Artikel drucken Twitter Email Facebook

Zusammenbruch der Wall Street: Frequently Asked Questions
von Walden Bello

Walden Bello, Soziologe an der University of the Philippines und bekannter Aktivist der globalisierungskritischen Bewegung, beantwortet häufig gestellte Fragen zur aktuellen Krise der Finanzmärkte.

Als ich letztens nach New York City flog, hatte ich das selbe Gefühl wie vor zwei Jahren, als ich während des Höhepunkts der israelischen Bombardements in Beirut ankam: ich betrat ein Kriegsgebiet. Der Einreisebeamte meinte zu mir, nachdem ich ihm erzählt hatte, dass ich Professor für Politische Ökonomie bin: „Nun, ich nehme an, ihr Typen müsst nun eure Lehrbücher umschreiben?“ Der Busfahrer begrüßte uns mit den Worten „New York steht noch, Ladies and Gentlemen, aber die Wall Street ist verschwunden wie die Twin Towers.“ Selbst das notorisch fröhliche Frühstücksfernsehen sah sich genötigt, mit den schlechten Nachrichten zu beginnen, und ein Moderator machte für die düsteren Ereignisse die „fat cats of Wall Street who turned into pigs“ verantwortlich.

Diese Stadt steht unter Schock, und die meisten Menschen müssen die Turbulenzen der letzten Wochen noch verdauen:
• Kapital im Wert von einer Billion Dollar löste sich in Rauch auf, als die Wall Street am Zweiten Schwarzen Montag, dem 29. September, panisch auf die Ablehnung des 700 Milliarden Rettungspakets von George W. Bush durch das US-Repräsentantenhaus reagierte;
• Auf den Kollaps einer der prominentesten Investmentbanken der Wall Street, Lehman Brothers, folgte der größte Bankencrash der US-Geschichte, als mit Washington Mutual die größte Spar- und Kreditinstitution des Landes bankrott ging;
• Die de facto Verstaatlichung der Wall Street, mit der die Notenbank und das Finanzministerium alle wesentlichen strategischen Entscheidungen im Finanzsektor treffen, sowie die unglaubliche Tatsache, dass die US-Regierung durch die Rettung der American International Group (AIG) nun die weltgrößte Versicherungsgesellschaft besitzt.
Mehr als fünf Billionen Dollar an Marktwert wurden seit letztem Oktober vernichtet, mehr als eine Billion davon ist auf den Zusammenbruch der Wall Street-Größen zurück zu führen. Die üblichen Erklärungen reichen hier nicht länger aus. Außergewöhnliche Ereignisse verlangen nach außergewöhnlichen Erklärungen.
Doch zunächst…

Ist das schlimmste vorbei?
Nein. Wenn irgendetwas nach den widersprüchlichen Aktionen der letzten Wochen klar ist, dann, dass keine Strategie vorhanden ist, um mit dieser Krise umzugehen: Lehman Brothers und Washington Mutual ließ man zusammenbrechen, während AIG übernommen wurde und die Übernahme von Merril Lynch durch die Bank of America staatlich arrangiert wurde. Es gibt bloß taktische Reaktionen, wie eine Feuerwehr, die auf einen Flächenbrand reagiert.
Auch das vorgeschlagene 700 Milliarden Dollar schwere Rettungspaket, um den Banken ihre faulen Kredite abzukaufen, ist keine Strategie, sondern bloß ein verzweifelter Versuch, wieder Vertrauen in das System zu schaffen und einen Ansturm auf die Banken zu verhindern, wie er von der Großen Depression 1929 ausgelöst worden war.

