Stefan Probst, Franziska Müller-Uri, Julia Hofmann und Isabella Schlehaider skizzieren die Grundzüge emanzipatorischer Bildungsutopien. Sie zeigen, was es bedeutet, Bildung abseits von Sachzwängen zu denken und arbeiten die Bedingungen, Möglichkeiten und Inhalte progressiver Wissensproduktion, -aneignung und -distribution heraus.
Ob in der Diskussion um die zunehmende Arbeitsmarktorientierung von Studiengängen, um die Funktionsweise des „Elfenbeinturms“ der Wissenschaft oder um die Entdemokratisierung der Hochschulen, in der gegenwärtigen bildungspolitischen Debatte wird der Fokus vor allem auf die Kritik des bestehenden Systems gelegt. Platz für neue Ideen oder die Frage, was Bildung überhaupt sein kann und wie alternative Inhalte, Formen und Methoden von Wissensproduktion, -vermittlung und -aneignung aussehen sollen bzw. wie diese durchgesetzt werden können, gibt es dabei kaum. Wir haben es uns daher zum Ziel gesetzt, diese Leerstelle zu korrigieren und die Möglichkeiten und Bedingungen alternativer Bildungsformen auszuloten.
Bildung – ein reaktionärer Begriff?
Der Begriff Bildung wird auf unterschiedlichste Weise diskutiert: In der gegenwärtigen Debatte wird er meistens mit humanistischen und individualistischen Idealen verbunden (Stichwort: Humboldt’sche Uni) und daher häufig auch als „bürgerlich-elitärer Kampfbegriff“ zurückgewiesen. Dass dieser Bildungsbegriff explizit auf bürgerliche Subjekte Bezug nimmt und deren freie Entfaltung ins Zentrum stellt, steht außer Frage. Zudem wird hier die Herrschaftsfunktion von Bildung sichtbar, wenn es darum geht, bildungsferne Schichten über Disziplinierungsmaßnahmen in die Schranken arbeitsmarkttauglicher Ausbildungsstätten zu verweisen. Gleichzeitig weist der Bildungsbegriff in seiner Grundintention weit über das Bestehende hinaus und beinhaltet durchaus progressives Potenzial. Schließlich sind im Bildungsbegriff nicht allein jene schöngeistigen Konnotationen aufgehoben, die historisch mit dem Rückzug der Aufklärungsphilosophie in den deutschsprachigen Ländern auf Innerlichkeit und Selbstentfaltung von Bildungsbürgern in Ohrensesseln assoziiert werden. Die Vorstellung des Sich-Bildens um der eigenen Vervollkommnung willen, die das bürgerliche Bildungsideal heraufbeschwört, ist zu recht als elitär und weltabgewandt kritisiert worden. Als Ausdruck der Ablehnung der aktuellen Durchökonomisierung des Bildungssystems (Stichwort: Bildung statt Ausbildung) kann der Begriff zwar mit fortschrittlichem Anspruch in Stellung gebracht werden, führt aber allzu leicht wieder zurück in den Elfenbeinturm1 herrschaftsförmiger Wissenschaft. Gerade durch die Betonung der Zweckfreiheit werden gesellschaftliche Praxisbezüge der Wissensproduktion gekappt, bzw. bestimmte gesellschaftliche Gruppen aus diesem Prozessen per se ausgeschlossen. Gleichzeitig weist der Bildungsbegriff in seiner Grundintention aber über das Bestehende hinaus und beinhaltet durchaus progressives Potential. Es verbinden sich mit dem Bildungsbegriff nämlich nicht nur jene schöngeistigen Konnotationen, die historisch mit dem Rückzug der deutschsprachigen Aufklärungsphilosophie zur Innerlichkeit und Selbstentfaltung von Bildungsbürgern in Ohrensesseln assoziiert werden. Dass im Bildungsbegriff auch emanzipatiorische Potenziale angelegt sind, wird deutlich, sobald wir das darin angelegte Ziel individueller Selbstentfaltung und Selbstermächtigung materialistisch rückbinden und in politische Praxis einbetten. Diese Befreiungsperspektive von Bildungsprozessen konzentriert sich in der Absicht der Ermöglichung eines selbstbestimmten Lebens. Wenn humanistische Bildungsideale Mündigkeit und Autonomie der Subjekte ins Zentrum rücken, so gilt es zunächst, diese Vorstellungen aus ihren idealistischen Flughöhen herauszulösen und zu fragen, welche gesellschaftlichen Bedingungen Bildungsprozesse in diesem Sinn erst ermöglichen. Infolge muss auch das Ziel der Herausbildung individueller Selbstbestimmung an kollektive Praxen der Reflexion und Ausgestaltung dieser Bedingungen rückgebunden werden.
