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Rosinenpicken
von Perspektiven


Die „Kämpfe um Bildung“, denen sich Perspektiven Nr. 10 gewidmet hat, bilden auch anderswo ein zentrales Thema. So sind im aktuellen Programm der Edition PROLLpositions in der Reihe audimarx drei feine Broschüren erschienen, die vor allem die Frage „Wie sich (ver-)wehren?“ hochhalten: (1) Das „Kommuniqué aus einer ausbleibenden Zukunft. Über die Ausweglosigkeit des studentischen Lebens“ (Research & Destroy; audimarx #1) wurde im Zuge der Besetzung eines Teils der Universität von Santa Cruz verfasst und Anfang Oktober 2009 online publiziert. Neben der Thematisierung des Verhältnisses von Studium und Arbeit im Kontext der zunehmenden Transformation von Universitäten in Fabriken der Wissens(re)produktion, drückt sich in der „Mitteilung“ vor allem auch das drängende Bedürfnis nach den verbindenden Inhalten unterschiedlicher Kämpfe aus, deren gesellschaftliche Ausgangsbedingungen doch sehr verschieden sind. (2) In „Reformpause!“ (audimarx #2) beschreibt Marion von Osten, wie es nach dem zweiten Weltkrieg zu einer bildungspolitischen Wende in Westeuropa kam und reflektiert dabei diejenigen allgemein-gesellschaftlichen und konkret-kollektiven Bedingungen, die Wissensproduktion überhaupt erst ermöglichen. (3) Auskünfte über die erfolgreiche Besetzung der Universität in Zagreb sowie über die Besetzungsstrategien unserer kroatischen KollegInnen gibt das „Besetzungskuchbuch. Bericht von der Besetzung der Zagreber Philosophischen Fakultät 2008“ (audimarx #3). Eine zu empfehlende Lektüre für alle ProfibesetzerInnen und diejenigen, die es noch werden wollen.

Nicht nur die Universitäten haben im letzten Jahr gebrannt. Auch im Iran gab es eine der größten Protestbewegungen seit Jahrzehnten. Während Behrooz Rahimi in Perspektiven Nr. 9 in erster Linie das widersprüchliche Erben der Iranischen Revolution von 1979 analysiert hat, begibt sich James Buchan auf eine weiter angelegte historische Spurensuche nach den Gemeinsamkeiten der verschiedenen Revolutionen im Iran. Er vergleicht nicht nur die Ereignisse vom Juli 2009 mit denen der konstitutionellen Revolution 1905, sondern zieht auch Parallelen zwischen der Präsidentschaft Mahmud Ahmadinejads und der Herrschaft Louis-Napoleons (Napoleon III). Bezugnehmend auf Marxens „Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte“ (1852), in dem Marx nachweist, dass der Staatsstreich des Louis-Napoleon 1851 in Frankreich das notwendige Ergebnis der vorhergegangenen Entwicklungen war und sich Geschichte oftmals zunächst als Tragik und dann als Farce wiederholen muss, um sie im Sinne der Befreiung weitertreiben zu können, schöpft Buchan Hoffnung für politische Veränderungen im Iran.

