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Die Aktualität Gramscis
von Katherina Kinzel

Rezension: Merkens, Andreas/Diaz, Victor Rego (Hg.): Mit Gramsci arbeiten. Texte zur politisch-praktischen Aneignung Antonio Gramscis, Hamburg: Argument 2007, 17,00 €

Antonio Gramsci, italienischer Marxist, engagiert in der Turiner Rätebewegung, Herausgeber der Zeitschrift L’Ordine Nuovo und Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, verfasste während seiner Haftzeit unter Mussolini 32 Hefte mit fragmentarischen Notizen zu Philosophie, Geschichte, Kultur und Politik. Mit Abschluss der kritischen Gesamtausgabe der Gefängnishefte in deutscher Sprache 2002, hat sich die Ausgangslage der Auseinandersetzung mit Gramsci im deutschsprachigen Raum beträchtlich verändert. Nicht mehr vorselektierte Auszüge, sondern der „ganze Gramsci“ steht nun zur kritischen Relektüre zur Verfügung.

Fällt die Rede auf Antonio Gramscis Werk, werden dessen RezipientInnen nicht müde zu betonen, dass der fragmentarische Charakter dieser im Gefängnis unter widrigen Umständen entstandenen Schriften ihre systematische Aufarbeitung ungeheuer erschwert. Nicht zu unrecht, konfrontieren einen die Gefängnishefte doch mit der Aufgabe, die in den von Begriffsverschiebungen, Anspielungen und Undeutlichkeiten gekennzeichneten Notizen entwickelten theoretischen Konzepte nachzuzeichnen und in kohärenten Zusammenhang zueinander zu stellen, ohne zugleich die dabei auftauchenden Widersprüchlichkeiten einzuebnen. Die Herausgeber des im Argumentverlag erschienenen Sammelbandes Mit Gramsci arbeiten erkennen, dass es nicht alleine der fragmentarischen Form der Texte, sondern vielmehr Gramscis Arbeitsweise geschuldet ist, dass eine Anordnung der Begriffe zum vollständigen Theoriensystem unmöglich ist – womit zugleich reduktionistischen Schließungen aller Art der Riegel vorgeschoben wird. So erarbeitet Gramsci seine theoretischen Konzeptionen stets im Kontext einer Analyse spezifischen historischen Materials, sowie in permanenter Auseinandersetzung mit der Frage nach möglichen Strategien revolutionären Kampfes unter Bedingungen einer weitgehend konsolidierten bürgerlichen Klassenherrschaft. Während wir manche Konzepte auf hohem theoretischen Niveau ausgearbeitet vorfinden, begegnen uns andere nur implizit, gleichsam zwischen den Zeilen. Dass diese somit ihren vollen Sinn erst durch ihre Kontextualisierung und Anwendung erhalten, mag Anlass für einige Lektüreschwierigkeiten sein, begründet zugleich aber die Anschlussfähigkeit Gramscis Konzepte an vielfältige Theoriestränge – wovon die Rede vom „Steinbruch Gramsci“ zeugt – sowie an die Versuche einer Analyse gegenwärtiger gesellschaftlicher Transformationsprozesse.

Mit Gramsci arbeiten erhebt nicht den Anspruch, den „sekundäranalytischen Zugang zu Gramsci“ um eine weitere Aufsatzsammlung zu bereichern. Vielmehr steht die Frage nach der analytisch-begrifflichen sowie der poltisch-praktischen Aneignung Gramscis im Vordergrund. Damit ist zugleich das Problem der notwendigen Übersetzungsarbeit angesprochen, die zu leisten ist, soll das theoretische Instrumentarium Gramscis für eine Untersuchung und Bestimmung aktueller gesellschaftlicher Phänomene fruchtbar gemacht werden. 13 Autoren und eine Autorin (die Frauenquote von 7% ist überaus bedauerlich) präsentieren ihre Herangehensweise bei der kritischen Lektüre und Aufnahme Gramscis Analysen und die zentralen Fragestellungen ihres Arbeitens.

Die ersten Beiträge kreisen um den Begriff der „passiven Revolution“ und zeigen, welche Formen Versuche einer Übertragung desselben auf die gegenwärtig zu beobachtende krisenhafte Transformation von Arbeits- und Lebensverhältnissen annehmen können. Ausgehend von einer erklärenden Darstellung der Fordismusanalysen Gramscis arbeitet Mario Candeias in Gramscianische Konstellationen Momente der Zustimmung der Subalternen bei der Durchsetzung einer neuen Produktionsweise unter neoliberaler Hegemonie heraus. Er argumentiert, dass der durch die Umstrukturierung von Arbeitsverhältnissen virulent gewordene Zwang zu Selbstvermarktung und Selbstausbeutung auch als Übernahme von Eigenverantwortung, als Befreiung von gleichförmiger Arbeit und paternalistischen Eingriffen des Wohlfahrtsstaates erlebt wird. Als Ansatzpunkt für emanzipatorische Perspektiven identifiziert er bestehende Brüche in der hegemonialen Apparatur des Neoliberalismus.

