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Eliten-Bildung
von Michael Hartmann, Julia Hofmann, Florian Reiter

Trotz großer länderspezifischer Unterschiede gewinnen Eliten in ganz Europa an Macht und
Einfluss. Florian Reiter sprach mit dem Soziologen Michael Hartmann über die soziale Herkunft der Eliten und die Rolle des Bildungssektors in ihrer Reproduktion.

Wenn man über Eliten spricht, überkommt eineN meist das unangenehme Gefühl der Machtlosigkeit. Wie groß ist der Einfluss von Eliten in der Gesellschaft überhaupt und welche kollektiven oder strukturellen Möglichkeiten gibt es, den Einfluss von Eliten zu vermindern?

Der Einfluss der Eliten ist sehr groß, weil sie gesellschaftlich maßgebliche Entscheidungen in einem relativ kleinen Kreis treffen können. Wenn beispielsweise das höchste Gericht entscheidet, dass Studiengebühren zulässig sind, bedarf es schon sehr massiver Proteste von unten – die viel schwerer zu organisieren sind als die kleinen Kreise oben – um das wieder zu Fall zu bringen. Das ist in der Wirtschaft sehr ähnlich. Wenn bei Daimler entschieden wird, die Mercedes C-Klasse in den USA zu produzieren, dann kommt diese Entscheidung relativ schnell zustande, weil sich da nur ein paar Leute verständigen müssen. Um diese Entscheidung wieder zu kippen, müssten sich unten etliche tausend Beschäftigte organisieren. Das ist nicht unmöglich, aber sehr viel schwieriger. Eliten können sehr viel schneller und unmittelbarer entscheiden, so dass das in der Realität dann auch schnell wirksam wird. Widerstand muss immer in der Breite organisiert werden, aber es gibt Beispiele, bei denen das erfolgreich funktioniert hat. Zum Beispiel konnten in Hessen die Studiengebühren durch massive Proteste der Studierenden wieder abgeschafft werden. Damit hat niemand gerechnet, weil Studiengebühren ein Lieblingskind der Eliten waren. In Österreich sind die Studiengebühren ja auch wieder abgeschafft worden. Das heißt, es ist möglich, aber es ist schwer, weil man viele Menschen um ein bestimmtes Anliegen herum organisieren muss und der Widerstand auch eine gewisse Dauer haben muss. Wenn man das nur punktuell macht, dann lassen sich Eliten davon nicht beeindrucken. Es gibt nur eine Möglichkeit, Eliten etwas entgegenzusetzen: breite Teile der Bevölkerung müssen sich organisieren. Wie die Organisierung konkret aussieht, das ist höchst unterschiedlich. Das können eher locker organisierte Bewegungen wie die Antikriegs- oder die Antikernkraftbewegung sein, das können Gewerkschaften sein oder parteiähnliche Strukturen. Oder auch eine Bewegung wie in Österreich bei den jüngsten Studierendenprotesten. Aber ohne organisierten Widerstand gibt es keine Möglichkeit, den Einfluss von Eliten zu vermindern.

In ihrem Buch „Eliten und Macht in Europa“ definieren sie drei für Europa zentrale Elitentypen, politische und ökonomische Eliten sowie Eliten der Justiz und der Verwaltung. Diese zeichnen sich Ihrer Meinung nach dadurch aus, „dass sie in der Lage sind, qua Position maßgeblichen Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen zu nehmen.“ Woher kommen diese Eliten? Welche gesellschaftlichen Instanzen tragen zu ihrer Herausbildung oder Reproduktion bei?

