Artikel drucken Twitter Email Facebook

Klassenkampf von oben
von Benjamin Opratko

Rezension: Harvey, David: Kleine Geschichte des Neoliberalismus, Zürich: Rotpunktverlag 2007, 24,70 €

Im Titel des Buches steckt schon das erste Argument David Harveys, nämlich dass die politischen, ökonomischen, ideologischen und kulturellen Umbrüche auf globaler Ebene seit den 1970er Jahren unter dem Begriff des Neoliberalismus zusammengefasst werden können. Diese Ausgangsthese soll jedoch, so macht der Autor schnell klar, nicht dazu verleiten, die spezifischen, geographisch und historisch unterschiedlichen Transformationspfade, Entstehungsformen und Konfigurationen des Neoliberalismus als einheitlich oder gleichförmig zu verstehen. Die ungleiche geographische Entwicklung, das Ausnutzen und die Produktion von territorialen Unterschieden, ist ein zentraler Durchsetzungsmechanismus und eine Schlüsseleigenschaft des Neoliberalismus. Um eine „kurze Geschichte des Neoliberalismus“ erzählen zu können, müssen also lokale Transformationen in ihrem Verhältnis zu allgemeinen Trends untersucht werden.
Der Mär von der Schwächung oder gar dem Verschwinden von staatlicher Macht hält Harvey entgegen, dass der enorme Aufwand, der betrieben werden muss, um den Umbau von einer fordistisch-keynesianischen zu einer neoliberalen Entwicklungsweise durchzuführen, gerade auf einen starken und aktiven Staat angewiesen ist. Ein wesentlicher Teil von Neoliberalisierung ist die Transformation von Staatlichkeit und staatlicher Politiken, die als Veränderung der „Hauptaufgaben“ des Staates beschrieben wird. In der Ära des „eingebetteten Liberalismus“, während des langen Nachkriegsaufschwungs, hatte sich eine Art der Staatlichkeit in Europa, den USA und Japan etabliert, in deren Rahmen allgemein akzeptiert war, dass der Fokus staatlicher Politiken auf Vollbeschäftigung, Wirtschaftswachstum und dem Wohlergehen der BürgerInnen liegen und der Staat zu diesem Zwecke in Märkte eingreifen oder sie gar ersetzen sollte. Das neoliberale Projekt zielte darauf, das Kapital aus diesen Einschränkungen zu „entbetten“ und ein „gutes Geschäftsoder Investmentklima“ zu schaffen und den Interessen von Finanzkapital und Finanzinstitutionen im Falle eines Konflikts Priorität gegenüber dem Wohlergehen von Bevölkerung und Umweltqualität einzuräumen. Diesen Leitvorgaben entsprechen Praktiken neoliberaler Staaten: Zerschlagung oder Beschränkung von erkämpften und gewachsenen Institutionen der ArbeiterInnenklasse, Neuregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte nach dem Leitbild des stets verfügbaren Arbeiters, das Eintreten von territorialen Entitäten (Staaten, aber auch Regionen und Städte) in internationalen Wettbewerb und Strategien der „Akkumulation durch Enteignung“.
Diese umfassende Transformation muss, so Harvey, als politisches Projekt zur Re-Etablierung der Bedingungen der Kapitalakkumulation und zur „Wiederherstellung der Macht der ökonomischen Eliten“ verstanden werden. Harveys Schwerpunkt liegt dabei vor allem auf letzterem: Der soziale Inhalt des Neoliberalismus ist die (Wieder-)Herstellung von Klassenherrschaft, die in den 1970er Jahren durch die ökonomische Krise einerseits, den Aufschwung linker politischer Bewegungen andrerseits, in Gefahr geraten war. Neoliberale Ideologeme wie individuelle Freiheit, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung müssen als kulturelle Verhüllungen der eigentlichen politischen Bedeutung der Neoliberalisierung als strategisches Projekt der Herrschenden begriffen und analysiert werden. Diese These zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch; gestützt auf reichhaltiges Datenmaterial wird verdeutlicht, dass neoliberale Reformen, egal in welchen Teilen der Welt sie durchgeführt wurden, zunehmende soziale Ungleichheit und eine enorme Konzentration von Besitz und Reichtum zum Ergebnis hatten. Daraus wird abgeleitet, dass Neoliberalisierung von Anfang an ein Projekt zur Wiederherstellung von Klassenmacht war. Damit verbunden sind auch Verschiebungen und Neuformierungen innerhalb der Klassen, die je nach räumlichem und historischem Kontext stark variieren; allgemeine Trends sind hier die tendenzielle Auflösung der Trennung von KapitalbesitzerInnen und ManagerInnen und die Stärkung der „Finanzwelt“. Die „historische Kluft“ zwischen Finanzkapital auf der einen und produktivem und Handelskapital auf der anderen Seite wird durch die Entstehung von großen Konzernen, unter deren Dach alles von der Stahlproduktion bis zur Währungsspekulation Platz hat, zunehmend geringer. Die Wiederherstellung von Klassenmacht durch neoliberale Reformen bedeutete also gleichermaßen eine Verschiebung des dominanten Kerns der Eliten.