Utopie – unverwirklichbare Träumerei?
Neben dem Begriff der Bildung bedarf aber auch der Begriff der Utopie an Klärung. Warum Utopie? Impliziert der Begriff nicht unverwirklichbare Träumerei? Müsste eine historisch-materialistische Herangehensweise sich nicht vom Utopiebegriff distanzieren? Engels argumentierte schließlich, dass gesellschaftlicher Fortschritt „nicht durch die gewonnene Einsicht, dass das Dasein der Klassen der Gerechtigkeit, der Gleichheit etc. widerspricht, nicht durch den bloßen Willen, diese Klassen abzuschaffen, sondern durch gewisse neue ökonomische Bedingungen“ ausführbar wird.2 Wir finden den Begriff der Utopie dennoch sinnvoll. Wenn Debatten über gesellschaftliche Alternativen meist mit dem Totschlagargument erstickt werden, dass es eben keine Alternativen gebe, erlaubt die Utopie, Räume für emanzipatorisches Denken zu öffnen, in denen grundsätzlich einmal nichts unmöglich ist. Erst wenn der „absolute Freiraum alles Möglichen“ jenseits gängiger Sachzwangargumente erschlossen wird, können wir „den Mut gewinnen, die eigenen Interessen radikal zu artikulieren und ungebrochen zu ihnen zu stehen“3. Utopien gründen zwar – wie Herbert Marcuse das einmal ausgedrückt hat – in der „Negation des jeweils schlechten Bestehenden“4, sie weisen dennoch über die bloße Kritik der bestehenden Verhältnisse hinaus: „Utopien sind subjektiv gestaltete Zukunftsentwürfe, die im Großen oder im Detail eine wünschenswerte zukünftige Gesellschaft skizzieren.“5 Utopien besitzen also eine zeitliche Dimension6; sie sind zukunftsweisend und beziehen sich damit nicht auf den Bereich des Unmöglichen, sondern sind durchaus realisierbar: Folgen wir Ernst Bloch, so sind konkrete Utopien vor allem durch ihr „Noch-Nicht-Sein“ definiert; sie sind das „offen Mögliche“7, während die „frühen“ Utopien (wie Francis Bacons Neu-Atlantis oder Thomas Morus’ Utopia) noch eine (räumlich wie zeitlich) sehr weit entfernte Gesellschaft entwerfen. Deshalb schlagen wir den Begriff der regulativen Utopie vor, der sich auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse bezieht. So verwendet, kann der Begriff der regulativen Utopie daher auch zur Orientierung in der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Praxis dienen – als „Medium der Reflexion des Bestehenden“8 und Antizipation einer besseren Zukunft. In diesem Sinne verstanden, erscheint es uns besonders sinnvoll, den Begriff der Bildungsutopie zu verwenden, ihn mit alternativen Konzepten zu füllen, um Möglichkeiten für eine Verwirklichung dieser Ideen skizzieren zu können.
Bildung als Bedingung von Autonomie
Ganz grundlegend zielt Bildung auf ein reflektives und eingreifendes Selbst- und Weltverhältnis, die Herausbildung autonomer Subjektivität. Autonomie ist also „nicht einfach ein Ziel von Bildung, sondern (…) das Ziel von Bildung schlechthin“9. Dahinter steht die Überzeugung, dass Wissen über sich selbst und die Welt die Bedingung der Emanzipation von Fremdbestimmung und der Überwindung von Herrschaft, sowie der Herstellung einer Gesellschaft selbstbewusster und selbstbestimmter Individuen ist. Bildung ist somit zuallererst ein Begriff der Ermöglichung und Befähigung und bezeichnet Prozesse der Wissensproduktion, -aneignung und -distribution, die die Individuen in die Lage versetzen sollen, sich und die Welt als veränderbar zu begreifen. Bildungsprozesse zielen darauf ab, das Bewusstsein in ein aktiv-veränderndes Verhältnis zur Welt zu setzen und sind daher untrennbar mit verändernder politischer Praxis, der Beförderung von Selbstermächtigung und Handlungsfähigkeit verbunden. In dieser Perspektive geht es darum, Verhältnisse zu schaffen, die es – in Gramscis Worten – möglich machen, „die eigene Weltauffassung bewusst und kritisch auszuarbeiten und folglich … an der Hervorbringung der Weltgeschichte aktiv teilzunehmen, Führer seiner selbst zu sein und sich nicht einfach passiv und hinterrücks der eigenen Persönlichkeit von außen den Stempel aufdrücken zu lassen.“10
