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XY ungelöst
von Veronika Duma und Tobias Boos

Der Körper hat eine Geschichte, und damit auch seine Geschlechter. Die Vorstellung einer biologisch-natürlichen Differenz zwischen „Mann“ und „Frau“ ist erstaunlich jung. Veronika Duma und Tobias Boos gehen in ihrem Artikel einen Schritt zurück, wagen sich in die Untiefen der Botanik, der Körperflüssigkeiten und Anatomielehrbücher um schließlich der Frage nachzugehen, wie Geschlechterdifferenz mit der Herausbildung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften zusammen hängt.

Die Kontroversen um die 800-Meter Läuferin Caster Semenya bei der diesjährigen Leichtathletik-WM zeigen vor allem eines: So sicher scheinen sich die so genannten „Geschlechterexperten“ mit der Einteilung in zwei Geschlechter dann doch nicht zu sein.1 Statt aber die Geschehnisse zum Anlass zu nehmen um danach zu fragen, ob die Vorstellung einer biologischen Bipolarität der Geschlechter ein adäquates Modell darstellt, werden diejenigen pathologisiert, die in keine der beiden Kategorien so recht passen wollen. Eine Vorgehensweise, die – wie zahlreiche Studien aus dem Feld der Körpergeschichte belegen – keineswegs neu ist.
Insbesonders historische, soziologische oder auch anthropologische Arbeiten veranschaulichen, was gemeint ist, wenn von der „sozialen Konstruktion der Geschlechter“ in einem umfassenden Sinne die Rede ist und leisten so einen wichtigen Beitrag zu einer grundlegenden Kritik an den vorherrschenden Geschlechterverhältnissen. Es geht dabei nicht darum, jegliche Körperlichkeit zu negieren, sondern die Historizität des (Geschlechts-)Körpers hervorzuheben. Was nämlich spätestens seit den frühen 1980er Jahren2 in den genannten Disziplinen heiß debattiert wurde, ist heute längst anerkannt: der menschliche Körper hat selbst eine Geschichte. Er wurde in unterschiedlichen Epochen und an unterschiedlichen Orten nicht nur anders wahrgenommen, interpretiert und repräsentiert, sondern auch unterschiedlich erlitten, erfahren und gelebt.3 Dies gilt auch für die Geschlechtlichkeit des Körpers. Die heute vorherrschende Vorstellung einer a-historischen, biologisch-natürlichen und fundamentalen Geschlechterdifferenz, die medizinisch eindeutig bestimmt werden kann, ist verhältnismäßig jung. Noch viel jünger allerdings ist die Kritik an diesem Modell. In den 1960/70er Jahren war in der feministischen Theorie die Trennung zwischen sex – dem biologischen Geschlecht – und gender – dem sozial konstruierten Geschlecht – gebräuchlich. Diese Kategorisierung sollte dem Diskurs über die „natürliche“ Bestimmtheit der Geschlechter entgegenwirken, dem zufolge sich Geschlechterrollen aus der unterschiedlichen körperlichen Beschaffenheit von Mann und Frau ableiten ließen. Die Trennung von sex und gender eröffnete so zwar die Möglichkeit einer Kritik an geschlechterspezifischen Zuschreibungen und Verhaltenserwartungen, doch blieb das grundlegende Argument einer biologischen Zweigeschlechtlichkeit unangetastet, und die Möglichkeit einer radikalen Kritik an den Geschlechterverhältnissen daher verstellt.4
Viele ausführliche Debatten später scheint dieses Problem zumindest im akademischen Feminismus nicht mehr gegeben. Gesellschaftlich ist jedoch die Vorstellung einer fundamentalen biologischen Differenz der Geschlechter nach wie vor vorherrschend. Wie in mehreren historischen Forschungen5 – trotz unterschiedlicher Herangehensweisen – übereinstimmend aufgezeigt wird, ist dieses Bild Ergebnis jener Veränderungen und Verdrängungen früherer Vorstellungen des geschlechtlichen Leibes, die im 18. Jahrhundert im Zuge der Durchsetzung bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung stattfanden.6

Geschichtlichkeit des Geschlechtskörpers? Das „Ein-Geschlecht-Modell“
In dem weiten Feld der Körpergeschichte erlangten die Untersuchungen des Historikers Thomas Laqueur, der die historischen Veränderungen hinsichtlich des Geschlechtskörpers mit der These des Übergangs vom „Ein-Geschlecht-Modell“ zum „Zwei-Geschlechter-Modell“ fasste, besondere Bekanntheit. Anhand von Handbüchern zur Geburtshilfe, medizinisch-philosophischer Literatur, anatomischen Schriften und Zeichnungen zeigt Laqueur, dass „das Modell vom Einen Geschlecht“ im Denken über sexuelle bzw. körperliche Unterschiede von der Antike bis zum Ende des 17. Jahrhunderts vorherrschend war.7 Die hier postulierte Kontinuität betrifft nicht die Geschlechterrollen bzw. -verhältnisse, die sich natürlich über die Jahrhunderte hindurch veränderten, sondern die Vorstellungen vom geschlechtlichen Körper – also von dem, was der sex-gender-Konzeption zufolge der Kategorie sex entspräche. Frauen und Männer wurden schon vor der bürgerlichen Moderne unterschieden. Dieser Unterschied wurde auch an körperlichen Merkmalen festgemacht, doch stellte das, was heute als biologisches Geschlecht verhandelt wird, eine soziale Kategorie und keine Wesensbestimmung dar. Ein Mann oder eine Frau zu sein bedeutete vielmehr, einen sozialen Rang innezuhaben, AngehörigeR eines bestimmten Standes zu sein und somit eine bestimmte kulturelle Rolle wahrzunehmen, und nicht, wie für das „Zwei-Geschlechter-Modell“ konstitutiv, anatomisch und biologisch eindeutig identifizierbare Geschlechtsmerkmale zu besitzen.8