Die entscheidende Frage ist, wie die in demokratischen Staaten notwendige Zustimmung eines großen Teils der Bevölkerung zu diesem Projekt der Eliten organisiert werden konnte. Der Kern der Antwort liegt für Harvey in einem lange vorbereiteten ideologischen Klassenkampf, geführt von bestimmten Teilen der herrschenden Klasse und ihnen verbundenen Intellektuellen. Rund um halbformelle Zentren wie die Mont Pelerin Society wurden kontinuierlich Think-Tanks, Medien und akademische Institutionen aufgebaut und genutzt, um Ideen von individueller Freiheit und Selbstbestimmung zu verbreiten. Mit dem langen Marsch der neoliberalen Ideen durch diese Institutionen wurde ein Meinungsklima geschaffen, das durch die Übernahme von politischen Parteien und, schließlich, staatlicher Macht konsolidiert wurde. Voraussetzung dafür war jedoch, dass der Alltagsverstand breiter Teile der Bevölkerung von den sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre aufbereitet worden war. „1968“ (das als Chiffre für so unterschiedliche, aber doch Gemeinsamkeiten aufweisende Bewegungen wie jenen in Paris, Berlin, Berkeley, Bangkok oder Mexiko Stadt steht) verschränkte auf prekäre Weise das Sehnen nach persönlicher Freiheit und Selbstbestimmung mit Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit. Die Spannung zwischen diesen Polen nutzte das neoliberale Projekt aus, indem es mit scheinbar progressiver Rhetorik einen Keil zwischen Freiheit und Gerechtigkeit trieb. Neoliberalisierung hatte neu entstehende Lebens- und Konsumnormen zur Bedingung, die sich als hochgradig kompatibel mit bestimmten Momenten der „68er-Bewegungen“ und den kulturellen Impulsen des „Postmodernismus“ erwiesen.
Die konkrete Ausgestaltung des hegemonialen Projekts der Neoliberalisierung nahm in verschiedenen Ländern unterschiedliche Formen an. So war in den USA die Allianz von Neoliberalen und der „moral majority“ der christlicher Rechten entscheidend, um auch dann noch stabile Unterstützung zu erhalten, als die durch neoliberale Reformen verursachte soziale Desintegration Kritik laut werden ließ. Ein vor allem auf die weiße ArbeiterInnenklasse gerichteter Wertekanon rund um kulturellen Nationalismus, Familie und Religion wurde aufgeboten, um die von der Auflösung der im Fordismus erkämpften und etablierten sozialen Strukturen Betroffenen aufzufangen – eine Strategie, die unter Reagan etabliert wurde und bis in die Gegenwart wirkmächtig bleibt. In Großbritannien dagegen war die widersprüchliche Verknüpfung von Nationalismus (Falkland!) und Neoliberalisierung nicht in der Lage, ausreichenden „sozialen Kitt“ herzustellen. Unterstützung für die Privatisierungspolitik konnte hier in erster Linie durch den massenhaften Verkauf von öffentlichem Wohnraum an MieterInnen hergestellt werden, wodurch die Anzahl der Wohnungs- und Hausbesitzerinnen drastisch anstieg. Kurze Geschichten der Neoliberalisierung in Mexiko, Argentinien, Südkorea und Schweden sowie ein ganzes Kapitel zu Neoliberalismus in China zeigen, wie der „soziale Inhalt“ des Neoliberalismus – die Wiederherstellung von Klassenmacht – über die mannigfaltigen Unterschiede hinweg als Sinn uns Zweck der Übung begriffen werden muss.