Auch Frigga Haug setzt für ihr Vorhaben Mit Gramsci die Geschlechterverhältnisse begreifen bei dessen Überlegungen zu Fordismus und Amerikanismus an. Die Frage nach den Geschlechterverhältnissen findet sie in die Analyse der sexuellen Verhältnisse verschoben, welche ihren theoretischen Ort innerhalb einer Untersuchung der Entstehung der fordistischen Produktionsweise findet. Indem sie Geschlechterverhältnisse als Produktionsverhältnisse auffasst, ist es ihr möglich die Kämpfe der Frauenbewegung der 60er und 70er Jahre als gegen fordistische Formen der Arbeitsteilung gerichtete zu verstehen. Präzise zeichnet sie die Veränderungen des Arbeitsbegriffs und der Familienstrukturen im Kapitalismus neoliberaler Prägung nach. Mit ihrem Vorschlag, die Analyse von Transformationsprozessen kapitalistischer Vergesellschaftung am Zusammenhang zwischen der Regelung der Produktion und der Organisation von Geschlechterverhältnissen auszurichten, liefert sie einen wesentlichen Beitrag zur feministisch-marxistischen Theoriebildung.

Bernd Röttger nimmt die gegenwärtigen Veränderungen der Handlungsbedingungen von Gewerkschaften in den Blick. Anstatt die angesichts der Krise gewerkschaftlicher Repräsentationsformen und der Unterhöhlung des Tarifvertragssystems oft erstellte Diagnose vom Untergang der Gewerkschaften schlicht zu unterschreiben, leuchtet er die Widersprüche aus, innerhalb derer sich diese nunmehr zu bewegen haben. In seinem Beitrag Passive Revolutionen und Gewerkschaften zeichnet er die historische Entwicklung korporativistischer Politikformen nach und fragt nach Möglichkeiten der Erneuerung gewerkschaftlicher Betriebspolitik. Überzeugend legt er dar, dass sich diese nur als Überwindung fordistischer StellvertreterInnenpolitik gestalten und über eine Verbindung von betrieblichen und gesellschaftlichen Kämpfen vollziehen kann. Anhand eines konkreten Beispiels zeigt er, wie die Etablierung politisierender Beteiligungsstrategien und veränderter Formen von Aktions- und Bündnispolitik das Neuentstehen einer sichtbaren lokalen ArbeiterInnenbewegung erwirken kann.

Die darauf folgenden Beiträge suchen der Bedeutung hegemonialer Auseinandersetzungen auf dem Terrain des Alltagsverstandes aus politik- und kulturwissenschaftlicher Perspektive beizukommen. Christoph Scherrer plädiert für eine schärfere Begriffsbestimmung sowie die empirische Operationalisierung von Hegemoniekonzepten. Hegemonie: empirisch fassbar? regt an, zur Bestimmung des Ausmaßes an aktivem bzw. passivem Konsens demoskopische Untersuchungen zu Hilfe zu nehmen. Ingo Lauggas stellt in Empfindungsstrukturen und Alltagsverstand die Parallelen zwischen dem marxistischen Kulturwissenschafter Raymond Williams und Gramscis Versuchen, einen materialistischen Kulturbegriff zu entwickeln, heraus. Formen der Regelung alltagskultureller Praxen im Bereich der Sozialpolitik geht Uwe Hirschfeld nach. Er will Mit Gramsci die Politik sozialer Arbeit verstehen und sucht diese als in gesellschaftlichen Konfliktfeldern situiert zu begreifen. Dabei arbeitet er die widersprüchliche Situation heraus, in der sich Sozialarbeit befindet, da sie zugleich auf eine Anpassung der KlientInnen an bestehende ideologische Verhältnisse wie auf deren punktuelle Selbstermächtigung abzielt.