Schwerpunkt von Perspektiven Nr. 9 war allerdings nicht der Iran, sondern die „Ge_schlechte_r_verhältnisse im Kapitalismus“. Ähnlich wie Katharina Hajek und Benjamin Opratko in ihrem Artikel „Welche Wirtschaft, wessen Krise?“ beschäftigen sich auch Helene Schuberth und Brigitte Young mit dem Zusammenhang zwischen den „Geschlechtern der Krise“ und der „Krise der Geschlechter“. Die Autorinnen, zwei der profiliertesten Forscherinnen auf dem Feld der feministischen Ökonomie, haben mit The Global Financial Meltdown and the Impact of Financial Governance on Gender ein kurzes, aber sehr informatives, Fakten-und-Zahlen-lastiges Paper verfasst. Darin wird – zugespitzt formuliert – aus geschlechterkritischer Perspektive nicht nur danach gefragt, wer die Krise verursacht hat, sondern auch danach, wer davon in welcher Weise und in welchem Ausmaß betroffen ist, und – durch die Budgetkonsolidierungen weltweit – in Zukunft sein wird: vor allem Frauen. So reklamieren in diesem Zusammenhang auch Drucilla Barker und Susan F. Feiner im aktuellen Rethinking Marxism (No. 22) Geschlecht als Analysekategorie ein. Sie fokussieren dabei auf die „Feminisierung der Arbeit“ und die Rolle „hegemonialer Männlichkeiten“. Frei nach dem Motto Lenins, nach dem jede Köchin dazu in der Lage sein muss, die Staatsmacht auszuüben (was jedoch sowohl eine Veränderung des Staates als auch der Lage der Köchin impliziert), seien hier noch zwei weitere Feministinnen genannt, die sich den krisenhaften Entwicklungen der letzten Jahre vor allem unter dem Aspekt der Bedingungen und Möglichkeiten feministischer Kämpfe widmen. Birgit Sauer fragt (Widerspruch Nr. 57) aus einer feministisch-staatstheoretischen Perspektive nach den Bedeutungen staatlicher Transformationsprozesse für die feministische Staatskritik, während Frigga Haug in einem im Oktober 2009 gehaltenen Vortrag gewohnt luzide die Grenzen von „Umverteilungspolitik“ (auch bezogen auf die Reproduktionsarbeit) aufzeigt und dafür plädiert, gerade in der Krise „Geschlechterverhältnisse als Produktionsverhältnisse“ zu begreifen.
Etwas mehr als Jahr ist vergangen, seit Barack Obama Präsident der USA wurde – und wir dies in Perspektiven Nr. 6 zum Anlass nahmen, einen Schwerpunkt zum brüchigen US-Imperium zu gestalten. Die darin von Tobias ten Brink geäußerte Skepsis, ob eine Obama-Administration auch nur das Ausmaß der Gewalt, das von der Geopolitik des US-Imperiums ausgeht, reduzieren würde, hat sich seither bestätigt. Dies zeigt ein Artikel von Tariq Ali in der aktuellen 50-Jahre-Jubiläumsausgabe der New Left Review so deutlich wie drastisch. Seine bittere Bestandsaufnahme der US-Außenpolitik unter Obama, dargestellt anhand der Brennpunkte Israel/Palästina, Irak, Iran, Afghanistan und Pakistan, zeichnet ein ernüchterndes Bild. Er sieht keinen grundsätzlichen Bruch zwischen den Regierungen Bush I, Clinton, Bush II und Obama. Auch wenn die Analysen ob der Kürze des Artikels manchmal zu vereinfachend wirken und etwa die Beurteilung der Situation im Iran von einem schärferen Blick auf Kämpfe von „unten“ profitiert hätte, ist Alis Beitrag hilfreich, um hinter die schöne Rhetorik Obamas zu blicken.
Und noch ein zweiter Beitrag im gleichen Heft lässt sich hervorragend als Zwischenbilanz des „Obama-Projekts“ lesen. Teri Reynolds, die in Kalifornien als Notfallmedizinerin arbeitet, sendet eine „Depesche aus Oakland“. Ihre lebhafte Beschreibung des Alltags in einem County Hospital macht deutlich, wie – im wahrsten Sinne des Wortes – überlebenswichtig eine echte Reform des Gesundheitswesens in den USA wäre. Auf den Punkt gebracht: in diesem Land sterben permanent Menschen, weil sie keine Krankenversicherung haben. Die nun durchgesetzte Health Care Reform hat, so Reynolds, in den endlos scheinenden Debatten medizinische und soziale Realitäten ignoriert und wird daran nichts wesentliches ändern.