Harveys Argument verstrickt sich jedoch in Widersprüche. Einerseits wird eine globale Hegemonie des Neoliberalismus festgestellt, der in den Alltagsverstand und die Erfahrungen des täglichen Lebens eingedrungen sei, vor allem durch den positiven Bezug auf die libertär-individualistischen Positionen der sozialen Bewegungen der 1960er/1970er Jahre. Gleichzeitig ist die globale Situation keineswegs von Stabilität gekennzeichnet, wie sie für den „eingebetteten Liberalismus“ des Nachkriegsbooms konstatiert wird. Im Gegenteil wird wiederholt auf den inhärent instabilen Charakter des neoliberalen Staats hingewiesen, der eher als prekäre Übergangsform zu verstehen sei. Dies lässt sich in erster Linie auf die Kluft zwischen den verkündeten Zielen neoliberaler Theorie (Freiheit und Wohlergehen) und den tatsächlichen Konsequenzen neoliberaler Praxis (Restauration von Klassenherrschaft) zurückführen. Hier drängt sich die Frage auf, was auf den Neoliberalismus folgen könnte. Für Harvey verdichten sich die Hinweise auf einen neokonservativ-autoritären Turn auf globaler Ebene, wofür paradigmatisch der Bruch zwischen den US-Administrationen Clinton und Bush Jr. steht. Das Modell China zeigt darüber hinaus eindrucksvoll, wie (ökonomisch) erfolgreich Wirtschaftsliberalismus mit autoritären politischen Strukturen verbunden werden kann, und auch die Beschneidung von BürgerInnenrechten in der „westlichen Welt“ sind Anzeichen dafür. Wie morsch die tragenden Balken der Weltwirtschaft – China und die USA – tatsächlich sind, weist auf die Instabilität der gegenwärtigen politökonomischen Konstellation auf Weltebene hin. Die USA verbuchen horrende Budget- und Außenhandelsdefizite, während Chinas gigantische, schuldenfinanzierte Infrastrukturprojekte zwar im Moment als Auffangbecken für überschüssige Kapital- und Arbeitskraftreserven dienen, mittelfristig aber entsprechende Erträge bringen müssen. Eine folgenreiche Krise – Harvey spielt mehrere mögliche Szenarien durch – ist angesichts dieser prekären Lage nicht unwahrscheinlich. Für die Politik der Linken hat Harveys Diagnose bedeutende Konsequenzen. Wenn die herrschenden Klassen sehenden Auges und mit der Parole „nach mir die Sintflut“ in die Katastrophe steuern, findet sich die ArbeiterInnenbewegung in der paradoxen Situation wieder, den Kapitalismus vor sich selbst retten zu müssen. Dies wäre laut Harvey, da Krisen stets die „einfachen Leute“ am härtesten treffen, durchaus in deren Interesse. Harvey treibt damit seine schon in seinem letzten großen Buch „Der neue Imperialismus“ formulierte Position auf die Spitze, wo als einzig mögliche, wenn auch befristete Antwort eine Art von „neuem ‚New Deal’ mit weltweitem Einflussbereich“ (vgl. die Rezension von Stefan Probst in Perspektiven Nr. 0) vorgeschlagen wird.
Was die „Kleine Geschichte des Neoliberalismus“ zu einem lesenswerten Buch macht, ist Harveys Fähigkeit, den oft zum Unwort aufgeblasenen Begriff Neoliberalismus auf zeitlich und geographisch konkrete Transformationen von Politik und Ökonomie herunter zu brechen. Er macht nachvollziehbar, wie unter verschiedenen Bedingungen, in verschiedenen Regionen der Erde, verschiedene Wege zu Konstellationen geführt haben, die trotzdem sinnvoll mit einem Begriff bezeichnet werden können. Dies zeigt sich besonders dort, wo das analytische Netz besonders fein geknüpft wird – etwa in der Beschreibung der neoliberalen Neuerfindung New York Citys in den 1970er und 1980er Jahren. Als Intervention in breitere Debatten ist darüber hinaus die Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus in Begriffen von Klasse und Klassenkampf mehr als notwendig. Sicherlich ist theoretische Kritik an vielen Stellen angebracht. So wird der Begriff der Hegemonie von Gramscis machttheoretischem Konzept zuweilen auf die Notwendigkeit der Erheischung von WählerInnenstimmen reduziert. Der Begriff Klasse wird oft jeglicher analytischer Tiefenschärfe beraubt und „KapitalistInnen“, „herrschende Klasse“ und „Eliten“ praktisch synonym verwendet. Und schließlich bleibt auch in diesem Buch, so wie in seinen vorhergegangenen, die Staatstheorie ein weißer Fleck in Harveys theoretischer Landkarte. Das – gemessen an seinem eigenen Anspruch – entscheidende Manko des Buchs liegt jedoch meines Erachtens an anderer Stelle. In seiner Analyse der Neoliberalisierung gibt es eine konsequente Überbetonung der handelnden AkteurInnen auf Kosten von nicht auf diese reduzierbaren Strukturen. Harveys Neigung, die Transformationen in Politik und Ökonomie auf eine Strategie zur Wiederherstellung von Klassenherrschaft zurück zu führen, ohne den strukturellen Zwängen der Kapitalakkumulation angesichts sich verschärfender Überakkumulationskrisen ähnliche Erklärungskraft zuzugestehen, lässt seine Argumentation teilweise gar in die Nähe von Verschwörungstheorien geraten.