Das ist von Land zu Land sehr unterschiedlich. Generell kann man sagen, dass in den meisten Ländern die Wirtschafts- und die Justizelite in ihrer großen Mehrheit aus bürgerlichen oder großbürgerlichen Familien stammen. Bei der Justizelite gilt das mit Abstrichen sogar für Skandinavien. Das ist bei der Verwaltungselite und bei der politischen Elite schon sehr viel unterschiedlicher. Bei der politischen Elite kann man traditionell bspw. in Frankreich feststellen, dass sie fast genau so zusammengesetzt ist wie die wirtschaftliche Elite (d.h. ein Anteil von mindestens drei Viertel an Bürger- und GroßbürgerInnenkindern). Auch in Spanien und Portugal ist die Zusammensetzung sehr ähnlich. Trotz weniger starker Ausprägung trifft das auch auf Großbritannien zu. Demgegenüber hatten die meisten anderen europäischen Länder zumindest bis Ende des letzten Jahrtausends politische Eliten, die eher aus kleinbürgerlichen Kreisen stammten. Das ist in Österreich noch immer zu beobachten und war typisch für die Mehrzahl der europäischen Länder. Bei der Verwaltungselite gab es eine Zweiteilung: Es gab ein paar große Länder, wie Frankreich oder Großbritannien, Deutschland und Spanien, in denen die Verwaltungselite auch eher bürgerlich oder großbürgerlich geprägt war. Es gab aber eine Mehrheit an Ländern wie Italien, Österreich, die Benelux-Staaten, Skandinavien, in denen die Verwaltungselite kleinbürgerlich geprägt war. Das hat sich bei der politischen Elite in vielen Ländern in den letzten zehn bis 15 Jahren geändert. Die politische Elite, vor allem in Deutschland, ist sehr viel bürgerlicher geworden. Inzwischen ist sie fast so zusammengesetzt wie die anderen Eliten auch. Statt zu zwei Dritteln aus der Arbeiterschaft oder den Mittelschichten, wie es in den fünf Jahrzehnten seit 1949 stets der Fall war, kommen die Mitglieder der aktuellen Bundesregierung zu zwei Dritteln aus dem Bürgeroder Großbürgertum.
Die Instanzen, die zur Elitenbildung beitragen, sind europaweit sehr unterschiedlich. Es gibt drei Grundtypen. Der erste Typ, und das trifft auf Frankreich und Spanien zu, zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es elitäre Bildungsinstitutionen und/oder Eliteinstitutionen in der staatlichen Verwaltung gibt, von denen aus Karrieren in der Wirtschaft und in der Politik gestartet werden. Den zweiten Typ repräsentiert Großbritannien. Dort gibt es zwar Elitebildungsinstitutionen, aber keine Querverbindungen zwischen den Elitesektoren. Und der dritte Typ, das wären alle anderen Länder. Diese kennen, bisher jedenfalls, keine Elitebildungseinrichtungen und es kommt nur in wenigen Fällen zu einem Wechsel zwischen den verschiedenen Elitesektoren. Auch wenn in dieser Beziehung eine starke Zunahme festzustellen ist, vor allem in Deutschland, ist das entscheidende Kriterium für die Homogenität und damit auch die Stärke der Eliten in diesen Ländern noch immer die soziale Herkunft.

Das Bildungssystem spielt ja eine zentrale Rolle bei der Herausbildung bzw. der Reproduktion von Eliten. Welche Aufgabe hat es hier primär zu erfüllen? Wie wichtig ist die Qualität der Ausbildung? Wie wichtig die Herausbildung sozialer Netzwerke und das Erlernen eines klassenspezifischen Habitus?