Was hat den Kollaps des Nervensystems des globalen Kapitalismus verursacht? War es Gier?
Die gute alte Gier hat sicher eine Rolle gespielt. Das meinte zumindest Karl Schwab, Organisator des World Economic Forum (des jährlichen Treffens der globalen Elite in den Schweizer Alpen), als er dieses Jahr zu seinen Gästen in Davos sagte: „Wir müssen für die Sünden der Vergangenheit zahlen.“

Hat sich die Wall Street selbst ausgetrickst?
Definitiv. FinanzspekulatorInnen haben sich durch immer komplexere Finanzkonstruktionen selbst eine Falle gelegt, beipielsweise durch die Schaffung von Derivaten, durch die Geld aus allen Arten von Risiken gewonnen werden sollte – einschließlich solch exotischer Instrumente wie „Credit Default Swaps“, die es InvestorInnen ermöglichten, darauf zu setzen, dass die SchuldnerInnen der eigenen Bank ihre Schulden nicht zurückzahlen könnten. So sahen also die unregulierten Multi-Billionen-Dollar-Geschäfte aus, die die AIG ins Verderben gestürzt haben.
Am 17. Dezember 2005, als die International Financing Review ihren Annual Award – einen der prestigeträchtigsten Preise der Branche – verlieh, hatte sie dagegen noch folgendes zu sagen: „[Lehman Brothers] hat nicht nur seine Marktposition verteidigt, sondern ist auch in neue Bereiche vorgestoßen, indem … neue Produkte und maßgeschneiderte Transaktionen entwickelt wurden, um den Bedürfnissen der KreditnehmerInnen zu entsprechen … Lehman Brothers ist in diesem Feld am innovativsten, sie tun einfach Dinge, die man sonst nirgendwo findet.“1
Kein Kommentar.

War es zu wenig Regulierung?
Ja. Niemand bestreitet heute, dass die Wall Street in ihrer Fähigkeit, immer innovativere und kompliziertere Finanzinstrumente zu erfinden, den Regulierungsfähigkeiten der Regierung weit voraus war; nicht weil die Regierung nicht mithalten konnte, sondern weil sie sich durch ihren eigenen neoliberalen Stil des Laissez-Faire selbst daran gehindert hat, effektive Regulationsmechanismen zu entwickeln. Der überbordende Handel mit Derivaten verursachte die Krise und der US-Kongress trug dazu bei, indem er im Jahr 2000 ein Gesetz beschloss, das Handel mit Derivaten von der Kontrolle durch die Börsenaufsichtsbehörde ausnimmt.

Aber passiert hier nicht noch mehr?
Nun, laut George Soros, der die Krise kommen sah, befinden wir uns in einer Krise des „gigantischen Zirkulationssystems“ eines „globalen kapitalistischen Systems, … das sich an allen Enden auflöst.“2 Um die Einsicht dieses Erz-Spekulanten zu vertiefen, können wir sagen, dass wir eine Intensivierung eines der zentralen Widersprüche des globalen Kapitalismus beobachten, eine Krise der Überproduktion, auch bekannt als Überakkumulation oder Überkapazität. Das ist die Tendenz des Kapitalismus, gigantische Produktionskapazitäten aufzubauen, die die Konsumkapazitäten übersteigen, da soziale Ungleichheiten die Kaufkraft begrenzen. Die Profitabilität wird dadurch ausgehöhlt.

Doch was hat die Überproduktionskrise mit den aktuellen Ereignissen zu tun?
Sehr viel. Doch um die Zusammenhänge zu verstehen, müssen wir in die Zeit des sogenannten Goldenen Zeitalters des Kapitalismus zurückgehen, die Periode zwischen 1945 und 1975.
Damals gab es sowohl in den Ländern des Zentrums, als auch in den unentwickelten Ökonomien ein rasantes Wirtschaftswachstum, das einerseits durch die massive Restrukturierung Europas und Ost-Asiens nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, andererseits durch neue sozio-ökonomische Arrangements im Rahmen des Keynesianismus gestützt wurde. Letzere umfassten starke staatliche Kontrollen der Marktaktivitäten, den aggressiven Einsatz von Fiskal- und Geldpolitik zur Minimierung der Inflation und Rezession, und ein Regime von relativ hohen Löhnen zur Stimulierung und Aufrechterhaltung der Nachfrage.