Das „Ein-Geschlecht-Modell“ zeichnete sich dadurch aus, dass geschlechtsspezifische Differenzen als graduelle Abweichungen und Abstufungen verhandelt wurden. Die Geschlechtsteile galten grundsätzlich als gleichförmig beschaffen: Frauen und Männer verfügten dieser Vorstellung nach über dieselben Genitalien, bloß dass diese einmal nach innen und einmal nach außen gestülpt waren. Dabei wurde die Vagina als nach innen gekehrter Penis gesehen, und nicht umgekehrt – die Norm im Bezug auf die graduellen Unterschiede stellte der männliche Körper dar. „In dieser Welt stellte man sich die Vagina als inneren Penis, die Schamlippen als Vorhaut, den Uterus als Hodensack und die Eierstöcke als Hoden vor“.9 Wie die Geschlechtsorgane wurden auch die Körperflüssigkeiten als Spielart ein und desselben Stoffes erachtet und erwiesen sich somit als nicht klar geschlechtspezifisch zuordenbar: Blut, Milch, Fett, Sperma galten nicht als vollkommen unterschiedliche Substanzen, der Übergang zwischen ihnen war fließend. Blut konnte sich demnach in Samen, Milch, Fett und andere Substanzen verwandeln. „Man meinte, die Ejakulation einer Flüssigkeit werde das durch ein Übermaß einer anderen unausgeglichene Gleichgewicht wieder herstellen, weil Samenerguß, Blutung, Stuhlgang und Schwitzen allesamt Formen der Entlastung seien, die dazu dienen, das Freihandelssystem der Flüssigkeiten auf dem richtigen Niveau zu halten“.10 Verdauung und Reproduktion, Nahrung, Blut und Samen seien Teil eines umfassenden, von Hitze in Betrieb gehaltenen Flüssigkeitssystems, wobei Frauen von dieser den Körper im Gange haltenden Hitze grundsätzlich weniger besitzen sollten als Männer. Auch die Menstruation war in diesem Modell nicht unbedingt geschlechtsspezifisch. So wurde eine Art Ersatzmenstruation bei Männern angenommen, z.B. in Form von Nasenbluten oder Hämorrhoidalblutungen. Entscheidend war der Flüssigkeitshaushalt im Körper, der Blutverlust, nicht das Geschlecht des Subjekts oder die Öffnung, durch die dieser erfolgt.11 Es gehörte zum Allgemeinwissen, dass Frauen beim Orgasmus Samen ejakulieren – der allerdings weniger vollkommen als der männliche sein sollte – und es kursierten Geschichten von Männern, die Milch geben. In der Vorstellungswelt des „Ein-Geschlecht-Modells“ war es durchaus möglich, dass Frauen zu Männern wurden, wenn sich etwa aufgrund eines Hitzeschube oder einer zu abrupten Bewegung urplötzlich der innere Penis nach außen stülpt.12 Durch das Aufkommen der erstmals systematisch betriebenen Anatomie in der Renaissance wurde das „Ein-Geschlecht-Modell“ nicht etwa verworfen, sondern bestätigt: anhand des geöffneten Körpers bewiesen die Anatomen die „Tatsache“, dass die Vagina ein innerer Penis sei. Bezeichnend für die Epoche, in der die Vorstellung vom „Einen Geschlecht“ dominierend war, ist außerdem das Fehlen einer präzisen Nomenklatur für die weiblichen Genitalien. Äquivalente für moderne Begriffe wie Eileiter, Vulva, Uterus oder Vagina existierten vor der Zeit des „Zwei-Geschlechter-Modells“ kaum.13

Das „Zwei-Geschlechter-Modell“ und die „Wissenschaft vom Weib“
Im Verlauf des 18. Jahrhunderts ist nun eine grundlegende Umwälzung im Verständnis des Geschlechtskörpers festzustellen – das bis heute gültige „Zwei-Geschlechter-Modell“ wird zur dominierenden Vorstellung im Denken über Geschlecht/er. Der weibliche Körper stellt nicht mehr, wie im „Ein-Geschlecht-Modell“, eine Variation eines eigentlich männlichen Grundtypus dar, sondern im Gegenteil: die Auffassung einer in der Biologie begründeten Unvergleichbarkeit, einer fundamentalen Differenz der Geschlechter gewann an Dominanz. Die Geschlechtsorgane wurden zum zentralen Unterscheidungskriterium, die Vagina wurde nicht mehr als nach innen gestülpter Penis verstanden, sondern als ein diesem entgegen gesetztes, alleine der Frau zugehöriges Geschlechtsmerkmal. Zugleich wurden geschlechtsspezifische Unterschiede von nun an am gesamten Körper ausfindig gemacht, die Geschlechterdifferenz wurde auf jedes geringste körperliche Detail bezogen. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür bietet die „Entdeckung des weiblichen Skeletts“, welches zu dieser Zeit immer häufiger anstelle eines einheitlichen Knochengerüsts in (Anatomie-)Lehrbüchern illustriert wurde.14
Claudia Honegger betont in diesem Zusammenhang die Entstehung einer „weiblichen Sonderanthropologie“15, die eine wesentliche Rolle in der im 18. Jahrhundert aufkommenden „Wissenschaft vom Menschen“ bzw. in all jenen Wissenschaften spielte, die den Menschen ins Zentrum ihres Interesses rückten. Während der Mann zum Prototyp des Humanoiden generalisiert wurde, wurde die Frau zum Studienobjekt einer mit philosophischen, psychologischen und soziologischen Ansprüchen auftretenden medizinischen Teildisziplin degradiert. Wesentlich bei der „Verwissenschaftlichung der Differenz“ war die Verschränkung von Medizin, bzw. Anatomie und Philosophie, die Idee einer integrierten Betrachtung von Körper und Seele. „Von diesen ganzheitlichen Erkenntnisinteressen werden nicht nur der Kranke und der Irre, der Mohr, der Fremde und der Wilde auf neue Art erfaßt und ins Zentrum der theoretischen Neugierde gerückt, sondern insbesondere auch das Weib…“.16 Die vergleichende Anatomie nahm dabei die Rolle der Basiswissenschaft in der entstehenden „Wissenschaft vom Menschen“, und in diesem Rahmen auch der „Wissenschaft vom Weib“ ein. Sie lieferte die Grundlage zur Bestimmung der „menschlichen Natur“.17 Charaktereigenschaften wurden immer mehr in einen direkten Zusammenhang mit der Physis des menschlichen Körpers gesetzt, allerdings je nach Geschlecht auf verschiedene Art und Weise: Beim Mann konzentrierte sich die biologische Geschlechtszuschreibung auf den äußerlich erkennbaren Penis, bei Frauen hingegen sollte das Geschlecht im Inneren mystisch verstreut sein und den gesamten Körper durchziehen. Das Interesse an dem Körperinnerem zeigte sich auch in den öffentlichen Seziervorführungen und den Organsammlungen, die zu dieser Zeit angelegt wurden und die vorwiegend aus weiblichen Geschlechtsorganen, oder Körpern von „Wilden“ bestanden. Ärzte der damaligen Zeit erkoren die Eierstöcke zu dem Determinationsmerkmal der Frau. Dabei dienten diese nicht einfach als anatomisches Unterscheidungsmerkmal zwischen den Geschlechtern, sondern Frauen galten vollkommen „eierstockbestimmt“. 18 Gemütslage, Charaktereigenschaften und Sexualität wurden in direkte Verbindung mit dem weiblichen Geschlechtsorgan gesetzt, was im Falle von als abnormal deklarierten Verhaltensweisen einer Frau sogar zur operativen Entfernung der Eierstöcke führen konnte. Entscheidend ist, dass dieser „Organdeterminismus“ nur bei Frauen angenommen wurde.