Die zentrale Aufgabe der Bildungsinstitutionen ist die Selektion. Das heißt, wenn man den Blick auf die Eliten richtet, geht es vor allem darum, einen möglichst kleinen Teil einer Generation aus der Masse herauszufiltern. Das passiert auf sehr unterschiedliche Weise. Am effektivsten ist sicherlich Frankreich, wo an den drei führenden grandes écoles1 nur knapp 1000 Personen aus einem Jahrgang aufgenommen werden, die dann für jede höhere Position in Frage kommen. Die Situation ist in Großbritannien durch die Eliteuniversitäten und die public schools ähnlich, wenn auch die Gruppe, die in diese Institutionen aufgenommen wird, größer ist als in Frankreich.
In den meisten Ländern, wie in Deutschland oder in Österreich, geht es prinzipiell erstmal darum, dass diejenigen, die nicht studieren, praktisch keine Chance haben, in die Elite zu kommen. Das heißt die Entscheidung „Studium ja oder nein?“ ist eine wesentliche Selektionsentscheidung, aber es bleiben dadurch natürlich noch immer mehr als genug Personen übrig – viel mehr, als Elitepositionen zu Verfügung stehen. Daher gibt es dann weitere Selektionsmechanismen im späteren Berufsleben. Es gibt in diesen Ländern zwar soziale Netzwerke, die unterstützend wirken können, aber die sind nicht besonders stark. In Österreich sind sie zwar etwas bedeutender als in Deutschland (v.a. weil das Land kleiner ist), aber eigentlich kann man nicht wirklich von effektiven Netzwerken reden. Die Qualität von Netzwerken ist in der Regel daran gebunden, dass die entscheidenden Bildungsinstitutionen nicht zu groß sind. Daher gibt es sehr effektive Netzwerke in Frankreich und Großbritannien (wie bspw. die Etonians2). In den meisten europäischen Ländern existieren solche effektiven Netzwerke nicht, da die Massenuniversitäten dafür zu groß geworden sind.
Auch die Herausbildung eines klassenspezifischen Habitus passiert in den meisten Ländern nicht an den Bildungsinstitutionen, da sie auch dafür zu heterogen sind. Selbst an einer Eliteuniversität wie der LMU3 in Deutschland sind über 40.000 Studierende. Da lässt sich kein einheitlicher Habitus herausbilden, er kann nur ergänzt oder verfeinert werden. Das ist in Ländern wie Frankreich oder Großbritannien anders. Dort haben Bildungsinstitutionen sicherlich einen größeren Einfluss auf den Habitus. Das gilt besonders für Großbritannien, weil dort die Kinder in sehr frühen Jahren schon in Internate kommen. Das fängt an den preparatory schools ja schon mit sieben Jahren an, spätestens aber an den public schools mit dreizehn. Da prägen die Schulen die Personen schon sehr stark.
Die Qualität der Ausbildung ist kein entscheidendes Kriterium. Es muss eine durchschnittliche Hochschulausbildung gewährleistet werden, aber die Institutionen müssen in ihrer Qualität nicht herausragend sein, schon gar nicht in ihrer wissenschaftlichen Qualität. Sieht man sich Frankreich an, so zeigt sich, dass die für die zentralen Eliten wichtigen grandes écoles wissenschaftlich nicht überragend gut sind, aber darauf kommt es auch nicht an. Ihre Funktion ist es primär, Eliten herauszubilden, und da sind andere Merkmale entscheidend als eine besonders gute fachliche Ausbildung. Die lernen an den französischen grandes écoles schlicht und einfach wie man in Führungspositionen agiert, wie man schnell Entscheidungen trifft, etc. Das hat mit fachlicher Qualität erstmal nichts zu tun.

Wie und wann lernen sich Kinder und Jugendliche als Eliten zu begreifen?

Das ist auch von Land zu Land unterschiedlich. Wenn man in Großbritannien in relativ jungen Jahren nach Eton kommt, dann ist klar, dass man später zur Elite gehört. Einem Etonian ist das mit dreizehn Jahren schon bewusst. Das geschieht in Frankreich etwas später, aber wenn man mit 18 oder 19 in eine classe préparatoire in einem berühmten Pariser Gymnasium kommt, dann weiß man auch, dass man es schon fast geschafft hat. Spätestens wenn sie dann an einer renommierten grande école aufgenommen werden. Also noch während der Ausbildung. Das ist in den meisten anderen europäischen Ländern nicht so. Da wird die Entscheidung, ob man dazugehört oder nicht, erst nach dem Abschluss der Ausbildung getroffen. Das heißt, dass das Bildungssystem nur eine grobe Vorentscheidung trifft. Wenn man beispielsweise in Deutschland oder Österreich das Studium der Wirtschaftswissenschaften absolviert hat, hat man eine Chance mal eine Eliteposition zu bekleiden, aber mehr auch nicht. Dafür gibt es einfach zu viele AbsolventInnen. Von daher begreifen sich Kinder und Jugendliche in Ländern mit ausgeprägten Elitebildungsinstitutionen sicherlich früher als Elite. Was man in den letzten Jahren, unabhängig vom Ausbildungssystem, beobachten kann, ist eine Homogenisierung von Wohnquartieren und Lebensmilieus, so dass die Kinder und Jugendlichen zunehmend nur mehr mit ihresgleichen zu tun haben, und da kann man schon feststellen, dass sie in relativ frühen Jahren ein Gesellschaftsverständnis haben, welches in etwa folgendermaßen aussieht: Es gibt oben die „Leistungsträger“ (das sind die Eliten und insgesamt die oberen zehn Prozent der Bevölkerung), dann die Mitte der Bevölkerung, und unten die „Nieten, Sozialschmarotzer oder Nicht-Leister“. Das hat es in Deutschland vor zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren nicht gegeben, aber das gibt es jetzt auch schon bei 14-, 15-jährigen, die ein Verständnis von einer quasi biologischen Unterteilung der Gesellschaft haben. Sie gehören in diesem Bild eben zu denen, die oben sind, und das finden sie auch völlig normal.