Was ist dann schiefgegangen?
Diese Periode des hohen Wachstums endete Mitte der 1970er, als die Ökonomien des Zentrums von einer Stagflation erfasst wurden – einer Kombination von Stagnation des Wirtschaftswachstums und hoher Inflation –, was neoklassische ÖkonomInnen für unmöglich gehalten hatten. Die Stagflation war jedoch nur Symptom eines tiefer liegenden Mechanismus: Der Wiederaufbau von Deutschland und Japan sowie der rapide Aufstieg von sich industrialisierenden Nationen wie Brasilien, Taiwan und Südkorea sorgten in der Weltwirtschaft für immense neue Produktionskapazitäten und verschärften so den globalen Wettbewerb. Gleichzeitig behinderten die sozialen Ungleichheiten innerhalb als auch zwischen den Ländern das Wachstum von Kaufkraft und Nachfrage und untergruben dadurch die Profitabilität. Dies wurde durch den massiven Anstieg des Ölpreises in den 1970ern noch verstärkt.

Wie hat der Kapitalismus versucht, diese Krise der Überproduktion zu lösen?

Das Kapital hat drei Auswege aus der Überproduktion gesucht: neoliberale Restrukturierung, Globalisierung und Finanzialisierung.

Worum ging es bei der neoliberalen Restrukturierung?
Neoliberale Restrukturierung nahm im Norden die Form von Reaganism und Thatcherism, im Süden jene der Strukturanpassungsprogramme an. Ziel war, die Kapitalakkumulation anzutreiben. Dies wollte man (1.) durch den Abbau staatlicher Hemmnisse für das Wachstum, den Einsatz und die Zirkulation von Kapital und (2.) durch die Umverteilung der Einkommen von den armen und Mittelklassen zu den Reichen erreichen, basierend auf der Theorie, dass die Reichen dadurch motiviert wären, stärker zu investieren und so das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Das Problem bei dieser Formel ist, dass durch die Umverteilung des Einkommens zu den Reichen das Einkommen der armen und Mittelklassen und damit deren Kaufkraft vernichtet wurde, während die Reichen nicht notwendigerweise stärker in die Produktion investierten. Stattdessen flossen große Teile des umverteilten Reichtums in die Spekulation. In Wahrheit konnte die neoliberale Restrukturierung, die sich während der 1980er und 1990er Jahre im Norden und Süden konsolidiert hatte, nie nachhaltig für stärkeres Wirtschaftswachstum sorgen. Das globale Wachstum belief sich in den 1990ern auf 1,1 Prozent und in den 1980ern auf 1,4 Prozent, während sie in den 1960ern und 1970ern, zu Zeiten staatsinterventionistischer Politik, 3,5 bzw. 2,4 Prozent betrug. Die neoliberale Restrukturierung konnte die Stagnation nicht besiegen.

Inwiefern war Globalisierung eine Antwort auf die Krise?
Der zweite Fluchtplan des globalen Kapitals war die „extensive Akkumulation“ oder Globalisierung, also die rapide Integration semi-kapitalistischer, nicht-kapitalistischer oder prä-kapitalistischer Gebiete in die globale Marktwirtschaft. Rosa Luxemburg, die berühmte revolutionäre Ökonomin, erkannte dies schon vor langer Zeit als Notwendigkeit, um die Profitraten in den Ökonomien der Metropolen aufrecht zu halten. Inwiefern? Durch die Schaffung des Zugangs zu billiger Arbeitskraft, neuen – wenn auch beschränkten – Absatzmärkten, ergiebigen Quellen für billige landwirtschaftliche Produkte und Rohstoffe, und neuen Investitionsmöglichkeiten für Infrastrukturprojekte. Diese Integration wird durch die Liberalisierung des Welthandels ermöglicht, der die Schranken für die Mobilität des globalen Kapitals und Auslandsdirektinvestitionen beseitigt.
China ist natürlich der prominenteste Fall eines nicht-kapitalistischen Gebiets, das in den letzten 25 Jahren in die globale kapitalistische Ökonomie integriert wurde. Um ihren fallenden Profiten entgegen zu wirken, haben viele große Konzerne einen signifikanten Teil ihrer Unternehmungen nach China verlagert, um von den scheinbar unerschöpflichen Reserven an billiger Arbeitskraft zu profitieren. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts erzielten US-Unternehmen rund 40 bis 50 Prozent ihrer Profite aus Unternehmungen im Ausland, vor allem in China.