Wissenschaftlicher Fortschritt und die neue Autorität der Wissenschaften
Jeder Versuch, diese Veränderungen, also das Aufkommen des „Modells der Zwei Geschlechter“, alleine mit einem Verweis auf wissenschaftlichen Fortschritt erklären zu wollen, greift zu kurz. Wie Laqueur anhand von mehreren Beispielen demonstriert, stellte die Herausbildung der neuen Perspektive auf die menschliche Anatomie weder empirisch noch chronologisch eine logischen Folge der anatomischen Entdeckungen ihrer Zeit dar. Schon in jener Zeit, als das „Ein-Geschlechter-Modell“ dominant war, wurden Entdeckungen über den menschlichen Körper gemacht, die auch heute – innerhalb des „Zwei-Geschlechter-Modells“ – noch anerkannt sind. Sie führten aber nicht zur Infragestellung der Vorstellung vom „einen“ Geschlechtskörper, sondern wurden in dieses Modell integriert. Umgekehrt gibt es heute wissenschaftliche Erkenntnisse, die sich im Hinblick auf das „Ein-Geschlecht-Modell“ interpretieren ließen. So verweisen etwa aktuelle Erkenntnisse in der Entwicklungsanatomie „auf den gemeinsame Ursprung beider Geschlechter in einem – morphologisch gesehen – androgynen Embryo und also nicht auf ihre wesentliche Unterschiedlichkeit“.19
Unterschiede und Ähnlichkeiten in Bezug auf körperliche Beschaffenheiten wurden weder erst gestern entdeckt noch können sie in ihrer Materialität einfach wegdiskutiert werden. Welchen Merkmalen jedoch in einer bestimmten historischen Situation besondere Relevanz zukommt, darüber wird jenseits der Grenzen empirischer Forschung entschieden. „Die Tatsache, daß der herrschende Diskurs den männlichen und weiblichen Körper zu einer Zeit als hierarchisch … angeordnete Version eines einzigen Geschlechts auffaßte und zu einer anderen als horizontal angeordnete Gegensätze, … muss mit etwas anderem zu tun haben als
selbst einer großrahmigen Konstellation tatsächlicher oder vermeintlicher Entdeckungen“.20 Die Vorstellung zweier Geschlechter, die sich in ihrer körperlichen Beschaffenheit unvereinbar gegenüberstehen, prägte und prägt den Blick der Wissenschaften auf den Körper entscheidend, und umgekehrt „begründeten“ und fixierten die Wissenschaften diese Vorstellung. Wenn aber die wissenschaftlichen, speziell die anatomischen Entdeckungen in dieser Zeit für sich selbst genommen nicht der Grund für eine fundamental veränderte Vorstellung von Geschlechtlichkeit sind, was sind dann die entscheidenden Faktoren, die zu dieser Wandlung führten?
In verschiedenen akademischen Arbeiten rund um das Thema werden diese Veränderungen, trotz z. T. unterschiedlicher Begrifflichkeit21, zumeist in den Kontext der Etablierung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft gestellt. Dabei wird die Umwälzung der Wahrnehmung von Geschlechtlichkeit – je nach Forschungsschwerpunkt – mit wissenschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklungen in Verbindung gebracht, sowie deren Verstricktheit und Komplexität betont.
So lassen sich etwa durch den Blick auf die neu entstehenden Wissensgebiete bzw. wissenschaftlichen Disziplinen einige Parallelen bezüglich bestimmter Grundannahmen ausmachen, die diese nicht nur mit anderen gesellschaftlichen Bereichen teilten, sondern die auch für die Betrachtung von Geschlechtlichkeit relevant waren. Der Mensch rückte in den Blickpunkt der verschiedensten Disziplinen, die Natur geriet als Erklärungsinstanz für das Soziale in den Fokus. Sie verlieh den sie erforschenden Wissenschaften eine neuartige Autorität und diente zudem politischen Argumenten als Basis.22 Erklärungen für die vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse lagen nicht mehr in einer göttlichen Ordnung begründet, sondern waren scheinbar direkt in der Natur zu finden, deren Ordnungssysteme es ausfindig zu machen galt.23
Ein illustres Beispiel, wie Vorstellungen von einer gesellschaftlichen Ordnung sich in die Wissenschaft einschreiben und von dort ausgehend wiederum legitimierend zurückwirken, ist Linnés Klassifikationssystem von Pflanzen, welches er im Jahre 1753 erstmalig veröffentlichte. Seine Einteilung der Pflanzen und ihrer Bestandteile nach deren Geschlecht ist zutiefst sexualisiert und liest sich wie eine Beschreibung der vorherrschenden Ideen über Geschlechterrollen und –eigenschaften.24
Auch die Ähnlichkeiten und der Zusammenhang mit der aufkommenden „Rassenlehre“ und Ethnologie sind unverkennbar: Der Körper rückte, gemeinsam mit einer neuen Vorstellung vom Verhältnis zwischen Natur und Kultur, in den Blickpunkt und somit auch diejenigen, die von der sich allmählich herausbildenden Norm abwichen. Die Behauptung, dass manche Menschen näher am „Naturzustand“ seien, welcher dem Zustand des „zivilisierten Menschen“ entgegengestellt wurde, findet sich sowohl im Bezug auf nicht-weißenEuropäerInnen als auch auf Frauen.25
Die Naturalisierung sozialer Ordnungen spielte jedoch nicht nur in Bezug auf die Geschlechterhierarchie eine bedeutende Rolle. Ein anderes Beispiel stellt die ebenfalls zu dieser Zeit an Einfluss gewinnende Strömung des Liberalismus dar. Die Vorstellungen von einem schon immer bestehenden Markt mit natürlichen Mechanismen, dem nutzenmaximierenden Individuum und der unsichtbaren Hand, die ganz von alleine für die effektivste Allokation sorgt, passt ebenso in jenes Schema, nach dem Kausalitäten verdreht und gesellschaftliche Verhältnisse mit der Natur erklärt werden.