Die nächsten beiden Texte setzen den Schwerpunkt ihrer Auseinandersetzung mit Gramsci auf eine kritische Aktualisierung dessen machtpolitischer Erwägungen. Mikiya Heise und Daniel von Fromberg legen die ambivalenten Erfahrungen, die sie selbst im Zuge ihres Studiums der Gefängnishefte machten, dar. Unter dem Schlagwort Die Machtfrage stellen bekräftigen sie, dass in einer kritischen Auseinandersetzung nicht nur mit dem „guten Gramsci“ gearbeitet werden darf, sondern stets auch mit jenem Gramsci gerechnet werden müsse, dessen machtpolitische Orientierung an Macchiavelli, dem Jakobinismus und leninistischer Parteipolitik mitunter verstörend autoritäre Züge trage. Indem sie Gramscis Überlegungen als historischen Versuch einer Antwort auf die Machtfrage lesen, fordern sie zu einer Repolitisierung der eigenen theoretischen Perspektive auf. So muss sich die gegenwärtige Linke nicht nur mit der Machtfrage konfrontieren, vor dem Hintergrund der veränderten Ausgangslage gesellschaftlicher Kämpfe hat sich ihre Politikfähigkeit daran zu messen, ob sie die gegebenen strategischen Optionen zu fassen und zugleich im Bezug auf die eigenen ethisch-politischen Ansprüche zu reflektieren vermag.

Mit Blick auf die Diagnose, dass die gegenwärtigen westlichen Parteien ziellos geworden sind, legt Michael Jäger in Die Partei, die ein Ziel hat die Grundzüge Gramscis Parteitheorie dar.

Dass Gramsci die Frage der politischen Führung stets auch in ihrer pädagogischen Dimension thematisiert, nehmen die nächsten beiden Artikel zum Anlass, Gramscis Überlegungen zu Erziehung und politischer Bildung hegemoniestrategisch zuzuspitzen.

Armin Bernhard fragt in Pädagogische Grundverhältnisse wie Bildung als Selbstpotenzierung im Sinne gegenhegemonialer Bestrebungen wirksam werden kann. Andreas Merkens arbeitet die Implikationen der Bestimmung von Hegemonie als pädagogischem Verhältnis heraus. Auch ihm geht es um die Möglichkeit gegenhegemonialer Strategien, welche er unter der Formel Die Regierten von den Regierenden intellektuell unabhängig machen verhandelt. Ausgehend von der Feststellung, dass emanzipative gesellschaftliche Transformation auf einen kollektiven Prozess der kritischen Bewusstseinsbildung angewiesen ist, betont er, dass sich Gegenhegemonie keinesfalls in einem Austausch der im Alltagsverstand vorherrschenden Inhalte erschöpfen darf, sodass das bestehende bürgerliche Wissensregime durch ein sozialistisches ersetzt würde. Vielmehr muss das Verhältnis von Führenden und Geführten selbst bearbeitet werden, weshalb jede emanzipatorische Bewegung dazu angehalten ist, jene Erfahrungen, die sie in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen macht, mit Bildungsprozessen zu verknüpfen.

Hierauf folgen zwei Versuche der Aktualisierung gramscianischer Denkbewegungen mit dem Ziel der Erneuerung und/oder Fortschreibung marxistischer Theoriebildung. Oliver Marcharts Beitrag Gramsci und die diskursanalytische Hegemonietheorie legt anhand der Erläuterung einiger zentraler Begrifflichkeiten der poststrukturalistischen Hegemonietheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe dar, wie Gramscis Thesen diskurstheoretisch weitergedacht werden könnten. Wolfgang Fritz Haug fragt: Marxistisch Philosophieren – aber wie? Jeder Mensch ist Philosoph, insofern er in seinem Streben nach intellektueller Kohärenz Andere in sein Denken miteinbezieht und danach trachtet, Subalternität zu überwinden. Diese Feststellung Gramscis wird zum Ausgangspunkt einer Rekonstruktion des axiomatischen Feldes Marxschen Denkens.

Ohne den Anspruch zu stellen, ein vollständiges Bild der gegenwärtigen Debatte zu präsentieren – so findet sich etwa kein neogramscianisch orientier-ter Text, der sich an der Übertragung Gramscis Begrifflichkeiten auf das Feld der internationalen Beziehungen versucht, und auch die staatstheoretische Diskussion wird nur gestreift – legt der Sammelband doch von der Vielfalt der Aneignungsweisen Gramscis Schriften Rechenschaft ab. Wer auf eine kanonisierende Lesart der Gefängnishefte Wert legt, wird enttäuscht werden, wer jedoch Anstöße zur theoretischen und politischen Aktualisierung der von Gramsci entwickelten Konzepte sucht, findet in Mit Gramsci arbeiten anregende Beiträge.





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