Warum konnte die Globalisierung die Krise nicht überwinden?
Das Problem dieses Fluchtplans war, dass er die Probleme der Überproduktion nur noch verschärfte, da er die Produktionskapazität zusätzlich erhöht. In China wurde der Weltwirtschaft in den letzten 25 Jahren ein ungeheures Ausmaß an Produktionskapazität hinzugefügt, und dies hatte einen drückenden Effekt auf Preise und Profite. Wenig überraschend hörten die Profite von US-Konzernen ab 1997 auf zu wachsen. Laut einer vom Wirtschaftswissenschafter Philip O’Hara erarbeiteten Statistik sank die Profitrate der Fortune 500 (die 500 umsatzstärksten Unternehmen der Welt, Anm. d. Ü.) von 7,15 Prozent im Zeitraum von 1960-69, auf 5,30 von 1980-90, auf 2,29 von 1990-99 und auf 1,32 von 2000-02.

Was hat es mit der Finanzialisierung auf sich?
Aufgrund der begrenzten Erfolge von neoliberaler Restrukturierung und Globalisierung wurde die dritte Strategie für die Stärkung der Profitabilität immer wichtiger: Finanzialisierung. In der perfekten Welt der neoklassischen ÖkonomInnen ist das Finanzsystem ein Mechanismus, durch den AkteurInnen, die über überschüssige Mittel verfügen, mit UnternehmerInnen zusammen gebracht werden, die diese Mittel wiederum benötigen, um in Produktion zu investieren. In der realen Welt des Spätkapitalismus jedoch, in der Investitionen in Industrie und Landwirtschaft aufgrund der Überkapazitäten nur geringe Profite versprechen, werden große Teile der Überschüsse in den Finanzsektor investiert und reinvestiert. Dieser Kreislauf hat zur Folge, dass der Finanzsektor auf sich selbst zurückgeworfen wird. Das Resultat ist eine Teilung zwischen einer hyperaktiven Finanzwirtschaft und einer stagnierenden Realökonomie. Ein Börsenmanager meint dazu: „In den letzten Jahren ist eine wachsende Entkoppelung von realer und Finanzökonomie zu beobachten. Die Realökonomie ist gewachsen, … aber das steht in keinem Verhältnis zum Wachstum der Finanzwirtschaft – bis zu dem Zeitpunkt, als sie implodiert ist.“3
Was uns dieser Beobachter nicht sagt, ist, dass die Entkoppelung zwischen realer und Finanzökonomie kein Zufall ist – dass die Finanzökonomie genau deshalb geboomt ist, um die Stagnation aufgrund der Überproduktion in der Realökonomie auszugleichen.

Was war das Problem mit der Finanzialisierung?
Das Problem mit den Investitionen in den Finanzsektor ist, dass es dem Versuch gleich kommt, Wert aus bereits geschaffenem Wert zu pressen. Es mag Profite schaffen, aber es schafft keinen neuen Wert – nur Industrie, Landwirtschaft und Dienstleistungen können neuen Wert schaffen.
Da die Profite nicht auf geschaffenem Wert basieren, werden die Investitionen unberechenbar und Preise für Aktien und Wertpapiere können sich extrem von ihren tatsächlichen Werten entfernen – so wie die Aktien von Internet-Startups, die durch Spekulationen in die Höhe getrieben wurden, nur um dann zu crashen. In diesem Kontext sind Profite von kurzfristigen Preissprüngen von Waren abhängig, die verkauft werden, bevor eine „Korrektur“ stattfindet, sie also auf ihren realen Wert zurück fallen. Die extremen Preissprünge einer Anlage über ihren eigentlichen Wert hinaus wird als „Bubble“ bezeichnet.