Können Kinder aus Mittel- oder Unterschichtshaushalten überhaupt zur Elite werden? Wie sozial geschlossen sind Eliten als Gesellschaftsschicht?

Das ist schon möglich, vor allem in der politischen Elite. Da haben Angehörige der Mittel- und Unterschichten die Mehrheit der Elite gestellt, weil man dort hinein gewählt werden muss. Vor allem die großen Volksparteien konnten, solange sie noch mitgliederstark waren, durch ihre relativ stabilen Basisstrukturen dafür sorgen, dass die Parteibasis einen erheblichen Einfluss auf die KandidatInnenaufstellung hatte. Wenn da jemand zu großbürgerlich war, dann ist er einfach nicht aufgestellt worden. Das war bei den anderen Eliten schon schwieriger. Am ehesten gab es noch soziale Durchlässigkeit in der Verwaltungselite, weil es da bis zu einem gewissen Grad formalisierte Aufstiegswege gab. Bei der Wirtschaftselite waren und sind das immer Ausnahmen geblieben, wenn man von Skandinavien absieht. In den meisten Ländern ist die Wirtschaftselite doch relativ geschlossen. Man muss jedoch dazu sagen, dass es da auch Besonderheiten gibt. In Österreich etwa mit der Raiffeisenbank: Das ist keine klassische Großbank, sondern eine genossenschaftliche Struktur, und da gibt es auch andere Aufstiegswege. Genauso beim gesamten öffentlich-rechtlichen Sektor. Das heißt bei allen Wirtschaftsunternehmen, die sich mehrheitlich im Besitz von Städten, Bundesländern oder Staaten befinden, sind die Aufstiegswege anders als in der Privatwirtschaft, weil in diesen Fällen politische Einflüsse eine zentrale Rolle spielen. Da haben ArbeiterInnenkinder oder Mittelschichtskinder eine größere Chance aufzusteigen.

Sie schreiben, dass Österreich hinsichtlich seiner politischen Eliten sozial eher durchlässig ist und einen überproportional hohen Anteil an ArbeiterInnen an der politischen Elite hat. Was kann von ihnen tatsächlich bewirkt werden? Entfernen sie sich nicht durch ihren Elitenstatus vom Bewusstsein ihrer sozialen Herkunft?

Sie müssen sich sicherlich ein erhebliches Stück von ihrem Herkunftsmilieu entfernen. Aber das ist ein langer Prozess. Man wird ja nicht sofort Minister, sondern man entfernt sich Stück für Stück von der eigenen Herkunft. Das beste Beispiel ist in Deutschland Gerhard Schröder. Er ist nach seinem Ausscheiden aus der Politik in ein vollkommen anderes Milieu verschwunden und wird sich wahrscheinlich nur mehr in ein paar Punkten an seine Herkunft erinnern.4 Entscheidend ist, wie groß die Anzahl der Personen ist, die aus einem anderen Milieu stammen. Wenn das einzelne Personen sind, werden sie sich in der Regel sehr stark anpassen. Das ist vor allem in der Wirtschaft zu beobachten. ManagerInnen, die einen sozialen Aufstieg hinter sich haben, sind meistens im Umgang mit Beschäftigten noch härter als die anderen ManagerInnen.
Wenn ein Milieu mehrheitlich durch AufsteigerInnen geprägt wird, dann spielen die Erfahrungen, die diese mitbringen, noch eine große Rolle. Man kann z.B. grob sagen: Je höher der Anteil der Mittelschicht- und ArbeiterInnenkinder in den politischen Eliten oder generell in den Eliten ist, desto ausgeglichener sind die Einkommensverhältnisse. Das heißt umgekehrt, je stärker BürgerInnen- und GroßbürgerInnenkinder die Eliten komplett dominieren, desto stärker dominieren auch ihre Interessen die Entscheidungen. Das heißt wiederum: Auch wenn sich die Personen verändern und von ihrer sozialen Herkunft entfernen, bleibt ein Teil ihres Herkunftsmilieus in den Köpfen, solange ein größerer Teil der Elite sozial aufgestiegen ist.

Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Elitenreproduktion?

Ja natürlich, auch wenn das wieder nach Ländern unterschiedlich ist. Generell sind die Wirtschaftseliten die geschlossensten, was geschlechtsspezifische Reproduktion betrifft. Da bleiben Männer am ehesten unter sich. In Deutschland hat sich in den letzten zehn, 15 Jahren für die Frauen fast gar nichts positiv verändert, in Skandinavien dagegen sehr viel. Am offensten sind die politischen Eliten auch in dieser Frage, weil sie eben gewählt werden müssen. Wenn man sich in Deutschland nicht nur die Bundeskanzlerin, sondern das Regierungskabinett ansieht, so kann man sagen, dass der Frauenanteil in der politischen Elite zwar nicht repräsentativ ist, aber Frauen doch gut ein Drittel dieser Positionen bekleiden. Ähnliches gilt auch in den meisten anderen europäischen Ländern. Das ist in Südeuropa noch nicht durchgängig, aber im spanischen Kabinett ist zum Beispiel jede zweite Position von einer Frau besetzt. Also zusammenfassend: Die politische Elite ist mittlerweile geschlechtsspezifisch relativ durchlässig, die wirtschaftliche Elite ist noch immer relativ geschlossen.

Werden denn auch in elitären Familien Jungen noch immer mehr gefördert als Mädchen?

Das ist klassischerweise immer noch so. Die Familienmuster, vor allem in der wirtschaftlichen Elite, sind noch relativ traditionell geprägt. Es gibt aber zunehmend mehr Familien, in denen die Töchter dann Führungspositionen übernehmen. So gibt es zum Beispiel mittlerweile in Deutschland immer mehr Frauen, die Unternehmen leiten. Das hat sich verändert gegenüber früher, es funktioniert bisher in der Regel in der Wirtschaft aber nur dort, wo elitäre Postionen über familiäre Beziehungen wie Heirat oder Erbe besetzt werden.

Inwieweit können Kinder von Eliten ihre Eltern kritisch in Frage stellen und einen anderen Lebensweg wählen? Wie viel Druck wird von Seiten den Eltern und dem sozialen Umfeld auf die Kinder ausgeübt, auch Elite zu werden?

Die Wahrscheinlichkeit einer kritischen Abwendung ist gering. Es gab und gibt das zwar immer wieder, wie zum Beispiel bei den alten Klassikern Karl Marx und Friedrich Engels. Oder in der jüngeren Vergangenheit in Österreich bei Bruno Kreisky oder in Schweden bei Olaf Palme, also innerhalb der Sozialdemokratie. Es gibt immer wieder die Personen, die ihr Herkunftsmilieu kritisch betrachten, mehr oder minder stark, aber das bleiben Ausnahmen. Der Großteil der Kinder, die in diesen Verhältnissen aufwächst, übernimmt das Denken der Eltern. Diese Unterscheidung in Elite und Masse und die Weltsicht, die dazu gehört – dass man fähiger ist als andere Menschen und deswegen auch das Recht hat, die Entscheidung über andere Menschen zu treffen – ist der Normalfall. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand aus diesem Muster ausbricht, liegt bei deutlich unter zehn Prozent.

Warum haben Sie sich dazu entschieden, Elitenforschung zu machen? Was ist das Ziel ihrer Arbeit? Wie viel „Elitenpotenzial“ hatten Sie selbst?