Ebenfalls in der aktuellen (Jubiläums-)Ausgabe der New Left Review spricht Mike Davis mit sich selbst: Sein „Pessimismus des Intellekts“ zwingt ihn, die desaströsen und scheinbar unaufhaltsamen Auswirkungen der Transformation von Landschaften und klimatischen Systemen durch die urban-industrielle Gesellschaft, die sich in den Megastädten des 21.Jahrhunderst konzentriert, zu erkennen. Dieser „analytischen Verzweiflung“ (und einem Antiurbanismus) stellt Davis jedoch einen „Optimismus der Imagination“ entgegen. Dabei argumentiert er für eine neue radikal-urbane Vorstellungskraft, die andenkt, Städte nach ökologischen und sozialen Gesichtspunkten zu organisieren. Letztlich sind es für ihn gerade die Städte und deren typisch urbane Eigenschaften, die einen möglichen Weg aus den drohenden ökologischen und sozialen Krisen bereitzustellen vermögen.

Sicher keinen Weg aus den multiplen Krisen der Gegenwart weist die extreme Rechte. Weil sie aber gerade in Krisenzeiten versucht, an Boden zu gewinnen, müssen Antifaschismus und Antirassismus gegenwärtig mehr denn je auf der Agenda der (radikalen) Linken stehen. Zum ersten Mal konnte im Februar 2010 der jährlich stattfindende Nazi-Aufmarsch in Dresden blockiert werden. Eine spannende Auswertung der antifaschistischen Mobilisierung nach Dresden liefern Christine Buchholz (Bundestagsabgeordnete DIE LINKE), Steffi Graf (aktiv in DIE LINKE.SDS), Lucia Schnell (DIE LINKE) und Luigi Wolf (DIE LINKE.SDS). Die Kombination aus einem breiten Bündnis von Parteien, Gewerkschaften, Zivilgesellschaft und antifaschistischen Kreisen sowie die Entschlossenheit der Gegen-DemonstrantInnen, die Nazis vermittels Massenblockaden nicht marschieren zu lassen, führte trotz Diffamierungs- und Illegalisierungskampagnen in Medien, Justiz und Politik zu einem erfolgreichen Ergebnis, so die AutorInnen. Die Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der Kampagne in Dresden würde auch der antifaschistInnen Linken in Österreich zu Gute kommen; schließlich gibt es gerade hier die Notwendigkeit der Erarbeitung und Evaluierung antifaschistischer Strategien gegen die extreme Rechte.

Zum Nachlesen:

audimarx #1-3 erhältlich bei Infoständen und im Anarchia-Versand (http://www.anarchia-versand.net/index.php/cat/c58_Paedagogik-und-Bildung.html), siehe auch: http://prollpositions.at/, Dezember 2009

Buchan, James: A Bazaari Bonaparte?, in: New Left Review Nr. 59, September-October 2009, 73¬-87

Young, Brigitte/Schuberth, Helene: The Global Financial Meltdown and the Impact of Financial Governance on Gender, in: Garnet Policy Brief Nr. 10, unter: http://www.garnet-eu.org/fileadmin/documents/policy_briefs/Garnet_Policy_Brief_No_10.pdf, 2010, 1-12

Barker, Drucilla /Feiner, Susan: As the World Turns: Globalization, Consumption, and the Feminization of Work, in: Rethinking Marxism Nr. 22, 2010, 246-252

Sauer, Birgit: Wirtschaftskrise, Staat und Geschlechtergerechtigkeit. Paradoxien feministischer Staatskritik, in: Widerspruch Nr. 57, 2009, 33-39

Haugg, Frigga: Geschlechterverhältnisse in der Krise, Vortrag gehalten am 10. Okt. 2009 in Aachen, zum Anhören unter: http://www.friggahaug.inkrit.de/AachenerVortrag09-10-10.mp3, 2009

Ali, Tariq: President of Cant, in: New Left Review Nr. 61, January-February 2010, S. 99-116

Reynolds, Teri: Dispatches from the Emergency Room, in: New Left Review Nr. 61, January-February 2010, S. 49-57

Davis, Mike: Who will build the ark?, in: New Left Review Nr. 61, January-February 2010, 29-46

Buchholz, Christine/Graf, Steffi/Schnell, Lucia/Wolf, Luigi: Breit und entschlossen Naziaufmärsche verhindern: Das Erfolgskonzept von Dresden, unter: http://christinebuchholz.de/2010/02/20/breit-und-entschlossen-naziaufmarsche-verhindern-das-erfolgskonzept-von-dresden/, Februar 2010





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