Warum ist die Finanzialisierung so unsicher?
Da die Profite auf spekulative Coups angewiesen sind, ist es nicht überraschend, dass der Finanzsektor sich von einer Bubble zur nächsten bewegt. Weil er von Spekulation zu Spekulation hetzt, hat der finanzgetriebene Kapitalismus rund einhundert Krisen seit der Deregulierung der Kapitalmärkte in den 1980ern erlebt. Vor dem aktuellen Zusammenbruch der Wall Street waren die explosivsten Vorfälle die Finanzkrise in Mexiko 1994-95, die Finanzkrise in Asien 1997-98, die Finanzkrise in Russland 1996, der Kollaps der New Yorker Börse 2001 und die Krise in Argentinien 2002. Bill Clintons Finanzminister, der Wall Street Broker Robert Rubin, sagte schon vor fünf Jahren voraus, dass „zukünftige Finanzkrisen fast sicher unabwendbar sind, und sie könnten noch verheerender sein.“4

Wie entstehen, wachsen und platzen Bubbles?
Nehmen wir die Asienkrise von 1997-98 als Beispiel.
• Zuerst kommt die Kapitalmarkt- und Finanzliberalisierung auf Drängen von IWF (Internationaler Währungsfonds) und dem US-Finanzministerium.
• Dann treten ausländische AnlegerInnen auf der Suche nach schnellen und hohen Erträgen auf den Plan, die sich auf Immobilien und Börse konzentrieren.
• Überinvestitionen führen zu einem Verfall von Aktienkursen und Immobilienpreisen sowie panischen Reaktionen. 1997 wurden innerhalb weniger Wochen rund 100 Milliarden Dollar aus den ostasiatischen Ökonomien abgezogen.
• Die Schulden der SpekulantInnen werden vom IWF übernommen.
• Die Realökonomie bricht zusammen – quer durch Ost-Asien kommt es 1998 zur Rezession.
Trotz massiver Destabilisierungen wurden Bemühungen um nationale und globale Regulierungen des Finanzsystems aus ideologischen Gründen abgelehnt.

Wie ist die aktuelle Bubble entstanden?
Die aktuelle Bubble ist eine Folge der IT-Bubble in den späten 1990ern, als die Preise für Aktien von Internet-Startups in den Himmel schossen und dann kollabierten. Dies vernichtete Anlagen im Wert von sieben Billionen Dollar und führte zur Rezession von 2001-02. Die Niedrigzinspolitik der US-Notenbank unter Alan Greenspan hatte die IT-Bubble mitverursacht. Als die USA in eine Rezession fielen senkte Greenspan im Juni 2003 den Leitzinss auf ein Prozent – den niedrigsten Satz seit 45 Jahren – und hielt ihn ein Jahr auf diesem Niveau. Der Effekt war, dass eine neue Bubble im Immobilienbereich entstand. Schon 2002 hatten progressive Ökonomen wie Dean Baker vom Center for Economic Policy Research vor der Immobilienbubble gewarnt. Doch noch im Jahr 2005 führte Ben Bernanke, damals Vorsitzender des Council of Economic Advisers5 und heute Vorsitzender der US-Notenbank, den Aufschwung an Immobilienpreisen auf „starke ökonomischen Fundamente“ anstatt auf die Aktivitäten von SpekulantInnen zurück.6 Ist es ein Wunder, dass er im Sommer 2007 von der Immobilienkrise völlig unvorbereitet getroffen wurde?

