Hamas im Gazastreifen auszuschalten. Das ist einmal mehr eine Fehleinschätzung der Israelis. Die Hamas wird also weiterhin existieren, und sie behält einige Trümpfe in der Hand. Sie drängt nun auf die Bildung einer neuen Einheitsregierung, die die Palästinenser ohnehin immer gewollt haben und die auch für drei Monate existiert hatte. Das könnte der nächste Schritt auf lokaler Ebene sein. Regional und global, glaube ich, dass wir auf Obama und seine Schritte warten müssen. Was er sicher verstanden hat, ist, dass er sich auf die eine oder andere Weise damit beschäftigen muss. Nicht wie Clinton, der wegen seines Skandals bis zum Ende seiner Amtszeit warten musste, und nicht wie Bush, der gar nichts gemacht hat. So habe ich auch interpretiert, was Obama in seiner Rede zur Amtseinführung gesagt hat, als er sich zur muslimischen Welt gewandt hat. Aber ich bin immer ein Optimist, und dann stellt sich immer heraus, dass das utopisch war.

Sie kritisieren in Ihrer Arbeit als Historiker oft sehr scharf die Staatszentriertheit der Geschichtswissenschaft. Welche Bedeutung hat die Staatszentriertheit für den palästinensisch-israelischen Konflikt bzw. für die palästinensische Bewegung? Welche Handlungsnotwendigkeiten ergeben sich daraus für eine Lösung eines solchen nationalen Konflikts?

Das ist eine sehr gute Frage, auf die ich keine echte Antwort habe. Ich dränge darauf, postnational zu denken und zu agieren. Aber das bedeutet nicht, dass man die Kolonisierung ruhig weiter gehen lassen darf. Man muss sich gegen die Kolonisierung und die Besatzung wehren. Im Namen eines palästinensischen Staates? Das weiß ich nicht. Ich habe den Eindruck, dass, wenn es einmal zu einem Abkommen kommen sollte, dieses zunächst in dieser staatlichen Form unterschrieben werden müsste, und dann könnte es zu einer größeren Integrierung in der Region kommen. Aber Israel müsste sich dazu völlig ändern, von innen heraus, und das ist bis jetzt nicht in Sicht.

Danke für das Interview!

Anmerkungen

1 Nassar, Jamal R./Heacock, Roger (Hg.): Intifada. Palestine at the
Crossroads, Westport: Greenwood 1990

Roger Heacock ist Professor für Geschichte an der Universität Birzeit in Ramallah, Westjordanland, und hatte im Wintersemester 2008/09 eine Gastprofessur an der Universität Wien inne.





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