Der bürgerliche Körper
Der ideale Körper, der die stets im Hintergrund all dieser Diskurse stehende Norm darstellte, ist der Körper der sich etablierenden bürgerlichen Klasse. Als solcher ist dieser auch untrennbar mit der Selbststilisierung bürgerlicher Männlichkeit verbunden.26 Dieser Körper, sowie der neue Kult um selbigen, seine Kleidung, seine eingeübten Gestiken, seine Ausdrucksformen, fungierten einerseits als „Instrument der sozialen Klassifikation“: Er symbolisierte eine Abgrenzung gegenüber dem „außengesteuerten“ Adel, dem „Schmutz“ der Bauernschaft wie auch den ProletarierInnen, und diente so zugleich zur Selbstaffimierung der bürgerlichen Klasse.27 Andererseits wurde mit diesem neuen Körperverständnis der gesund zu haltende Leib als ökonomischer Faktor erkannt: Als wesentlich gilt die Disziplinierung der Arbeitskraft und der Erhalt der Arbeitsfähigkeit. „Dies wird nicht nur als eine neue Aufgabe des Staates verstanden, sondern auch zur Pflicht des Einzelnen erhoben“.28
Als abweichend von dem Ideal des zur Stärke und Rationalität geschaffenen bürgerlich-männlichen Körpers erschienen – neben der weiblichen Physiologie – die Körper anderer „Menschenrassen“, „Irrer“ oder „Monster“, für deren Wesen und Verhalten nach somatischen Entsprechungen gesucht wurde. Jener Körper und dessen „Natur“, der als allgemeiner Maßstab mit der Bestimmung des Menschseins an sich zusammenfiel, war ein männlicher, städtischer, „nicht-deformierter“, weißer Körper.29 Zahlreiche Beispiele belegen, dass Eigenschaften, die das Idealbild des bürgerlichen Mannes konstituierten, ins Gegenteil verkehrt all jenen Menschen zugeschrieben wurden, von dem dieser sich abzusetzen trachtete. Mit der Herausbildung des bürgerlichen Körpers ging aber auch die Stilisierung der bürgerlichen Frau einher, die zwar eine inferiore Rolle innehatte, sich aber sehr wohl von ArbeiterInnen und BäuerInnen zu unterscheiden suchte. So fungierte etwa gerade die im Bürgertum entstehende Differenzierung zwischen Männern und Frauen, Weiblichkeit und Männlichkeit, als Distinktionszeichen gegenüber Frauen anderer Klassen. Die Klassenzugehörigkeit hat durchaus Einfluss darauf, wie sehr und auf welche Art und Weise sich Geschlechteridentitäten bei Frauen und Männern abbilden – und umgekehrt.30
Ein anschauliches Beispiel dafür, wie sich die in der Gesellschaft real existierenden Ausschließungen entlang von geschlechtlichen Klassifizierungen, aber auch entlang von Klassengrenzen und rassistischen Kategorien in das Bild des „modernen Körpers“ einschreiben, stellt die von Philipp Sarasin durchgeführte Analyse der für die bürgerliche Klasse so identitätsstiftenden Hygienediskurse im 18. und 19. Jahrhundert dar. Gesundheit und Hygiene – und nicht wie zuvor allein die Verminderung des Leidens – werden zur Prämisse staatlicher wie individueller Körperpolitik.31 Anleitungen zu psychischem Verhalten, Mäßigung der Passionen, Sexualität und zur richtigen Bewegung, sowie Fragen danach, was man isst, wie man schläft oder ruht, wie man sich reinigt und kleidet, füllten Unmengen an Ratgeberliteratur, die von Bürgern – hauptsächlich Ärzten – für das Bürgertum verfasst wurde. Der Hygienediskurs bezog sich auf den Körper vom „gewöhnlichen Kulturmenschen […], der nicht so hoch geboren ist, dass wir ihn zu den Göttern zählen, und nicht so tief, dass wir ihn beim verkommensten Proletariat suchen müssen, wo Politik, Moral und Diätetik aufhören“.32 Innerhalb des Feldes des bürgerlichen Körpers wurde die Geschlechterdifferenz zu der wesentlichen Differenz stilisiert, während dem proletarischen Körper, den Körpern andere „Rassen“ sowie „Monstergeburten“ und Ähnlichem die Rolle des großen Fremden zukam. ArbeiterInnen galten als „Lumpensammler, die nie baden“ und von einer dicken Schicht an Rauch und Schweiß überzogen, Arme stanken und vom Körpergeruch „fremder Rassen“ wurde angenommen, dass er, unabhängig von ihren hygienischen Gepflogenheiten, an ihnen kleben bleibt.33 Diese und ähnliche heraufbeschworene Zuschreibungen standen im Zentrum des Hygienediskurses und waren für diesen konstitutiv. Ein weiterer Hinweis darauf, dass der männliche bürgerliche Körper als Norm vorausgesetzt wurde, zeigt sich in der Tatsache, dass nicht nur Hygieniker sich für „Rassen“ und Geschlechter interessierten. Auch Anatomen und Anthropologen (die im Übrigen, wie die Hygieniker auch, weiße, bürgerliche Männern waren) richteten ihr Augenmerk auf rassistische und sexistische Klassifikationsversuche, und gerieten dabei in ein bezeichnendes Dilemma: wie nämlich schwarze Männer – als dominierendes Geschlecht einer „minderwertigen Rasse“ – im Verhältnis zu weißen Frauen – inferiores Geschlecht der „dominanten Rasse“ – in der Ordnung der Natur einzustufen seien.34

Naturalisierung als Legitimation der Ungleichheit