Und wie ist sie gewachsen?
Einer der wichtigsten Protagonisten der internationalen Finanzmärkte, George Soros, drückt es so aus: „Die Finanzinstitutionen ermutigten HypothekenbesitzerInnen, ihre Hypotheken zu refinanzieren und das verfügbare Eigenkapital abzuziehen. Sie lockerten ihre Kreditkonditionen und führten neue Produkte ein, wie Hypotheken mit anpassbaren Ratenzahlungen (ARM – „Adjustable Rate Mortgage“), Nur-Zins-Hypotheken („Interest Only Mortgage) und verlockende Einstiegszinssätze („promotional teaser rates“). All das beflügelte die Spekulation auf Wohnhäuser. Die Immobilienpreise wuchsen im zweistelligen Prozentbereich. Das verstärkte wiederum die Spekulation und die HausbesitzerInnen fühlten sich ob der steigenden Preise reich; das Resultat war ein starker Anstieg des Konsums, der die Wirtschaft in den letzten Jahren unterfüttert hat.“7
Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass die Hypothekenkrise nicht darauf zurückzuführen ist, dass das Angebot die reale Nachfrage überstiegen hätte. Vielmehr wurde die „Nachfrage“ selbst größtenteils durch die Spekulation von BauunternehmerInnen und Finanziers produziert, die aus ihrem Zugang zu ausländischem – vor allem asiatischem – Kapital, das die USA im letzten Jahrzehnt überflutet hat, Profit schlagen wollten. Millionen von Menschen wurden so Hypotheken und Kredite angeboten, die sie sich eigentlich nicht leisten konnten. Die niedrigen Einstiegszinssätze wurden in Folge „angepasst“, um die Zahlungen der neuen HausbesitzerInnen hinauf zu schrauben.

Doch wie konnten faule Hypotheken zu einem so großen Problem werden?
Weil diese Anlagen anschließend von den HypothekengeberInnen zusammen mit anderen Werten als komplexe Derivatprodukte „verbrieft“ wurden – als sogenannte Collateralized Debt Obligations (CDOs). Die HypothekengeberInnen arbeiteten dabei über Mittelsmänner, die die tatsächlichen Risiken unterschlugen, um die CDOs so schnell wie möglich an andere Banken und ausländische Finanzinstitute weiterzugeben. Diese Institute gaben ihrerseits wiederum die Wertpapiere an andere Banken und ausländische Finanzinstitutionen weiter. Die Idee war, schnell zu verkaufen, gute Profite einzufahren, und dabei die Risiken den Schwächsten anzuhängen.
Als die Zinsraten auf subprime-Kredite, ARMs und andere Immobilienkredite angehoben wurden, war das Spiel vorbei. Heute sind über sechs Millionen subprime-Hypotheken ausständig, von denen nach Soros’ Schätzungen 40 Prozent in den nächsten zwei Jahren unwiederbringlich verloren gehen werden.
Weitere fünf Millionen ARMs und andere „flexible Kredite“ werden in den nächsten paar Jahren ebenfalls nicht bezahlt werden können. Die Derivate, deren Wert in die Billionen Dollar geht, wurden jedoch bereits wie ein Virus in das globale Finanzsystem eingespeist. Das gigantische Zirkulationssystem des globalen Kapitalismus ist tödlich infiziert.

Aber wie konnten die Wall Street-Giganten wie ein Kartenhaus zusammenbrechen?
Im Fall von Lehman Brothers, Merrill Lynch, Fannie Mae, Freddie Mac und Bear Stearns überstiegen die nicht einlösbaren Derivate ganz einfach die eigenen Reserven und stürzten sie in den Abgrund. Weitere Banken werden ihnen wahrscheinlich folgen, da ihre Bilanzen korrigiert werden müssen, um den tatsächlichen Wert ihrer Anlagen zu ermitteln – im Moment scheinen viele davon nicht in den offiziellen Bilanzen auf.
Auch andere werden ein ähnliches Schicksal erleiden, wenn Bereiche wie Kreditkarten und Versicherungen nachziehen. Die AIG wurde durch ihre massive Involvierung in Credit Default Swaps (s.o., Anm. d. Ü.) ins Verderben gestürzt. Solche Wetten stellen mittlerweile einen völlig unregulierten Markt von 45 Billionen Dollar. Das entspricht mehr als dem Fünffachen des gesamten Markts US-amerikanischer Staatsanleihen. Die unglaubliche Größenordnung dieser Anlagen ist der Grund, warum die US-Regierung ihre Meinung geändert und AIG aufgefangen hat, nachdem sie Lehman Brothers kollabieren ließ.

