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Die Diesseitigkeit der Philosophie
von Katherina Kinzel

Rezension: Von Fromberg, Daniel: Demokratische Philosophen. Der Sophismus als Traditionslinie kritischer Wissensproduktion im Kontext seiner Entstehung, Münster: Westfälisches Dampfboot 2007, 210 Seiten, € 24,90

Die Sophisten sind die „Verfemten der Philosophiegeschichte“. Seit ihrem Wirken als Wanderlehrer in der athenischen Demokratie zur Zeit Sokrates’ haben sie hauptsächlich negative Charakterisierungen erfahren. Auch im kulturellen Gedächtnis der heutigen Zeit tauchen sie zumeist als Spiegelfechter und unmoralische Schwätzer auf, bestenfalls noch als gewandte Redner, die mit rhetorischen Taschenspielertricks auf Menschenfang gehen – überraschend langlebig scheint der Nachhall der von Sokrates und Platon gegen die Sophisten gerichteten Polemik.

Daniel von Fromberg stellt sich die Aufgabe, die Sophisten als „Denker der Demokratie“ zu rehabilitieren. Was den Sophismus auch heute noch zu einem relevanten Forschungsgegenstand mache, sei die in ihm materialisierte historische Erfahrung politischer Auseinandersetzungen. Diese will von Fromberg herausarbeiten und als Inspirationsquelle für gegenwärtige kritische Theoriebildung und politische Praxis fruchtbar machen.

Zu diesem Zwecke unternimmt er eine Exkursion in die Antike. Mit dabei sind Adorno, Gramsci und Foucault. Diese zieht der Autor heran, um den Anspruch des Buches zu untermauern, im Rahmen einer kritischen „Ideengeschichte von unten“ das politische Implizite philosophischer Auseinandersetzungen zu Tage zu fördern: Wo Philosophien in den Kontext historischer Kräfteverhältnisse gestellt werden, zeigt sich, dass diese nicht lediglich abgehobene Denkgebäude darstellen, sondern Teil von Wahrheitspolitik sind: Insofern Philosophien in die Konfrontation von Weltauffassungen intervenieren und so an den Kämpfen um kulturelle Hegemonie partizipieren, beweisen sie ihre „Diesseitigkeit“ und ihren Nutzen für die alltägliche politische Praxis.

Demokratische Philosophen ist so ein an der Schnittstelle von Philosophie, politischer Theorie und Geschichtswissenschaften angesiedelter Versuch, den Sophismus durch seine Verortung in den gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen in der und um die athenische Demokratie als verschüttete „Traditionslinie kritischer Wissensproduktion“ zu bestimmen.

Die Spurensuche, die zu einer Entdeckung des Sophismus als Verarbeitungs- und Reflexionsform der athenischen Demokratie führt, nimmt Umwege, und so findet die erste direkte Begegnung mit dem Denken eines Sophisten – Protagoras – erst auf Seite 84 statt. Dem geht zunächst ein Abriss über die Rezeptionsgeschichte des Sophismus voraus. Schon hier rückt dieser in ein anderes Licht: Die Themen der Sophisten – erkenntnistheoretischer Empirismus und Relativismus, Skeptizismus, Anthropozentrismus, Religionskritik und realistische Machtanalysen – scheinen nicht dem Bild irrgeistiger Schwätzer zu entsprechen. Zudem wird deutlich, dass auch die Konjunkturschwankungen der Rezeption sophistischer Philosophie von den Fragen und Problemen der jeweiligen Zeit bestimmt sind.