Körperliche Bestimmungen, die immer untrennbar mit entsprechenden „natürlichen“ Wesensbestimmungen verbunden waren, erwiesen sich als äußerst zweckdienlich, wenn es darum ging, einerseits die gesellschaftlichen Verhältnisse zu legitimieren und zu naturalisieren, und andererseits Argumente gegen Emanzipationsforderungen zu formulieren. Die Versprechen der Aufklärung sowie die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die gegen Standesprivilegien und die feudale Ordnung ins Feld geführt wurden, brachten nicht nur neue Möglichkeiten, sondern auch eine neuartige „Begründungslast“ mit sich.35 Sie galten nämlich, entgegen der Behauptung, dass alle Menschen die gleichen Fähigkeiten und damit Anspruch auf die gleichen Rechte haben, nur für einen bestimmten Teil der Bevölkerung. Realiter standen das sich etablierende Modell der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, der Ausschluss von Frauen aus dem öffentlichen Bereich (z.B. von öffentlichen Ämtern, Universität, (politischen) Vereinen uvm.), aber selbstverständlich zugleich auch Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse entlang von Klasse und rassistischen Einteilungen, im Widerspruch zu diesen Erklärungen. Wenn universalistische Forderungen nach menschlicher Freiheit und Gleichheit nicht ad absurdum geführt und Ungleichheiten vor dem Hintergrund aufgeklärten Denkens gerechtfertigt werden sollten, musste die radikale (biologische) Verschiedenheit eines Teils der Menschheit nachgewiesen werden.
Mit Verweis auf ihre Biologie wurden Frauen gerade jene Fähigkeiten und Eigenschaften – nämlich vernunftbegabte, zu autonomen Handeln fähige Geschöpfe zu sein36 – abgesprochen, die den Menschen im Sinne der Menschen- und Bürgerrechte als Menschen kennzeichnen und somit auch das Recht, vollwertige Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft zu sein. Nur um ein Beispiel zu nennen: der französische Nationalkonvent zitierte regelmäßig aus Anatomielehrbüchern, um die Vorenthaltung von Bürgerrechten für Frauen zu rechtfertigen.37 Die Natur und nicht die Menschen soll die Ungleichheit geschaffen haben.

Pathologisierung moralischer Abweichung
Die Position, die Frauen in der neuen sozialen Ordnung nach den geistigen, ökonomischen und politischen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts – innerhalb einer nach wie vor patriarchalen Gesellschaft – einnehmen sollten, war jedoch keines Falls von Anfang an klar. Die (Geschlechter-)Rolle der Frau in dem hier beschriebenen „Zwei-Geschlechter-Modell“ bildete sich erst allmählich im Zuge etlicher Konfrontationen heraus.38 Die physiologische Basis für die Ungleichheit von Frauen wurde nicht zuletzt gerade zu jener Zeit „entdeckt“, als Frauenbewegungen die Versprechen der Aufklärung und des Staatsbürgertums auch für sich einforderten.
Die Forderungen der „modernen Frau“ des Bildungsbürgertums nach Bildung, Beruf, politischen und ehelichen Rechten – die von Seiten sozialistischer FrauenrechtlerInnen immer mit der Frage nach der Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise verbunden wurden39 – riefen eine wachsende Anzahl von Medizinern, Politikern, Lehrern, Pfarrern, (Rassen-)Hygienikern, völkisch-nationalistischen Interessensverbänden und ähnlichen Gestalten auf den Plan, die ihre Ansichten über das weibliche Geschlecht zum Besten gaben. Das taten diese Herren – wie im Übrigen die zuvor erwähnten Philosophen, Ärzte und Möchtegern-Ärzte auch – in der noch relativ jungen bürgerlichen Öffentlichkeit, die einen konstitutiven Teil des sich herausbildenden bürgerlich-kapitalistischen Nationalstaates darstellte. In diesen Diskursen um die weibliche Natur standen nicht so sehr der sozialistische, sondern eher der bürgerliche Flügel der Frauenbewegung im Mittelpunkt der Kritik, die oftmals ideologisch mit Antismemitismus, Nationalismus und Antisozialismus einherging.40 Die Polemiken gegen die – in diesem Fall also bürgerliche – Frauenbewegung zielten auf die sexuelle Diffamierung der ProtagonistInnen und stützten sich auf die Behauptung, dass das weibliche Geschlecht biologisch minderwertig und somit nicht dafür geschaffen sei, außerhäusliche Aufgaben zu übernehmen. Politische Tätigkeit von Frauen, im schlimmsten Fall in emanzipatorischer Absicht, wurde als vermeintliche Verfehlung des weiblichen Lebenszwecks verhandelt: Frauen, die in der Hausarbeit und Kindererziehung nicht ihre Bestimmung sahen, wurden für „seelisch krank“ erklärt. So war z.B. in Tageszeitungen zu lesen, die Frauenbewegung sei „die tosende Revolution derer, die nicht Frau sein können und nicht Mutter sein wollen“ und bestehe aus einem Haufen „alter Mädchen“, Witwen und „sterilen Frauen“.41 Die von den „Ultrademokraten“ (sic!),und „weiblichen Amazoninnen“ (sic!) geforderte Gleichstellung brächte unweigerlich den Umsturz der Gesellschaftsordnung mit sich und sei daher absolut abzulehnen.42 An der sexuellen Pathologisierung der Frauenbewegung wurde nicht zuletzt in medizinischen Zeitungen „gearbeitet“: FrauenrechtlerInnen wurden für homosexuell erklärt und die lesbische Liebe zugleich als eine in der Frauenbewegung grassierende „geistige Seuche“ diskreditiert. Gesellschaftliche Devianz, also das Verlassen des gesellschaftlichen Normbereichs, wurde mit Pathologisierung sanktioniert. Der wachsende Konsens im Diskurs der bürgerlichen Öffentlichkeit, Abweichung als Krankheit und nicht (nur) als moralischen Fehltritt zu verstehen, verwies zugleich eine besondere Zuständigkeit für diese Fragen an die Mediziner. Sie waren die Experten wenn es darum ging, Verbindungen zwischen Verhalten, Seele und Körper wissenschaftlich zu belegen. Von selbigen wurde zugleich die jeweils entsprechende, normalisierende Behandlung angeboten.43
Die Anormalisierung betraf nicht nur FrauenrechtlerInnen, sondern alles, was nicht ins Wissenssystem des „Zwei-Geschlecht-Modells“ passte. Pathologisierungen von Transund Intersexuellen bis zur so benannten Sterilität bildeten und bilden zum Teil immer noch die Flanken der strengen Geschlechterunterscheidung.