Auch der strategische Vorschlag, den Harvey aus seiner Analyse ableitet, mag nicht überzeugen. Um aus deklariert marxistischer Perspektive die Rettung des Kapitalismus vor den KapitalistInnen zu fordern, d.h. die Fortführung eines auf Ausbeutung und (wie gerade Harvey immer wieder gezeigt hat) gewalttätigen Konflikten beruhenden Systems, müssen schon sehr überzeugende Argumente hervorgebracht werden. Harveys These lautet stark verkürzt: Ein „entbetteter Liberalismus“ erzeugt unweigerlich Krisen, deren Folgen immer die ärmsten Teile der Bevölkerung am härtesten treffen. Diese haben daher ein nicht von der Hand zu weisendes Interesse daran, den Kapitalismus zu stabilisieren um Krisen zu verhindern. Dieses Argument scheint mir nicht sehr überzeugend. Es beruht (1.) auf der Annahme, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen eine längerfristige Stabilisierung nach Vorbild des „eingebetteten Liberalismus“ der Nachkriegsjahre möglich wäre („neuer New Deal“) und scheint (2.) zu vergessen, dass auch auf eine solche Phase, so sie denn möglich wäre, eine weitere Welle des Klassenkampfs von oben und weite Teile der Erde erschütternde Krisen folgen müssten. Dieser wenig einleuchtende, extrem defensive Strategievorschlag könnte als Ergebnis der recht trostlosen Lage der US-amerikanischen Linken interpretiert werden. Tatsächlich liegen ihr jedoch meines Erachtens einige theoretische und analytische Fehleinschätzungen zu Grunde. Dies betrifft zunächst eine verkürzte Analyse des „eingebetteten Liberalismus“. Dieser wird vor allem als ausbalanciertes Kompromissgleichgewicht verstanden, das längerfristig Krisen verhindern und relativ gerecht verteilten Wohlstand sichern konnte. Zwar ist dieses Bild als ein Aspekt des langen Nachkriegsbooms sicherlich korrekt; den spezifischen internationalen politökonomischen Bedingungen – vor allem der imperialistischen Konfrontation im Kalten Krieg und der anhaltende Ausbeutung der Länder des Trikonts – wird dabei jedoch nicht Rechnung getragen. Darüber hinaus muss das „goldene Zeitalter“ selbst einer kritischen historischen Überprüfung unterzogen werden, war die Phase relativer Stabilität schließlich geographisch (Teile Europas und Nordamerikas) und zeitlich (von politischer und ökonomischer Stabilität kann, zumindest in Europa, vor 1950 und nach 1968, kaum gesprochen werden) eng beschränkt. Allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz fungiert hier das „goldene Nachkriegszeitalter“ als positiver Bezugspunkt für aktuelle Strategien. Trotzdem bietet etwa die an einigen Stellen aufgeworfene Frage nach dem Stellenwert von Rechten spannenden und zukunftsweisenden Diskussionsstoff: einerseits ist der Aufstieg des Neoliberalismus eng verwoben mit jenem des Menschenrechts-Diskurses, der gerne als Rechtfertigung für imperialistische Angriffskriege dient; gleichzeitig bietet der Bezug auf universelle Rechte aber auch Chancen für eine anti-neoliberale Linke. Welche Prioritäten Rechten zugewiesen und wem diese zugestanden werden, ist eine zentrale politische Auseinandersetzung. Ob das Recht auf Privateigentum vor dem Recht auf Leben gilt ist eine Frage, um die zum Beispiel in den Debatten zu Patentrechten auf Pharmazeutika gestritten werden muss. Denn zwischen gleichen Rechten, erinnert uns Harvey an Marx’ Worte, entscheidet Gewalt. So erfreulich es ist, dass Harvey die Fragen um universelle Rechte ernst nimmt, so bedauerlich ist es, dass diese wichtigen Debatten so eng an eine recht kurzsichtig auf nationalstaatliche (Regierungs-) Macht orientierte Strategie gekoppelt werden. Das tatsächlich vorhandene, radikal emanzipatorische Potenzial etwa eines Rechts auf gerechten Zugang zu Ressourcen und Reichtümern gelingt es dadurch kaum auszuschöpfen. Das Resümee des Buchs fällt insgesamt dennoch positiv aus, da es Harvey gelingt, zentrale und unabdingbare Begriffe einer kritischen politischen Ökonomie in die Debatte um Neoliberalismus einzubringen; salopp gesagt lautet die unterstützenswerte Botschaft: wer über Klassen nicht reden will, soll über Neoliberalismus schweigen.





Artikel drucken Twitter Email Facebook