Das ist eine Mischung aus Herkunft, politischen Interessen und Zufall. Herkunft deswegen, weil ich selber aus einem gutbürgerlichen Milieu komme und diese Kreise kenne. Das heißt, ich wusste schon sehr früh, wie diese Menschen denken. Zweitens hat mich eigentlich nicht das Thema Eliten, sondern das Thema Macht interessiert, da ich seit meinem sechzehnten Lebensjahr politisch aktiv bin. Macht in den verschiedensten Formen – in der Schule, bei der Justiz, in der Wirtschaft – und die Frage, wie Machtstrukturen funktionieren, das hat mich immer interessiert. Dadurch kommt man zur Frage der Eliten. Drittens, und das ist der Zufall, war ich fünf Jahre lang an der juristischen Fakultät tätig und habe ein Forschungsprojekt über WirtschaftsjuristInnen durchgeführt. Das hat mich dann wissenschaftlich auf dieses Thema gebracht. WirtschaftsjuristInnen sind ja eine klassische Gruppe der deutschen Elite und da hat sich in dem Zeitraum, als ich das untersucht habe – Ende der 1980er Jahre – relativ viel verändert. An dem Thema bin ich dann dran geblieben, weil sich das, was mich politisch interessiert – nämlich Macht – mit meiner wissenschaftlichen Tätigkeit verbinden ließ. Was ich damit erreichen will, ist eigentlich das, was auch Bourdieu immer als generelle Aufgabe von kritischer Wissenschaft bezeichnet hat: Mechanismen aufdecken, die oberflächlich nicht erkennbar sind, und das sind die Mechanismen der Macht. Zu zeigen, wie die heutigen Gesellschaften funktionieren, wie diejenigen, die Macht haben, ihre Macht reproduzieren und diese Macht benutzen, um gesellschaftliche Entwicklungen zu steuern. Es geht darum, diese Mechanismen aufzudecken und darüber hinaus auch zu zeigen, wo es möglich ist, von unten Einfluss auf die Dinge zu nehmen. Das alles ist ja nicht naturgesetzlich. Es sind Menschen, die Geschichte machen, und solange Menschen Geschichte machen, kann man von Seite der Masse der Menschen auch Einfluss darauf nehmen.

Wie reagieren denn die Eliten selbst auf Ihre Forschung?

Das ist uneinheitlich. Die konservativen Medien und die Mehrzahl der Elitenangehörigen stehen dem eher skeptisch bis ablehnend gegenüber. Bei der FAZ oder bei der Welt bekomme ich z.B. recht selten ein Interview. In der FAZ gab
es sogar ein Portrait über mich, das einen massiven persönlichen Angriff beinhaltete, was meines Erachtens damit zusammenhängt, dass Konservativen nicht gefällt, dass dieses für sie selbst so wichtige Thema von einem Linken dominiert wird. Es gibt aber auch dort Kreise, die sich für meine Forschungsergebnisse interessieren, entweder aus reiner Neugier oder aber weil sie sich davon erhoffen, ihre eigenen Kreise analytisch genauer kennenzulernen. Das ist aber eine Minderheit. Bei manchen Veranstaltungen bin ich einfach ein interessanter Gesprächspartner, den man sich mal anhört, ohne dass das nennenswerte Konsequenzen für das eigene Denken hat. Wenn es um wirklichen politischen Einfluss geht, z.B. beim Thema der Studiengebühren, dann ist klar: da stoßen Positionen aufeinander und dann wird auch versucht, meine Position möglichst weit am Rand zu halten, damit sie politisch keinen Einfluss gewinnt.

Danke für das Interview!

Michael Hartmann ist Professor für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt und der bekannteste Elitenforscher im deutschsprachigen Raum. 2002 veröffentlichte er im Campus-Verlag Der Mythos von den Leistungseliten, 2007 ebendort Eliten und Macht in Europa: Ein internationaler Vergleich.

Anmerkungen
1 Die grandes écoles (dt.: große Schulen) sind auf einzelne Fächer oder Fächergruppen spezialisierte Hochschulen, an denen die Elite der französischen Politik und Wirtschaft ausgeblidet wird (Anm. d. Red.).
2 Etonians nennen sich die Absolventen (Mädchen werden nicht zugelassen) der Eliteschule Eton College in England (Anm. d. Red.).
3 Die Ludwig-Maximilians-Universität München wird im Rahmen der deutschen „Exzellenzinititative“ zur „Stärkung der universitären Spitzenforschung“ besonders gefördert (Anm. d. Red.).
4 Gerhard Schröder wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Nach seiner Abwahl als deutscher Bundeskanzler ging er in die Privatwirtschaft und ist heute u.a. als Aufsichtsrat eines russischen Gaspipeline-Konsortiums, als Mitglied des Europa-Beirats der Rothschild-Investmentbank und als Berater für das chinesische Außenministerium tätig (Anm. d. Red.).





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