Eine Arbeitsteilung, wie sie die Natur verlangt?
Vor allem aber wurden Frauenbewegungen und ihre AnhängerInnen als eine Bedrohung für den als Organismus gedachten Staat gesehen, als Bedrohung für die Familie, den angeblichen Kern dieser gesellschaftlichen Ordnung. Die Familie sei die „Pflanzschule“ der bürgerlichen Gesellschaft, ihre Zerstörung durch die Aufhebung der „natürlichen“ geschlechtlichen Arbeitsteilung würde unweigerlich zum Verfall des „freien, würdigen Staatswesens“ führen.44 In diesem Zusammenhang erweist sich der Diskurs über die sozialen Rollen sowie über die psychische und physische Beschaffenheit der zwei Geschlechter als ideologische Abstützung der sich herausbildenden Form geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, in der (bürgerlichen) Frauen die Hausarbeit zugewiesen wurde, bzw. diese gar darauf reduziert wurden. Ohne die die realen Geschlechterverhältnisse eins zu eins wieder zu spiegeln, entstehen Aussagen über „das Wesen der Geschlechter“ doch immer im Erfahrungszusammenhang der sozioökonomisch realen gesellschaftlichen Verhältnisse sowie der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung.45
Zwar gab es patriarchale Herrschaftsverhältnisse schon vor der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung, doch erhielten diese nun eine neue Qualität. Faktoren wie der Veränderung von Arbeitsverhältnissen und damit einhergehend von Familienstrukturen und der (räumlichen und qualitativen) Trennung von Lohn- und Hausarbeit kommt dabei eine wesentliche Bedeutung zu – wobei damit natürlich noch lange nicht geklärt ist, wieso ausgerechnet die Frau jenen speziellen Part in der Arbeitsteilung übernehmen sollte. Im Vergleich zu früher wurde nun einzig die Frau und nicht mehr der Mann (Haushaltsvorstand) durch die Familie definiert.46
Die vermeintliche psychische und physische Konstitution der Frau wurde passend zu ihrem „Fortpflanzungs“- bzw. „Gattungszweck“ und der dazu als optimal erachteten patriarchalischen monogamen Ehe bestimmt. Den als Kontrastprogramm konzipierten Eigenschaften zufolge sei der Mann von Natur aus kräftig, aktiv, rational usw., und somit für den öffentlichen Raum, die Frau hingegen ihrem Wesen nach abhängig, emotional, passiv usw., und von Natur her für den häuslichen Bereich bestimmt.
Es stellt sich jedoch die Frage, in welchen gesellschaftlichen Klassen und Schichten diese Art der Arbeitsteilung zusammen mit der dazugehörigen Dichotomisierung der Geschlechtercharaktere überhaupt anzutreffen war. Weder in bäuerlichen Familien, deren Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse im 18. Jahrhundert nicht mit denen einer bürgerlichen Familie vergleichbar waren, noch im Proletariat korrespondierte dieses Modell mit der gesellschaftlichen Realität. In ArbeiterInnenfamilien reichte das Einkommen des Mannes nicht aus, um den Familienbedarf zu decken, es verstand sich daher von selbst, dass Frauen und Kinder auch lohnarbeiteten. Von einer ausschließlichen Zuständigkeit der Frau für die Familie konnte vorerst keine Rede sein. Mit Phänomenen der gesellschaftlichen Realität korrespondierte dieses Modell zunächst einzig und alleine dort, wo es auch entstanden ist, nämlich im gebildeten Bürgertum.47

Staatliche Regulierungen
Die Verallgemeinerung des bürgerliche Körpermodells, der dazu passenden Geschlechterrollen, des Familienmodells und der spezifischen, ideologisch untermauerten Arbeitsteilung fand erst nach und nach, im Laufe des 19. Jahrhunderts statt. Vermehrt wurden Bemühungen sowohl seitens des bürgerlich-kapitalistischen Nationalstaates als auch seitens der einen Teil dieses Staates verkörpernden bürgerlichen Öffentlichkeit angestellt, auch bei Arbeiterinnen den richtigen „Familiensinn“ zu wecken und auf ihre „Bestimmung als Gattin, Hausfrau und Mutter“ hinzuweisen – ungeachtet der Tatsache, dass diese bereits zuvor sehr wohl auch für die Reproduktionsarbeit zuständig waren, freilich ohne ihren ganzen Arbeitstag Haushalt und Familie widmen zu können. Die „Stabilisierung der Familienverhältnisse“ galt als ein sicherer Weg zu Lösung der „sozialen Frage“.48
Mit der Etablierung des Nationalstaates erstreckte sich die Aufwertung der „Mutterschaftsleistung“ nicht mehr nur auf BürgerInnen, sondern auch auf den unter Aspekten der Bevölkerungspolitik betrachteten „Gattungskörper“ der Arbeiterinnen und dessen Reproduktionsleistung. Im 19.Jahrhundert wurde vielfach über die Fabrikarbeit von verheirateten Frauen debattiert, wobei dieser die Schuld an einer ganzen Reihe von sozialen Missständen zugeschrieben wurde, von der Verwahrlosung des Haushalts über Alkoholismus des Ehegatten bis zur Unterminierung des Nationalstaates.49 Mutterschutzgesetze, Regelungen zur Nachtarbeit für Frauen etc. wurden nach und nach eingeführt, die Geschlechterordnung also mittels gesetzlichen Regulierungen von staatlicher Seite (mit-)geformt und fixiert. Besonders die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in Bezug auf Erwerbs- und Hausarbeit wurde über den Staat organisiert, durchgesetzt und institutionell abgestützt. Frauen wurden als besonders schutzbedürftig konstruiert, als Wesen, die im Gegensatz zu männlichen Arbeitern staatlicher Fürsprache bedürften.50 Interventionen im Hinblick auf Familiengestaltung, Sexualität und Gesundheit wurden zum staatlichen Programm.51
Vor allem im Hinblick auf Staatsformierung und Kriege wurden dem männlichen Geschlechtscharakter neben Disziplin und Arbeitsfähigkeit auch Wehrhaftigkeit und soldatische Tugenden zu- und eingeschrieben, überspitzt und bildhaft formuliert, der Männerleib zum „Maschinenkörper“ stilisiert. Diesem stand auf weiblicher Seite der nach Kriterien von Mutterschaft und familiärer Reproduktion betrachtete „Gattungskörper“ gegenüber. Der weibliche Körper sollte zwar auch Kraft, Ausdauer und Disziplin zeigen, jedoch ausgerichtet auf seine „Mutterschaftsleistung“.52 Die auf die Bevölkerung als zu erfassendes und regulierendes Objekt einerseits sowie die auf Disziplinierung des Individualkörpers andererseits zielende staatliche Politik, besaß und besitzt auch heute noch eine geschlechtsspezifische Komponente.