Die dadurch eingeschlossenen Formen des Wissens umfassen sowohl theoretisches, wissenschaftliches als auch alltagspraktisches Erfahrungswissen, sobald jenes aus der Unmittelbarkeit des Alltagsverstands herausgehoben wird. Ausgangspunkt eines emanzipatorischen Bildungsbegriffs könnte daher Gramscis anthropologische Betonung der grundlegenden Intellektualität aller Menschen sein: „Alle Menschen sind PhilosophInnen“, der Mensch „erkennt, will, bewundert, schafft insofern er bereits erkennt, will, bewundert, schafft usw.“11 „Diese anthropologische Grundannahme begründet insofern die Bildungsmöglichkeit, als die generelle Intellektualität des Menschen die prinzipiell Weiterentwicklung des Bewusstseins aller Menschen impliziert.“12
Bildung zielt dann auf die uneingeschränkte und umfassende Entwicklung dieser intellektuellen Potenziale der Menschen im Sinne eines (permanenten) Prozesses der „Selbstpotenzierung“. Gegen individualistische, a-gesellschaftliche Konzeptionen kritisiert Gramsci jedoch jene Vorstellungen von Bildung, die diese Selbstentfaltungsprozesse von den gesellschaftlichen Bedingungen und praktischen Erfahrungen der Menschen ablösen. Selbstverwirklichung bleibt solange abstrakt und verdinglichend, als von den konkreten materiellen wie immateriellen Kontexten abstrahiert wird, unter denen persönliche Entwicklung effektiv realisiert werden kann. In Gramscis pädagogischen Überlegungen gehen dem gegenüber Selbst- und Weltveränderung notwendig zusammen. Sich auf Gramsci beziehend schreibt Andreas Merkens: „Der Mensch tritt erst mit der tätigen Aneignung und Gestaltung des gesellschaftlichen Ensembles in einen Prozess der kulturellen und intellektuellen Selbstpotenzierung ein: ‚Die Außenwelt, die allgemeinen Verhältnisse zu verändern, heißt sich selbst zu potenzieren, sich selbst zu entwickeln‘.“13 Bildung bezeichnet damit nicht mehr individuelle Selbstverwirklichungsprozesse, „vielmehr verwirklicht sich der Mensch erst über die selbstpotenzierende Aneignung von Gesellschaft.“14 Dazu Gramsci: „Sich eine Persönlichkeit bilden heißt (…), wenn die eigene Persönlichkeit das Ensemble der Verhältnisse ist, ein Bewusstsein dieser Verhältnisse gewinnen, die eigene Persönlichkeit verändern heißt, das Ensemble dieser Verhältnisse verändern.“15 „Daher kann man sagen, daß jeder in dem Maße selbst anders wird, sich verändert, in dem er die Gesamtheit der Verhältnisse, deren Verknüpfungszentrum er ist, anders werden läßt und verändert.“16
Selbstpotenzierung im Prozess der Weltveränderung kann aber nur als kollektive Praxis gedacht werden; gemeinsame Gestaltungs- und Handlungsmacht gilt es gerade als Voraussetzung individueller Selbstbestimmung zu begreifen. Bildung als Ermöglichung von Autonomie zielt auf die gemeinsame Gestaltung der Gesellschaft, in der die volle Entfaltung des/der Einzelnen Bedingung der Entfaltung aller ist, und umgekehrt. Ein „utopisches“ Projekt emanzipativer Bildung transportiert immer zugleich auch Konturen gesamtgesellschaftlicher Utopie. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Inhalte, Formen und Orte der gesellschaftlichen Wissensproduktion, -aneignung und -distribution? Unter welchen Bedingungen übersetzt sich Wissen in Handlungsmacht? Zuallererst ist festzuhalten, dass Bildung als Selbstpotenzierung Zeit braucht. Es gilt, jenseits der fremdbestimmten Geschwindigkeit und des Effektivitätsdrucks der Akkumulationsrhythmen Möglichkeitsräume zu öffnen, in denen die Menschen Reflexionsfähigkeit und Kritikvermögen entwickeln und praktisch austesten können. Wenn bürgerliche Bildungsideale als Grundbedingung der Möglichkeit von Bildung Zeit für Muße einforderten, die allerdings den gesellschaftlichen Eliten vorbehalten blieb, so gilt es diesen Gedanken aufzunehmen und demokratisch zu verallgemeinern. Dies kann nur gelingen, wenn die gesellschaftliche