Von Fromberg arbeitet sich rückwärts durch die Ideengeschichte bis zur Sophismus-Interpretation Platons, der eine eingehendere Analyse gewidmet wird. Platons Tugend- und Ideenlehre, welche die Erkenntnis der „Idee des Guten“ als höchstes Prinzip den Philosophen vorbehält, um zugleich die Sophisten als „Nachahmer“ der wahren Philosophie dem Bereich bloßer Meinung (im Gegensatz zum Wissen) zuzuordnen, dechiffriert er mit Foucault als Strategie der Ausschließung der Sophisten aus dem „Reich des Wahren“. Im Kontext Platons Staatsphilosophie, die für das monarchisch-oligarchische Sparta gegenüber dem demokratischen Athen Partei nimmt, und die Monarchie – die „Herrschaft des Einen“ – als einzig vernünftige Staatsform auszeichnet, wird dieser Ausschluss auch als politischer Akt fassbar. Platon geht so weit, die Verfolgung und Vertreibung der Sophisten zu fordern.

Um die Hintergründe dieses philosophisch-politischen Verwerfungsurteils zu fassen, zeichnet der Autor in einem nächsten Schritt die Geschichte Athens nach. Die Konflikte zwischen der traditionell herrschenden Aristokratie und der nichtadeligen Bevölkerung führten in der „Athenischen Revolution“ zur Selbstkonstitution der Bürgerschaft als handlungsfähiges politisches Subjekt. Die Isonomie, d.h. die politische Gleichheit aller Bürger war zugleich Resultat des erstarkten demokratischen Selbstverständnisses der athenischen Bürgerschaft und Kontext der Entstehung neuer Denkformen. Vor diesem Hintergrund erscheint nicht nur Platon als Vertreter der antidemokratisch gesinnten athenischen Oberschicht, auch der Sophismus kann als Ausdruck seiner Zeit verstanden werden. Es war die „sophistische Aufklärung“, welche die Erfahrung der Isonomie intellektuell verarbeitete.

Kernelement der sophistischen Position stellt für von Fromberg die Differenzierung zwischen Natur (physis) und Gesetz/Gesellschaft (nómos) dar, welche er als gedankliche Konsequenz der praktisch erfolgten Dekonstruktion der Herrschaftsansprüche der besitzenden Klassen deutet: Was zuvor als natürlich galt, wird nun als gesellschaftliche Konvention begriffen. Dem entspricht eine stärkere Ausrichtung des Denkens auf die Gesellschaft. Indem Protagoras an die Stelle überzeitlicher (göttlicher) Prinzipien den Menschen als „Maß aller Dinge“ setzt, läutet er nicht nur einen Relativismus pluraler Perspektiven ein, sondern eröffnet auch den theoretischen Raum, in dem der Kampf um die Anerkennung von Wahrheiten als politisches Problem thematisierbar wird. Dies wiederum steht in enger Verbindung zur Entstehung eines neuen Politikverständnisses als „politics of consent“. Im ständigen Kampf widerstreitender und um Zustimmung ringender Positionen ist es das Prinzip der politischen Kunst, wie sie Protagoras lehren will, „die schwächere Argumentation zur Stärkeren zu machen.“

Die Prämissen der sophistischen Philosophie liegen also in der Anerkennung der konfliktuellen Verfasstheit demokratischer Verhältnisse.

Von Fromberg untermauert diese These, indem er die Funktion der Sophisten in der athenischen Gesellschaft untersucht. Das politische System Athens war wesentlich von einer Kultur der argumentativen Auseinandersetzung bestimmt, die Verlagerung sozialer Konflikte auf die diskursive Ebene bedeutete zugleich eine „Pazifizierung“ der Gesellschaft. Der politische Kampf nahm in Athen die Form eines Kampfes um Worte, Begriffe und Weltauffassungen an. Als „Lehrer der organischen Intellektuellen der athenischen Demokratie“, boten die Sophisten politisches Wissen, rhetorische Praxis und ein auf die realen gesellschaftlichen Verhältnisse ausgerichtetes Denken als „diskursive Waffen“ für politische Auseinandersetzungen an. Kritische und subversive Denker waren sie weniger aufgrund des Inhalts ihrer Lehren, als aufgrund ihrer Methode, die von Fromberg als „Prinzip Zweifel“ umschreibt. Da die Sophisten sich nicht auf überzeitliche Gewissheiten oder eine absolut gesetzte, sich jenseits bestehender Kräfteverhältnisse wähnende Vernunft stützten, waren sie als erste in der Lage, die Diesseitigkeit und historische Gebundenheit von Wissen und Wahrheit als Bedingungen kritischen Denkens anzuerkennen.