Schluss
Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen lässt sich resümieren, dass „Geschlecht“ in einem umfassenden Sinne – also sowohl im Bezug auf Geschlechterrollen als auch verstanden als Geschlechtskörper – das Resultat eines langwierigen, historischen Prozesses ist. Die Vorstellung eines a-historischen, natürlichen Geschlechtskörpers, sowie die darauf fußende Annahme einer vermeintlichen, biologisch-anatomisch eindeutigen Geschlechterdifferenz, erweisen sich selbst als Produkt gesellschaftlicher Dynamiken, die im 18. Jahrhunderts anzusiedeln sind. Die Entstehung des Modells der Zweigeschlechtlichkeit muss im Kontext der Durchsetzung bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse gesehen werden, ohne natürlich den Fehler zu begehen, die Geschlechterordnung als bloßen „Effekt des Kapitalismus“ darzustellen. Vielmehr ist diese, in ihrer Eigenständigkeit als gesellschaftliches Macht- und Herrschaftsverhältnis, inhärent mit der Hegemonialwerdung der bürgerlichen Klasse verbunden. Die Dominanz des gegenwärtigen Geschlechterdiskurses kann als Resultat einer sukzessiven gesellschaftlichen Verallgemeinerung des zunächst bürgerlichen Geschlechtsdiskurses verstanden werden. Diese These besagt jedoch weder, dass die Geschlechterordnung „früher“ besser oder schlechter war, noch, dass die Zweigeschlechtlichkeit konstitutiv für den Kapitalismus ist und dieser somit ohne ihr nicht bestehen könne. Vielmehr, und das ist ein wesentlicher Punkt, geht es darum zu zeigen, dass die Ordnung der Geschlechter, auch in körperlicher Hinsicht, historisch variabel und damit auch veränderbar ist. Ein Grund mehr, sich gegen die „Zumutung“ zu positionieren, sich entsprechend dem „Geschlecht des eigenen Körpers“ 53 verhalten zu müssen.

Anmerkung
1 Nach ihrem Sieg und aufgrund ihrer Größe und muskulösen Körperbaus kamen Zweifel auf, ob es sich bei der Sportlerin denn wirklich um eine Frau handle. Die Probleme, die die International Association of Athletics
Federations (IAAF) mit der Einordnung von AthletInnenen in die Geschlechterdichotomie hat, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass seit dem Jahre 2000 zumindest bei den Olympischen Spielen alle Geschlechtstests wieder abgeschafft sind.
2 Pionierarbeit in Bezug auf Körpergeschichte wurde vor allem in den USA und in Australien geleistet. Im deutschsprachigem Raum fasste das Thema erst in den 90er Jahren richtig Fuß (vgl. Lorenz, Maren: Leibhaftige Vergangenheit. Tübingen 2000, S. 9).
3 Vgl. Gallagher, Catherine (Hg): The Making of Modern Body. 1987, S.VII
4 Hof, Renate: Einleitung: Geschlechterverhältnis und Geschlechterforschung. In: Bußmann/Hof. Genus. Geschlechterforschung. Stuttgart 2005, S.16
5 Z.B. von Claudia Honegger, Barbara Duden, Karin Hausen, Ute Frevert, uvm.
6 Die Fallbeispiele in den Forschungsarbeiten beziehen sich auf Gebiete des heutigen Europas. Wie weit die Ergebnisse auch für andere Teile der Welt gültig sind, kann im Rahmen dieses Artikels nicht beantwortet werden.
7 Vgl. Laqueur, Thomas: Auf den Leib geschrieben. Frankfurt/Main 1992, S. 36
8 Kleidungs- und Verhaltenswechsel konnten folglich zu massiver Verwirrung führen – es sei hier z.B. an die unglaublichen Konfusionen erinnert, die in den Stücken Shakespears durch Geschlechtsrollentausch erzeugt werden können (vgl. Maihofer, Andrea: Geschlecht als Existenzweise. Frankfurt/Main 1995, S. 30 und auch Laqueur a.a.O., S. 21)
9 Laqueur, a.a.O., S. 17
10 Laqueur, a.a.O., S. 50
11 Laqueur, a.a.O., S. 52
12 Laqueur, a.a.O., S. 158. Die Historikerin Barbara Duden hat sich in ihren empirischen Studien anhand von Krankenberichten und ärztlichen Protokollen aus dem frühen 18. Jahrhundert der Frage nach dem Körper verständnis von Frauen gewidmet. Es zeigt sich, dass die Art und Weise, wie die eigenen Körper wahrgenommen wurden, der These des „Ein-Geschlecht-Modells“ durchaus entspricht (vgl. Duden, Barbara: Geschichte unter der Haut. 1987).