Arbeitsteilung, die Trennung von Kopf- und Handarbeit, die Hierarchien von ExpertInnen und Nicht-ExpertInnen, und damit auch die Ausdifferenzierung zwischen Lernen und Arbeiten grundlegend hinterfragt wird. Erst wenn alle an der Gestaltung der Bedingungen gesellschaftlichen Zusammenlebens gleichberechtigt teilhaben, ist es möglich, persönliche Potenziale zu erschließen. Voraussetzung der umfassenden Selbstaktivierung und Selbstentwicklung der Menschen ist die kollektive demokratische Verfügungsmacht über die gesellschaftliche Ressourcen, die Zeit für Debatten, Lernprozesse und kreatives Experimentieren ermöglichen. Lernprozesse und Wissensproduktion sind dann – ebenso wenig wie ein abgetrennter Lebensabschnitt – keine Zusatzbeschäftigung, zu denen diejenigen privilegierten Zugang haben, die sich eben Zeit nehmen können. Lernen und Forschen wäre eingebettet in die kooperativen Netzwerke gesellschaftlicher Produktion, eine partizipative Bildungskultur, in der alle an den Prozessen der Wissensproduktion beteiligt sind. Alle gesellschaftlichen Bereiche, welche die Bedingungen kollektiver und individueller Selbstverwirklichung beeinflussen, müssten demokratischen Reflexions-, Diskussions-, Lern- und Entscheidungsprozessen überantwortet werden. Damit fallen aber auch die Hierarchien zwischen Lernenden und Lehrenden sowie die Deutungsmonopole spezifischer Institutionen und Gruppen. Lernen wird zum Prozess gegenseitiger Befähigung, in dem es zwar immer noch Wissenshierarchien gibt, mit diesen aber keine gesellschaftliche Macht mehr verbunden ist. Somit können sich alle Beteiligten selbst als Subjekte der Wissensproduktion begreifen und der Möglichkeit der gemeinsamen „Entwicklung einer kritischen, unzufriedenen und unfolgsamen Neugierde“17 nachgehen. Erst wenn die Monopolisierung der Definitionsgewalt von Rationalitätsstandards und Wissenschaftlichkeit demokratisch aufgebrochen wird, ist auch ein sinnvoller Umgang mit dem wissenschaftstheoretischen Problem der gesellschaftlichen Situiertheit wissenschaftlichen Wissens möglich. Das bedeutet, dass mit der Frage, welche und wessen Interessen sich in den Inhalten des produzierten Wissens niederschlagen, reflektiert umgegangen werden kann. Nicht nur die Formen von Wissensproduktion und -vermittlung, sondern auch die Frage, was als relevantes und angemessenes Wissen gilt, wird damit zum Gegenstand kollektiver Auseinandersetzungen.
„Utopie now!“
Die wesentlichen Züge einer solchen Bildungsutopie werden in den Praktiken und Organisationsformen der gegenwärtigen Kämpfe bereits antizipiert und als „offen Mögliches“ erfahrbar. Werfen wir einen Blick auf die Uni-brennt-Bewegung: hier wurde deutlich, wie wir uns Platz für alternative Bildungskonzepte schaffen und jene in politische Praxis übersetzen können. Durch die Re-Politisierung bildungspolitischer Inhalte über die Grenzen der Universitäten hinaus waren es nicht zuletzt solidarische und selbstbestimmte Lehr- und Lernprozesse – ganz im Sinne der Veränderung der bestehenden Verhältnisse – die reaktionäre und elitäre Vorstellungen von Bildung, wie sie üblicherweise an den Hochschulen praktiziert wird, in Frage gestellt haben. Die verstärkte Aufmerksamkeit für das gesamte Bildungssystem – in Hinblick auf Integration in gesellschaftspolitische Prozesse und gleiche Teilhabe für alle – wird nicht im Sinne akademischer Le(e)hrsätze verhandelt, sondern innerhalb der Bewegung alltäglich gelebt. Trotz der Widersprüchlichkeiten, die aus der Breite der Bewegung erwachsen, ist den unzähligen Forderungen das zentrale Ziel einer Demokratisierung gemein. Neben der Reform von rechtlichen Bestimmungen und der praktischen Rückkoppelung an gesamtgesellschaftliche Kontexte steht also die Ermächtigung zur aktiven politischen Teilhabe an Entscheidungsprozessen im Vordergrund. Wesentlich dabei sind die von den BesetzterInnen aufgebauten selbstverwalteten Zusammenhänge – angefangen bei