Was passiert jetzt?
Wir können also mit Sicherheit voraus sagen, dass es mehr Bankrotte und staatliche Übernahmen geben wird, und ausländische Banken und Finanzinstitutionen jenen in den USA folgen werden; dass der Zusammenbruch der Wall Street sich vertiefen und die US-Rezession sich verlängern wird; und dass sich die US-Rezession in Asien und anderswo in eine Rezession oder Schlimmeres übersetzen wird.
Der Grund dafür ist, dass die USA Chinas wichtigster Exportmarkt sind und China wiederum aus Japan, Südkorea und Südostasien Rohstoffe und Zwischenprodukte für den Export in die USA bezieht. Die Globalisierung hat eine „Entkopplung“ unmöglich gemacht. Die USA, China und Ostasien sind wie drei Gefangene aneinander gekettet.

Zusammengefasst?
Der Zusammenbruch der Wall Street ist nicht allein auf Gier und das Fehlen staatlicher Regulation eines hyperaktiven Sektors zurückzuführen. Er resultiert letztlich aus einer Krise der Überproduktion, die den globalen Kapitalismus seit Mitte der 1970er heimsucht.
Die Finanzialisierung der Investionen war einer der Fluchtwege aus der Stagnation. Die anderen beiden waren neoliberale Restrukturierung und Globalisierung. Da diese beiden Prozesse die Krise kaum eindämmen konnten wurde die Finanzialisierung als Mechanismus zur Wiederherstellung der Profitabilität attraktiver. Doch diese hat sich als gefährlicher Weg herausgestellt, der zu spekulativen Bubbles geführt hat, deren Effekt zwar der kurzfristige Wohlstand einiger weniger war, letztlich jedoch zu einem Zusammenbruch der Konzerne und einer Rezession in der Realwirtschaft geführt hat.
Die entscheidenden Fragen sind nun: Wie tief und wie lang wird diese Rezession sein? Braucht die US-Wirtschaft eine weitere spekulative Bubble, um sich aus der Rezession zu ziehen? Und wenn ja, wo wird diese Bubble entstehen? Manche meinen, es wäre der militärisch-industrielle Komplex oder der „disaster capitalism complex“, von dem Naomi Klein schreibt8 – aber das ist eine andere Geschichte.

Anmerkungen

Walden Bello ist Professor für Soziologie an der University of the Philippines und Direktor der NGO Focus on the Global South.
Erstmals erschienen auf der Website Inquirer.net am 1. Oktober 2008.
Übersetzt von Benjamin Opratko.
Von Walden Bello ist zuletzt auf Deutsch erschienen:
De-Globalisierung: Widerstand gegen die neue Weltordnung. Hamburg: VSA 2004.

1 http://www.lehmanbrothers.com/who/awards/2005_detail.htm
2 http://news.bbc.co.uk/2/hi/business/172222.stm
3 González, Francisco: What banks can learn from this credit crisis, in: Financial Times, 4. 2. 2008; online: http://www.ft.com/cms/s/0/93b9cc0c-d346-11dc-b861-0000779fd2ac.html
4 Zit. n. The New York Times, 30. 11. 2003
5 „Rat der Wirtschaftsberater“, ein Beratungsorgan des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Die Ratsmitglieder werden vom Präsidenten mit Zustimmung des Senats ernannt.
6 Zit. n. http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2005/10/26/AR2005102602255.html
7 Soros, George: The Age of Fallibility. Consequences of the War on Terror, New York 2007, 24
8 Klein, Naomi: The Shock Doctrine. The Rise of Disaster Capitalism, New York 2007, 12





Artikel drucken Twitter Email Facebook