13 Laqueur, a.a.O., S. 114
14 vgl. Schiebinger, Londa: Skeletons in the Closet: The First Illustration of the Female Skeleton in Eighteenth-Century Anatomy. In: Gallagher, Catherine (Hg): The Making of Modern Body. 1987, S. 42–82. Der Medizinhistoriker Michael Strolberg argumentiert dagegen, dass es bereits im 16. Jahrhundert zweigeschlechtliche Unterscheidungen von Skeletten gegeben habe (vgl. Strolberg, Michael: A woman down to her bones. in: Isis, Vol. 94, No.2. (Jun., 2003) S. 274-299
15 Honegger, Claudia: Die Ordnung der Geschlechter. Wissenschaft vom Menschen und das Weib 1750-1850. Frankfut 1991. S. 168f
16 Honegger, a.a.O., S. 8
17 Honegger a.a.O., 191, 42; vgl.179f.
18 Laqueur a.a.O., 172, 200ff.
19 Laqueur, a.a.O., S. 23
20 Laqueur, a.a.O., S. 23
21 Bei allen Parallelen – wie bereits erwähnt besteht weitgehend Einigkeit was die zeitliche Einordnung der Umwälzungen betrifft – gibt es doch auch Unterschiede in der analytischen Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse. So wird nicht immer die Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse in den Mittelpunkt gerückt, sondern unter anderem vom Übergang von der „traditionellen” zur “modernen Gesellschaft“ bzw. zur „Industriegesellschaft“ gesprochen.
22 Vergleiche hierzu: “Engels, Ian (2009). Marx, Engels…und Darwin? In: Perspektiven nr. 9.
23 Vgl. Honegger, a.a.O., S. 135, 191
24 vgl. Schiebinger, Londa: Das private Leben der Pflanzen. Geschlechterpolitik bei Carl von Linné und Erasmus Darwin; in: Hagner, Michael (Hg.): Ansichten der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt 2001, S. 107-133
25 Sömmering hatte 1785 bereits „Ueber die körperliche Verschiedenheit des Negers vom Europäer“ veröffentlicht. Nicht nur der Titel, sondern auch die vergleichende Argumentation verweisen auf die ähnliche Vorgehensweise in der Rassen- und Geschlechterkunde (vgl. Honegger, a.a.O., S. 111-117, 170ff.).
26 vgl. Maihofer, a.a.O., S. 26, 36
27 vgl. Duden, Barbara: Geschichte unter der Haut. 1987. S. 28
28 Maihofer, a.a.O., S. 37
29 vgl. Sarasin, Philipp: Reizbare Maschinen. Frankfurt/Main 2001, S. 25, 211
30 Frevert, Ute. in: Eifert, Christiane (Hg.): Was sind Frauen? Was sind Männer? Frankfurt/Main 1996, 139ff.
31 vgl. Maihofer, a.a.O., S. 37
32 zit. nach Sarasin, a.a.O., S. 207. vgl. auch S. 189
33 vgl. Duden, a.a.O., S. 29
34 vgl. Schiebinger, Londa: Anatomie der Differenz, in: Feministische Studien, 11.Jhg., Mai 1993, Nr. 11. S. 48-64, S. 49, 60
35 vgl. Maihofer, a.a.O., S. 31
36 Ebd., S. 161
37 vgl. Schiebinger a.a.O. 1993, S. 61
38 vgl. vgl. Schiebinger, Londa: Skeletons in the Closet: The First Illustration of the Female Skeleton in Eighteenth-Century Anatomy. In: Callagher, a.a.O., S. 67 und Laqueur, a.a.O., S. 220
39 Gerhard, Ute: “Bis an die Wurzeln des Übels”. Rechtsgeschichte und Rechtskämpfe der Radikalen, in: Feministische Studien, Heft 1, 1984, S. 77-99, S. 81
40 Aus diesem Grund bleibt „proletarischer Antifeminismus“, wie es ihn etwa seitens der Sozialdemokratie gegeben hat, in dieser Betrachtung außen vor.Vgl. Planert, Ute: Mannweiber, Uriniden, und sterile Jungfern. Die Frauenbewegung und ihre Gegner im Kaiserreich, in: Feministische Studien, Heft 1, 2000, S. 22-36, S. 22
41 vgl. Planert, Ute: Der dreifache Körper des Volkes. Sexualität, Biopolitik und die Wissenschaft vom Leben, in: Geschichte und Gesellschaft, 26.Jhg., 2000, S. 539-407, S. 558
42 vgl. Frevert, Ute (Hg.): Bürgerinnen und Bürger. Göttingen 1988, S.13
43 vg. Hirschauer, Strefan: Wie sind Frauen? Wie sind Männer? Zweigeschlechtlichkeit als Wissenssystem, in: Eifert, Christiane: Was sind Frauen? Was sind Männer? Frankfurt/Main 1996, S. 240-256, S. 245
44 vgl. Frevert a.a.O., S. 12f.
45 Hausen, Karin: Die Polarisierung der “Geschlechtscharaktere” – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Conze, Werner (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgard 1976, S. 263-394, S. 363
46 vgl. ebd., S. 375
47 vgl. ebd., S. 376ff., S. 383
48 vgl. ebd.
49 Planert 2000, S.552-555
50 Schmitt, Sabine: Der Arbeiterinnenschutz im deutschen Kaiserreich. Zur Konstruktion der schutzbedürftigen Arbeiterin. Stuttgart 1995. S.16f.
51 Auch die männliche Sexualität wurde thematisiert, etwa im Bezug auf Onanie, oder später von Wahnsinnigen und Rassentheoretikern wie etwa Lanz von Liebenfels, der eine Art Anleitung für Männer zur Erzeugung schöner Kind verfasste. Allerdings war diese im Vergleich zu der weiblichen Sexualität eher von zweitrangigem Interesse. (planert 2000: 567ff.)
52 vgl. Planert 2000, S. 547-553
53 vgl. Maihofer a.a.O., S. 95





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