infrastruktureller Ausstattung bis hin zu Aktions-, Planungs- und Diskussionsgruppen. Zudem wurde eine weit reichende politisch-soziale Programmatik entwickelt und konventionelle Politikformen in Frage gestellt. In den neu angeeigneten (Frei-)räumen und Foren können politische Erfahrungen außerhalb starrer Uni-Seminare und Vorlesungen formuliert und mit anderen politischen Praxen verbunden werden – wie die Kooperationsversuche mit den MetallerInnen oder mit der Initiative des „Kindergartenaufstands“ deutlich machen. Hier wird konkret-utopisches Potenzial plastisch: Es steht außer Frage, dass sich Menschen verändern und selbst ermächtigen, indem sie sich an kollektiven Entscheidungsprozessen beteiligen. Auf einer ganz konkreten Ebene erleben wir, dass wir die bestehenden Verhältnisse transformieren und unsere Lebensräume selbst gestalten können – in solidarischer Praxis haben wir diesbezüglich Handlungsmöglichkeiten und -strategien erarbeitet. Auch wenn nicht alle Fragen nach Perspektive und Strategie beantwortet sind, ist angesichts der bildungspolitischen Krise klar geworden, dass Bildung nicht fernab kapitalistischer Vergesellschaftung zu verorten ist. Die Erfahrung, dass die eigene Situation, das Erlebnis von Prekarisierung und das Gefühl von Fremdbestimmtheit nicht singulär und individuell sind, politisiert langfristig. Neben den Grundforderungen der Ent-Ökonomisierung und Re-Demokratisierung der Universitäten war und ist es den BesetzerInnen und AktvistInnen ein grundlegendes Anliegen, den Zugang zu Bildung für alle zu öffnen, d.h. im Speziellen die Bildungschancen von Frauen, MigrantInnen und benachteiligte Gruppen zu erhöhen. Somit weisen die Forderungen, die sich zunächst nur auf Bildung zu beziehen schienen, über sich selbst hinaus und sprechen gesamtgesellschaftliche Problemfelder und Widersprüche an; so werden die bestimmenden Lern- und Arbeitsverhältnisse, das vorherrschende Verständnis von Demokratie sowie die Monopolisierung von Wissen fundamental in Frage gestellt. Hierbei ist entscheidend, inwiefern die neu installierten Zusammenhänge aufrechtzuerhalten sind. Dafür braucht es vor allem organisierte linke Strukturen in permanenten (Frei-) Räumen, die utopische Impulse, welche auf eine selbstbestimmte Bildung in einer selbstbestimmten Gesellschaft hin orientieren, ernst nehmen.
Anmerkungen
1 Dass dieser so nie existiert hat, sondern eher als ideologische Maskierung spezifisch institutionalisierter Reproduktionsanforderungen schon des wilhelminischen Kapitalismus fungierte, sei hier nur nebenbei erwähnt.
2 Engels, Friedrich: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEW 19, S. 448.
3 Heinrichs, Thomas: Freiheit und Gerechtigkeit. Philosophieren für eine neue linke Politik, Münster 2002, S. 8.
4 Schwendter, Rolf: Utopie. Überlegungen zu einem zeitlosen Begriff, Berlin/Amsterdam 1994, S.7.
5 Ebd., S.19.
6 Ebd., S.19.
7 Bloch, Ernst: Geist der Utopie, München 1970, S.248.
8 Schaper-Rinkel, Petra: Andere Zukünfte: Politik der Utopien; in: Prokla 141, S. 551-568, hier: S. 564.
9 Andresen, Sabine/Otto, Hans-Uwe/Ziegler, Holger: Bildung as Human Development. An educational view on the Capabilities.
10 Gramsci, Antonio: Gefängnishefte, Bd. 1, Hamburg 1991, S. 97.
11 Ebd., Bd. 6, Hamburg/Berlin 1994, S. 1349.
12 Bernhard, Armin: Pädagogische Grundverhältnisse. Die Relevanz Antonio Gramscis für eine emanzipative Pädagogik. in: Merkens, Andreas/Rego Diaz, Victor (Hg.): Mit Gramsci arbeiten. Texte zur politisch-praktischen Aneignung Antonio Gramscis, Hamburg 2007, S. 141-157, hier: S. 16.
13 Merkens, Andreas: Hegemonie und Gegen-Hegemonie als pädagogisches Verhältnis. Antonio Gramscis politische Pädagogik, in: Rosa-Luxemburg-Bildungswerk Hamburg (Hg.): Hamburger Skripten 15, Hamburg 2006, S. 17.
14 Ebd., S. 17.
15 Gramsci 1994, a.a.O., S. 1348.
16 Gramsci 1994, a.a.O., S. 1348.
17 Freire, Paulo: Pädagogik der Autonomie, Münster 2008, S. 32.