Von Fromberg schließt damit, der heutigen Linken das „Prinzip Zweifel“ ans Herz zu legen – als kritischen Impuls, der einen davor bewahrt, sich hinter politischen oder wissenschaftlichen Absolutheitsansprüchen zu verschanzen, der das eigene Denken beweglich hält und es ermöglicht, gesellschaftliche Verhältnisse im Hinblick auf ihre Veränderbarkeit zu begreifen.

So fruchtbar die kritische Methode der Sophisten in dieser Hinsicht auch sein mag, so gibt uns der Autor doch keinen Hinweis darauf, wie mit der relativistischen Schlagseite des Sophismus umzugehen ist. Die gesellschaftliche und politische Kontextualisierung scheinbar universeller Wahrheiten ist nicht gleichbedeutend mit einer Reduktion von Wissensansprüchen auf Politik, wie sie in sophistischen Positionen teilweise anklingt. Während erstere ein notwendiges Instrument herrschaftskritischen Denkens darstellt, ist zweitere dazu angetan, dieses zu unterminieren. Denn wo die Frage nach der Entscheidbarkeit zwischen konfligierenden „Wahrheiten“ gänzlich auf eine des politischen Kampfes reduziert wird, beraubt man sich der Fähigkeit, die eigene politische Position auf bestimmte Wissens- und Erkenntnisansprüche zu gründen. Gerade angesichts der Komplizenschaft bestimmter Weltanschauungen mit diskriminierenden und ausbeuterischen Praxen, können sich engagierte KritikerInnen bestehender Verhältnisse einen relativistisch motivierten Verzicht auf den Anspruch, eine „wahre“ oder zumindest weniger verzerrte Geschichte über die (gesellschaftliche) Wirklichkeit zu erzählen, allerdings nicht leisten.

Andere inhaltliche wie formale Kritikpunkte an seinen Ausführungen nimmt von Fromberg selbst vorweg. So etwa, dass die Rolle der Frauen in Athen größtenteils unterbelichtet bleibt und auch die Frage nach der Bedeutung der Sklaverei eine eher stiefmütterliche Behandlung erfährt. Das durchwegs positive Bild, das der Autor von der athenischen Demokratie zeichnet, hätte durch eine eingehendere Reflexion dieser Aspekte sicherlich eine Revision erfahren müssen.

Darüber hinaus entschuldigt sich von Fromberg gleich zu Beginn bei den FachidiotInnen: HistorikerInnen könnten seinen pragmatischen Umgang mit dem historischen Quellenmaterial missbilligen, PolitikwissenschaftlerInnen die Darstellung des politischen Systems des athenischen Stadtstaates für unterkomplex halten und PhilosophInnen könnten sich über die eher laienhaften Griechischkenntnisse des Autors mokieren.

Diese Mängel scheinen vernachlässigbar, trägt die Missachtung disziplinärer Grenzen, der sie geschuldet sind, doch auch zu einer Horizonterweiterung bei.

So könnten PolitikwissenschaftlerInnen von dieser Lektion in materialistischer Ideengeschichte einiges für ihre eigene Forschungspraxis lernen, HistorikerInnen könnten sich vom Nachweis der Aktualität 2500 Jahre zurückliegender gesellschaftlicher Auseinandersetzungen inspirieren lassen und PhilosophInnen könnten dazu verleitet werden, aus dem Reich selbstgenügsamen Denkens herabzusteigen und im „Dreck der Geschichte“ zu wühlen, um dort noch die abstraktesten ihrer Ideen als einen Teil des politischen Tagesgeschäfts vorzufinden.





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